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  Mai 1936  (Spengler)

 

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Spengler ist also gestorben. Und da eine so präponderante Persönlichkeit, wie er, nach dem Muster eines toten Maharadscha, Anspruch auf das gleichzeitige Sterben seines gesamten Hofgesindes hat, so ist wenige Tage nach seinem Hinscheiden auch Albers, der im Beckverlag seine Werke betreute, in den Tod gegangen, auf eine wahrhaft grausige Weise, indem er sich auf die Schienen des Starnberger Vorortzuges warf, wo man ihn verblutet, mit abgefahrenen Schenkeln, gefunden hat.1)

Was Spengler angeht, so habe ich ihn noch vor einigen Wochen in der Bayerstraße angetroffen, wie immer in kostbaren Homespun gehüllt, wie immer schimpfend und dunkle, von Rachedurst und gekränktem Selbstbewußtsein zeugende Prognosen von sich gebend. 

Es verlohnt sich, zu verweilen bei ihm ...

Ich entsinne mich noch unserer ersten Begegnung, als besagter Albers ihn bei mir eingeführt hatte. Auf dem kleinen und für solche Lasten kaum berechneten Wagen, der ihn damals von der Bahn abholte, saß ein massiger Mann, der kraft seines dicken Flauschmantels noch massiger wirkte und an dem alles unendlich, dauerhaft und solide war — der tiefe Baß und die fast schon traditionelle Homespunjacke, der Appetit beim Abendessen und nachts das wahrhaft zyklopische Schnarchen, das wie ein Sägegatter tobte und in meinem Chiemgauer Landhause die übrigen Gäste aus dem Schlafe scheuchte.

1)  Spengler, Oswald (1880-1936), Geschichtsphilosoph. Mit seiner antidemokratischen Einstellung galt Spengler als einer der geistigen Wegbereiter des Nationalsozialismus, dem er jedoch kritisch gegenüberstand. 

detopia   Spengler      Friedell über Spengler  

dnb August Albers  1873-1941  =>  https://www.proquest.com/openview/e6fbc6887127eb1203ac7598a5067721/1?pq-origsite=gscholar&cbl=1818229

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Damals, noch vor dem bestimmenden Erfolg seines bestimmenden Werkes und vor seinem lebens­entscheid­enden Abmarsch ins Lager der schwer­industriellen Oligarchie, konnte er noch fröhlich und unbefangen sein, und manchmal war er sogar zu bewegen, behangen mit all seiner Würde, in meinen hellen Fluß zu steigen und munter darin herumzuschwimmen. Späterhin wäre es undenkbar gewesen, daß er sich vor ackernden Knechten und Bauern im Badeanzug präsentiert hätte und, ein prustender Triton, in ihrer Gegenwart ans Ufer gestiegen wäre.

Er stellte die seltsamste je mir untergekommene Mischung dar von wirklicher menschlicher Größe und einer Reihe von kleinen und auch großen Schwächen, deren Erwähnung man mir heute, wo ich Abschied von ihm nehme, gewiß nicht verübeln wird. 

Als Mensch war er einer jener großen melancholischen Fresser, die gern an einsamer Tafel und mit traurigen Augen ihre Orgien feiern, und mit einiger Heiterkeit erinnere ich mich eines Abends, wo er in meinem Hause bei einem kleinen Nachtmahl zu dritt — es war in den letzten Wochen des ersten Weltkrieges und man konnte seinen Gästen nicht viel vorsetzen — predigend und eifernd eine komplette Gans verschlang, ohne daß für seine beiden Tafelgenossen - außer mir war noch Albers anwesend - ein Bissen übrig geblieben wäre. 

Seine Vorliebe für die massiven Diners, die ihm späterhin seine industriellen Mäzene vorsetzten, war nicht die einzige Eigenschaft, die erheiternd wirkte. 

Als ich ihn - noch vor seinem ersten großen Erfolg - kennenlernte, hatte er mich gebeten, ihn in seiner kleinen Wohnung (ich glaube in der Münchener Agnesstraße) nicht zu besuchen, da es dort zu eng sei und er mir doch einst seine Bibliothek in ihrem ganzen monumentalen Umfang anderweitig zu zeigen hoffe. 

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1926, als er den Anschluß an die Gewaltigen des Langnamvereins1) gefunden hatte und in die pompöse Wiedenmayerstraße am Isarufer übergesiedelt war, führte er mich dort wohl durch die Flucht seiner gewaltigen Säle, zeigte mir auch seine Teppiche und Bilder und selbst sein Bett, das mit seiner Breite von fünf Fuß an sich schon eine Sehenswürdigkeit war und eigentlich einem Katafalk glich ... wurde aber offensichtlich verlegen, als ich nun endlich in die Bibliothek geführt werden wollte. Schließlich, als ich nicht nachgab, stand ich in einem ziemlich kleinen Zimmer, wo auf einer recht schäbigen Nußbaum­stellage neben einer Batterie von Ullsteinbänden und Kriminalromanen das stand, was man gemeinhin »schweinsche Biecher« nennt. 

Nie sah ich dabei ein Mannsbild mit so geringem Humor und so ausgeprägter Empfindlichkeit gegen eine noch so bescheiden angebrachte Kritik. 

Das Schicksal hat es nun einmal so gewollt, daß er, der nichts so haßte wie Windbeuteleien, in seinem <Untergang des Abendlandes> zwischen all seinen großartigen Deduktionen eine Menge von Unrichtig­keiten, Flüchtigkeiten und auch von Irrtümern stehen ließ ... daß er also Dostojewski in Petersburg statt in Moskau zur Welt kommen läßt, daß der Herzog Bernhard von Weimar vor Wallensteins Ermordung stirbt und daß aus all diesen Irrtümern immerhin gewichtige Schlüsse gezogen werden. Wehe dem, der es gewagt hätte, ihn auf diese Dinge, die schließlich einem jeden unterlaufen könnten, aufmerksam zu machen!

1)  Langnamverein, eigentlich <Verein zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen in Rheinland und Westfalen>; 1871 gegründeter Unternehmerverband. In seiner Politik weitestgehend auf Unabhängigkeit von staatlicher Seite bedacht, zählte er vor 1945 zu den wichtigsten Interessenorganisationen der deutschen Wirtschaft.

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Ich entsinne mich einer ergötzlichen Szene, die sich in meinem Hause abspielte, als er nach seiner Gewohnheit nach dem Abendessen ins Dozieren und Predigen geraten war, zwischenein aber einen seiner zu den Gästen gehörigen Schüler katechisierte. Das Erheiternde war, daß dieser eben aus Afrika mit einer schweren Malaria heimgekehrte Schüler eingeschlafen war und sehr laut in seinem Sessel schnarchte, auf jede Frage des Meisters aber zwischen einem Schnarcher und dem anderen nach dem Prinzip von »His Masters Voice« prompt und absolut in Spenglerscher Diktion antwortete. Er, der Meister, hätte sich eigentlich freuen können und hätte bestimmt lachen sollen, war aber tief gekränkt und wollte fortan mit dem Sünder nichts mehr zu tun haben. 

Er war wirklich der humorloseste Mensch, der mir je begegnet ist. Er könnte in dieser Hinsicht nur überboten werden durch Herrn Hitler und den Nazismus, der ja alle Aussicht hat, an beidem zu sterben: an seiner penetranten Humorlosigkeit sowohl wie an der Langeweile des öffentlichen Lebens, das unter seiner Herrschaft nachgerade in Leichenstarre verfallen ist und das uns schon im vierten Jahre anödet. 

Um auf Spengler zurückzukommen: 

Wer da glaubt, ich wolle ihm mit der Aufzählung seiner mannigfachen Schwächen Abbruch tun, soll sich getäuscht haben. Ich brauche nicht an seine unvergängliche frühe Arbeit über Theokrit, nicht an die Tatsache zu erinnern, daß er schließlich System in die Ahnungen einer ganzen Generation gebracht hat: wer ihm je begegnet ist, weiß um den Nimbus des Bedeutsamen, der auch in seinen schwachen Stunden nicht zerriß, um dieses Stück besten humanistischen Schul­meistertums, das in ihm fortlebte, um dieses Antlitz, in dem der Stoizismus spätrömischer Porträtbüsten einem entgegen­blickte.

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Ob er je den Einbruch des Irrationalen erkannt hat, das nun an den Gehegen unseres Lebens erscheint ... ob er geahnt hat, daß der von ihm verkündete Untergang des Abendlandes tatsächlich doch nur den Untergang der in den letzten vierhundert Jahren vom Renaissancemenschen geschaffenen Welt bedeutet: ich weiß es nicht. 

Sein Verhängnis war, daß er, mitten in seiner Bahn, in Abhängigkeit von der schwerindustriellen Oligarchie geriet und daß diese Abhängigkeit mit der Zeit auch sein Denken zu beeinflussen begann: ich wenigstens weiß beim besten Willen nicht, wie man die 1922 im zweiten Bande des »Unterganges« ausgesprochene großartige Prophetie von der bestimmenden Zukunft des Dostojewskischen Christentums in Einklang bringen will mit jener technokratischen Apodiktik, die seine späteren Werke füllt. 

Seine Tragik war, daß eine höchst intellektualistische und ... ich möchte sagen privatdozentenhafte Trauer ihn hinderte, an Götter, geschweige denn an Gott zu glauben. Seine Schüler haben ihn in dem Augenblick verlassen, wo er, um 1926 herum, seinen Frieden mit der deutschen Gegenwart machte: nicht etwa mit den Nazis — ich wüßte keinen, der sie, beim Schlafengehen, im Traum und beim Erwachen, so gehaßt hätte wie eben er —, wohl aber mit jenen berittenen Kaufleuten von der Ruhr, die nach dem Sturz der Monarchie sich zu den eigentlichen Herren im Staate gemacht hatten und die Spenglers Sehnsucht nach patrizischer und auch hedonistischer Lebenshaltung bereitwillig entgegenkamen. 

Die Schwungkraft jenes Geistes, dem wir die Visionen seines ersten Werkes verdanken, war gebrochen in dem Augenblick, wo die Raben.... nicht die des heiligen Antonius, sondern die der Herren Thyssen und Hoesch,1) seinen Tisch mit schweren Burgundern zu beschicken anfingen. Folgerichtig ist er dieser epikuräischen Veranlagung, seiner Vorliebe für die schweren Saucen und der unvergleichlichen Kochkunst seiner Schwester, die ihm die Wirtschaft führte, erlegen.

Die Nazis, sie in ihrer kümmerlichen, von stigmatisierten Volksschulmeistern und verbummelten Kriegsleutnants bedienten Presse, bejubeln seinen Heimgang und erklären triumphierend, daß so einer ihrer Opponenten nach dem anderen dahingehe. Indes liegt der zweite, unveröffentlichte Band seiner »Jahre der Entscheidung«,2) die ihn mit dem ersten beinahe zum Märtyrer gemacht hätten, wohlbehalten in einem Schweizer Banksafe, der Urständ wartend, die unser aller Hoffnung ist. 

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1)  Fritz Thyssen (1873-1951) und die Gebrüder Hoesch waren Leiter der gleichnamigen Wirtschaftsunternehmen der deutschen Schwerindustrie. Sie gehörten zu den finanziellen Förderern des aufkommenden Nationalsozialismus. 
2)  Ein zweiter Band von Spenglers im Jahre 1933 erschienenem Werk Jahre der Entscheidung hat allerdings nie existiert.

 

 

Juli 1936

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In München, das mir einst so vertraut war und das mich heute nach dem Verschwinden fast aller mir bekannten Gesichter fast fremd ansieht ... in diesem von den Preußen okkupierten München also hat sich eine amüsante Geschichte ereignet. Herr Esser,2) der Verkehrsminister, der nach seinen ziemlich bekannt gewordenen Gepflogenheiten eigentlich wohl die Bezeichnung Ge­schlechts­verkehrsminister führen sollte, knüpft ein Liebesverhältnis mit der Tochter eines Weinwirtes in der Nähe des Hofbräuhauses an und wird von dem empörten Vater dermaßen verprügelt, daß er nicht mehr ausgehen und kompromittiert, wie er ist, in München sich nicht mehr sehen lassen kann.

2)  Hermann Esser (1900-1981), einer der frühesten Gefährten Hitlers, wurde der erste Schriftleiter des Völkischen Beobachters, dann bayerischer Wirtschaftsminister; er erhielt 1935 die Leitung der Fremdenverkehrsabteilung im Reichs­propaganda­ministerium und wurde Vorsitzender der Reichsgruppe Fremdenverkehr.


Nach den Gepflogenheiten dieses Staates, der ja für seine Institutionen jedwede Sauberkeit gepachtet hat, fällt er wenige Tage später die Treppe hinauf und wird in Berlin in eine weit höhere Stelle berufen, von der aus er jüngst erst verkündete, der individuelle Auslandsreisende gehöre hinfort der Vergangenheit an und nur noch in den bekannten Rudeln der Organisation »Kraft durch Freude« werde hinfort der Deutsche sein Land verlassen können. Wir haben also alle Aussicht, auch den Rest unserer Bewegungsfreiheit einzubüßen, und werden so vollends die Gefangenen dieser Herde böser Affen sein, die sich vor drei Jahren unseres Hauses bemächtigt haben.

Wie, darüber hatte ich jüngst mit einem inzwischen aus Deutschland verschwundenen Berliner Herrn eine sehr, sehr seltsame Unterredung. Nach dessen Darstellung kommt das, was uns nun als »Machtübernahme« und »Deutsche Revolution« serviert wird, auf eine gigantische Erpressung hinaus, die man an dem alten Hindenburg1 verübt hat.

Der alte Marschall nämlich, von Hause aus arm und in seinen letzten Jahren sehr auf Mehrung seines Vermögens bedacht, scheint die Verwaltung seiner wirtschaftlichen Angelegenheiten seinem Herrn Sohn, dem bekannten Oberst v. Hindenburg2 anvertraut zu haben, der sich, seinerseits beraten von dem unvermeidlichen Herrn Meißner3, in den Jahren vor 1929 stark in Börsenpapieren engagiert und sich schließlich, bei währender Wirtschaftskrise, plötzlich einer rasch wachsenden Bankschuld von dreizehn Millionen gegenübersieht.

1)  Hindenburg, Paul v. (1847-1934), Generalfeldmarschall im Ersten Weltkrieg, 1925 als Nachfolger des verstorbenen Friedrich Ebert zum Reichspräsidenten gewählt, 1932 Wiederwahl. Als er 1933 Hitler zum Reichskanzler berief, war er nicht mehr in der Lage, die Tragweite seiner Entscheidung zu beurteilen.
2)  Hindenburg, Oskar v. (1883-1960), wurde 1925 persönlicher Adjutant seines Vaters. Der monarchistische und republikfeindliche Oberst hatte erheblichen Einfluß auf seinen greisen Vater. Er ist jenen Kräften zuzurechnen, die aktiv am Untergang der Weimarer Republik mitgewirkt haben.
3)  Meißner, Otto (1880-1953), Beamter und seit 1920 Chef der Kanzlei des Reichspräsidenten. Er ist ein Musterbeispiel für die fragwürdige Loyalität eines politisch standpunktlosen Berufsbeamten, dessen einziger Maßstab die persönliche Karriere ist. Er verrichtete bedenkenlos seine Tätigkeit unter dem Sozialdemokraten Ebert, dem Monarchisten Hindenburg und dem Diktator Hitler, der ihn 1937 sogar zum Staatsminister beförderte.

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Zugunsten des alten Marschalls will ich gern annehmen, daß er, krank wie er damals schon war, von den weiteren Operationen seines Herrn Sohnes nichts gewußt hat. In jedem Fall aber läßt nach dieser Version Hindenburg der Jüngere in der Folgezeit sich zu fragwürdigen Manipulationen hinreißen, die angeblich mit der berüchtigten »Osthilfe«,1) möglicherweise auch mit dem unvermuteten Sturz des Kabinettes Brüning2) zu tun haben, wie er durch die berüchtigte Clique des Herrenklubs herbeigeführt worden ist. 

Nach dieser Version bekommen von all diesen das Tageslicht scheuenden Manipulationen die Nazis, die im Sommer 1932 mit ihrem Heer von Agenten ja bereits die ganze Staatsverwaltung unterminiert hatten, Wind — verschaffen sich Photokopien von den entscheidenden Dokumenten und fühlen sich seither als Herren der Situation. 

Hindenburg der Vater, der im August 1932 erstmalig Hitler empfängt, äußert zwar nach dieser denkwürdigen Audienz, »er werde diesen böhmischen Gefreiten nicht einmal zum Postminister, geschweige denn zum Kanzler machen«, scheint aber damals schon seine Handlungsfreiheit eingebüßt zu haben:

1)  Die deutsche Reichsregierung unter Brüning hatte im Jahre 1930 den »Ostpreußischen Hilfsfonds« ins Leben gerufen. Aus diesem Fonds flossen Milliardenbeträge in die Taschen der preußischen Großgrundbesitzer, während Millionen von kleinen Bauern keinen Pfennig erhielten.

2)  Brüning, Heinrich (1885-1970), Politiker der katholischen Zentrumspartei. Im März 1930 wurde er als Nachfolger des Sozialdemokraten Hermann Müller zum Reichskanzler berufen. Sein Amtsantritt bedeutete gleichzeitig das Ende parlamentarisch gewählter Reichsregierungen. Mit Notverordnungen und Sparprogrammen versuchte er vergeblich, den politischen und wirtschaftlichen Niedergang Deutschlands aufzuhalten. Im Mai 1932 wurde er gestürzt.

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Anders läßt es sich kaum erklären, daß er, der Staatschef, zu der ungeheuerlichen Unverschämtheit schweigt, mit der Hitler im gleichen Monat die eben verurteilten nazistischen Mörder des Arbeiters Potremba1 telegraphisch begrüßt, sie seines bald wirksam werdenden Schutzes versichert und so die von Hindenburg repräsentierte Staatsmacht höhnisch herausfordert.

Wie dem auch sei – an der Jahreswende 1932 auf 1933, als der Berliner Verkehrsstreik2 inzwischen auch die Mitglieder des ehemaligen Papenkabinetts mürbe gemacht hat und die vom Zentrum eingebrachte Interpellation über die Osthilfe sich dem gefährlichen Thema der Gutsverwaltung von Neudeck nähert, beginnt man, immer nach dieser Version, im Lager der Hindenburgs zu zittern, und eben diesen Augenblick scheint Hitler gewählt zu haben, um die bislang ihm verweigerte Kanzlerschaft für sich zu erpressen.

Mancherlei Dinge, die mir aus anderen Quellen zukamen, passen ausgezeichnet zu dieser Hypothese. Eine dunkle Andeutung entsprechender Art hat mir im November 1932 Gregor Strasser3 gemacht, der später im Röhmputsch seine Opposition gegen Hitler mit dem Leben bezahlen mußte.

1)  Hier liegt eine Namensverwechslung vor. Tatsächlich wurde in der schlesischen Ortschaft Potempa der Arbeiter Konrad Pietzuch am 9. August 1932 von Nationalsozialisten in seiner Wohnung überfallen und ermordet. 
2)  Unter zahllosen Streiks im Jahre 1932 war der am 3. November begonnene, fünftägige Streik bei den Berliner Verkehrsbetrieben einer der spektakulärsten. Kommunisten und Nationalsozialisten - sonst Todfeinde - legten wegen einer Lohnkürzung von 2 Pfennig gemeinsam den öffentlichen Verkehr in Berlin lahm. 
3)  Strasser, Gregor (1892-1934), kam 1920 zur NSDAP und war einer ihrer bedeutendsten Vertreter. Er baute die Partei in Norddeutschland auf und wurde erster Reichspropagandaleiter. Ende 1932 trennte er sich jedoch von Hitler.

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So erklären sich auch die geheimnisvollen Konferenzen, die, von der Hindenburgischen wie von der Hitlerschen Seite beschickt, dieser sogenannten deutschen Revolution vorausgingen und, vermutlich unter Vermittlung der Frau von Schröter, in der Ribbentropschen Villa stattfanden — diese Konferenzen, bei denen Herr von Papen1, der seit dem Verkehrsstreik um das Vermögen seiner reichen Frau zitterte, eine sehr, sehr seltsame Rolle gespielt haben dürfte. Endlich erklärt sich so eine recht merkwürdige Einzelheit, die ich von mehreren Gewährsleuten gehört habe und die sich seither hartnäckig am Leben erhält: daß nämlich Schleicher2, der Gegenspieler dieser Aktion, nach dem Bruch mit Hindenburg dem Älteren Hindenburg den Sohn auf dem Bahnhof Friedrichstraße habe verhaften und eine Nacht in Gewahrsam halten lassen.

Exekutor dieser Aktion scheint jener General von Bredow gewesen zu sein, der dann auch prompt anderthalb Jahre später, im Röhmputsch, mit Schleicher zusammen diese im letzten Augenblick gegen das drohende Hitlerkabinett versuchte Abwehrreaktion mit dem Leben zahlte. 

Wie dem auch sei, es scheint wirklich so, als verdankten wir das unermeßliche Elend, das durch diesen Kabinettswechsel über uns alle gekommen ist, eben dieser Erpresseraktion und somit einer augenblicklichen Verlegenheit des Hauses Hindenburg.

Ich habe nicht die Mission, mit einem Toten zu rechten, dessen passive Haltung am 9. November 1918 mir freilich auf einen Verrat an der Krone hinauszukommen scheint.

1)  Papen, Franz v. (1879-1969), auf der äußersten Rechten des Zentrums stehender, konservativer Politiker. Wurde im Juli 1932 Nachfolger Brünings als Reichskanzler. Im Dezember 1932 verlor er dieses Amt. Er hatte beim Sturz der nachfolgenden Regierung Schleicher und der Vorbereitung des ersten Kabinetts Hitler maßgeblichen Anteil. Unter Hitler Vizekanzler bis 1934.   wikipedia.org/wiki/Franz_von_Papen  

2)  Schleicher, Kurt v. (1882-1934), General und Politiker. Während seiner kurzen Kanzlerschaft Dezember/Januar 1932/33 versuchte er vergeblich, die Unterstützung von Parteien und Gewerkschaften zu gewinnen. 1934 war er eines der Mordopfer im »Röhmputsch«.

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Tief zu denken gibt mir das, was von seinen letzten Lebenstagen erzählt wird. Danach also habe der sterbende Marschall Hitler die Tür zum Krankenlager verbieten lassen, bis dieser Unflat, dessen Prestige ohne einen letzten Empfang am Sterbebette einen schweren Stoß erlitten hätte, gewaltsam eindrang und nun zum Gegenstand einer seltsamen und eigentlich schaurigen Valediktion wurde: der Sterbende nämlich, der sich selbst seinen am Kaiser sechzehn Jahre zuvor verübten Verrat nie hat vergeben können, soll ihn für eben den Kaiser gehalten, ihm die Hand gestreichelt und ihn um Verzeihung gebeten haben.

Ist auch nur ein Bruchteil von all diesen Versionen wahr, so kann sich Deutschland auf einen Skandal gefaßt machen, wie er in seiner Geschichte noch nicht dagewesen ist. Ich denke dabei weniger an die statuarische Büste des alten Mannes, der seiner Zeit nicht mehr gewachsen und bei klaren Sinnen einer inkorrekten Handlung sicherlich nicht fähig war. 

Ich will auch gern glauben, daß seine oft an Indolenz grenzende Ruhe im Weltkrieg sehr oft die Situation dort rettete, wo sie durch die Polypragmasie Ludendorffs1) gefährdet erschien.

Die in mehr als einer Hinsicht merkwürdige Witwe des Generals Hoffmann, die mich letzthin hier im Chiemgau besuchte, schüttelte, gleich am ersten Tage, auf meinen Tisch einen Stoß von Kriegsbriefen ihres Gatten, von welchem Stoß mir ein aus dem Spätherbst 1914 am Vorabend des nordpolnischen Feldzuges datiertes Schreiben in unzerstörbarer Erinnerung geblieben ist:

1)  Ludendorff, Erich (1865-1937), General und umstrittener Heerführer im Ersten Weltkrieg. Galt als Symbolfigur einer völkisch-reaktionären Politik. Er war u. a. einer der Hauptbeteiligten am gescheiterten Hitler-Putsch vom November 1923.

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»Er ist (gemeint ist der Oberkommandierende) eigentlich den ganzen Tag auf Jagd, kommt erst des Abends aufs Bureau, läßt sich unsere Befehle für den nächsten Tag vorlesen und sagt dann <Mit Jott Kinder, ich kanns ooch nich besser.>. Für die nächsten Tage hat sich Herr von Bethmann-Hollweg1) bei uns angesagt, um sich bei Hindenburg nach der strategischen Lage zu erkundigen. Da werden wir ihm wohl erst sagen müssen, was er von der strategischen Lage zu halten hat, denn er weiß nicht einmal, wo seine Truppen stehn.« 

 

Ich habe, wie gesagt, nicht mit dem Toten zu rechten, der zuletzt an einer Stelle stand, die er nicht auszufüllen vermochte und für die er zu alt und wohl auch zu krank war. Zu rechten habe ich mit der Dummheit eines ganzen Volkes, das sich dieses Sammelsurium von Unzulänglichkeit und nutznießender Falotten hat gefallen lassen. Die Deutschen, solange sie ihr Schicksal wechselnden Kabinetten anvertraun, werden ihre Wirrsale, ihre Krämpfe, ihr politisches Flagellantentum nie loswerden. Die Deutschen, wie sie sind, benötigen des Herren.* Freilich, er muß anders aussehen als dieser »Allergnädigste Zigeunerprimas«, den uns das Schicksal in unserer kritischsten Stunde bescherte.

 

 

11. August 1936

 

Mit Franckenberg, den ich in München treffe, spreche ich über Röhm. Röhm2) also, wie von einem alten Soldaten nicht anders erwartet werden konnte, hat den Tod tapfer und standhaft empfangen, nachdem er zuvor noch weidlich über den miserablen Gefängniskaffee gescholten hatte —

1)  Bethmann-Hollweg, Theobald v. (1856-1921), Reichskanzler von 1909 bis 1917. Seiner Politik sagte man eine zu große Nachgiebigkeit gegenüber den unberechenbaren Entschlüssen von Kaiser Wilhelm II. nach. Dies führte dann schließlich zu seinem Sturz.

2)  Röhm, Ernst (1887-1934), Chef der nationalsozialistischen Sturmabteilung (SA), wurde 1933 Reichsminister. Am 30. Juni 1934, ließ Hitler ihn unter dem Vorwand, er habe einen Putsch vorbereitet, verhaften und ermorden. Im Zusammenhang mit diesem angeblichen »Röhmputsch« wurden weit über hundert SA-Führer und andere Personen ermordet, die Hitler mißliebig geworden waren.

* (u2009) Hier kommt die von J. Fest kritisierte anti-demokratische Einstellung vor. 

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jedenfalls ist die von Goebbels und seinen Helfershelfern verbreitete Version, er habe vor den Henkern sich unter dem Bette versteckt, eines der übelsten, in der Giftküche dieses Propagandaministeriums ausgeheckten Bubenstücke, die feige Beschimpfung eines Toten, wie sie früher oder später an dem Verleumder sich zu rächen pflegt. 

Über den jungen Spreti1 übrigens höre ich, daß er im Tode Hitler habe hochleben lassen. Bei dem Musikkritiker Schmid, der gewissermaßen aus Versehn, in unseliger Verwechslung mit einem Namensvetter hat sterben müssen, scheint man nach bei diesem Namen ja recht aufschlußreichem Telephonverzeichnis vorgegangen zu sein und nach dem Verfahren »Sicher ist sicher« erst eine ganze Reihe anderer Schmids ins Jenseits befördert zu haben, bis man an den richtigen kam. 

Endlich wäre der zweiundsiebzigjährige Herr von Kahr2 zu erwähnen, der keineswegs erschossen, sondern auf dem Hof des Hotels »Marienbad« von SS-Strolchen mit Stiefelabsätzen totgetreten worden ist.

Die ganze Angelegenheit ist eine der dunkelsten und rätselvollsten Affären dieser letzten Jahre und wird einmal scheußliche Enthüllungen zeitigen. Täuscht nicht alles, so haben sich hier sehr verschiedene Putschabsichten gekreuzt. Der alte Hugenberg3) soll einige Tage vorher im Ufakasino von »zu erwartenden Ereignissen« gesprochen haben, die »der Ufa bald eine freie, von der Zensur unbeschwerte Produktion gestatten würden«,

1) Spreti, Hans Graf v. (1908-1934), SA-Führer und persönlicher Adjutant von Röhm.

2) Kahr, Gustav Kitter v. (1862-1934), 1920/21 Ministerpräsident und 1923 Staatskommissar von Bayern; im November 1923 kurze Zusammenarbeit mit Hitler, trug aber dann zum Scheitern des Hitler-Putsches bei.

3)  Hugenberg, Alfred (1865-1951), Industrieller und Gründer eines Verlags- und Filmkonzerns, Förderer von Hitler und 1933 Reichsminister.

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während Papen in seiner Marburger, ihm von seinem Adlatus Jung1) ausgearbeiteten Rede, sich den Anschein gab, als sei er, der vielgewandte Odysseus, zu einem reumütigen Rückmarsch ins Lager des Zentrums bereit.

Jung, den ich zeitlebens für einen Juden gehalten habe und der jedenfalls ein von seinem Geltungsbedürfnis geradezu besessener politischer Geschäftemacher gewesen ist, hat diese Rede mit dem Leben bezahlt, während sein Herr und Meister Papen, der den Galgen allein schon für seine hyperbolische Dummheit verdient hätte, sich unter die schützenden Fittiche des alten Hindenburg flüchtete. Ich für mein Teil hoffe, daß er, der momentan mit der Unterminierung Österreichs beschäftigt ist und überall dort Verwendung findet, wo Politik sich in kleine Intrige und das auflöst, was Bismarck die »tägliche Dreckarbeit« nannte ... ich für mein Teil hoffe, daß er seinem Schicksal nicht entgehen wird. Er, der hinter dem äußeren Gehabe eines Gentlemans das Ehrgefühl und das Gewissen eines Metzgerhundes birgt und von jeher hohe Politik sich als eine Kette von Durchstechereien und Pferdediebstählen vorstellte, ist bei aller Schlauheit dumm wie ein Ofenrohr – von jener Dummheit des Herzens und Gewissens nämlich, die sich mit Gerissenheit durchaus paaren kann und keineswegs eine Entschuldigung, sondern ein Laster ist

 

Um übrigens auf die Röhmaffäre zurückzukommen: so scheint es, als habe der große Manitu bei seinem Apachenvorstoß auf Wiessee an einigen seiner Gegner das Amt des Henkers allerhöchsteigenhändig vollzogen. Andererseits höre ich, daß das eine dieser Opfer — es dürfte Heines2) gewesen sein — wutbrüllend und mit der Pistole in der Hand sich zur Wehr setzte, mit der Waffe seinen Reißaus nehmenden Herrn und Meister Hitler über die Treppe verfolgte, bis der Flüchtende durch Zuschlagen einer eisenbeschlagenen Bodentür sich in Sicherheit brachte. Für einen jungen Staat ein ganz netter Start im hamletischen Stil — ein Auftakt, der für die Zukunft allerlei verspricht.

1)  Jung, Edgar (1894-1934), politischer Schriftsteller (<Die Herrschaft der Minderwertigen>, 1927), Berater Papens, wurde im »Röhm-Putsch« ermordet.
2)  Heines, Edmund (1897-1934), SA-Führer und seit 1933 Polizeipräsident von Breslau. 

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Ich inzwischen, an meinem Buche1) über das Münsterer Wiedertäuferreich arbeitend, lese in tiefer Erschütterung die mittelalterlichen Berichte über diese echt deutsche Häresie, die in allem und jedem ... ja selbst in den lächerlichsten Einzelheiten eine Vorläuferin der nun von uns erlebten gewesen ist. Wie das heutige Deutschland, so löst für Jahre sich auch jener Münsterische Stadtstaat völlig aus der zivilisierten Welt, wie Nazideutschland, so verzeichnet er durch lange Zeiten Erfolg über Erfolg und erscheint unbezwinglich, um schließlich in einem ganz unerwarteten Augenblick und sozusagen über eine Bagatelle zu stürzen ...

Wie bei uns, so ist auch dort ein Mißratener, ein sozusagen im Rinnstein gezeugter Bastard der große Prophet, wie bei uns kapituliert vor ihm, unbegreiflich für die staunende Umwelt, jeder Widerstand, wie bei uns (denn jüngst erst haben in Berchtesgaden verzückte Weiber den Kies verschluckt, auf den er, unser allergnädigster Zigeunerprimas, soeben seinen Fuß gesetzt hatte!) ... wie bei uns also sind hysterische Weiber, stigmatisierte Volksschulmeister, fortgelaufene Pfaffen, arrivierte Kuppler und Outsider aller Berufe die Hauptstützen dieses Regimes. Die Ähnlichkeiten häufen sich in einem Maße, daß ich sie, um meinen Kopf nicht noch mehr zu gefährden, direkt unterdrücken mußte.

1)  Bockelson, Geschichte eines Massenwahns. Berlin: Schützen-Verlag 1937.

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Ein Mäntelchen von Ideologie verhüllt in Münster just wie bei uns einen Kern von Geilheit, Habgier, Sadismus und bodenlosem Geltungsbedürfnis, und wer an der neuen Lehre zweifelt oder sie gar bekrittelt, ist dem Henker verfallen. Wie bei uns im Röhmputsch Herr Hitler getan, so spielt in Münster dieser Bockelson1 den Staatshenker, wie bei uns gilt die spartanische Legislatur, in die er das Leben der misera plebs einspannt, beileibe nicht für ihn und seine Gangsterbande.

Wie bei uns umgibt Bockelson sich, unerreichbar für jedes Attentat, mit seinen Tappedürs, wie bei uns gibt es Straßensammlungen und »freiwillige Spenden«, deren Verweigerung die Acht zur Folge hat, wie bei uns narkotisiert man die Masse mit Volksfesten und errichtet unnütze Bauten, um dem Mann von der Straße ja keine Atempause zum Nachdenken zu geben. Just wie Nazideutschland, so schickt auch Münster seine fünften Kolonnen und Propheten zur Unterminierung der umliegenden Staaten aus, und daß der Münsterische Propagandaminister Dusentschnur, just wie sein großer Kollege Goebbels, gehinkt hat, ist ein Witz, den die Weltgeschichte sich vierhundert Jahre vorweg nahm: eine Tatsache, die ich, vertraut mit dem Rachebedürfnis unseres Reichslügenbeutels, wohlweislich in meinem Buch unterdrückt habe. 

Aufgerichtet auf den Fundamenten der Lüge reckt sich da, an der Wende von Gotik und Neuzeit, für kurze Zeit ein Banditenstaat, der die ganze alte Welt nebst Kaiser und Reichsständen und allen alten Bindungen bedroht und im Grunde nur den Zweck hat, die Herrschergelüste von ein paar Banditen zu stillen, und was uns selbst heute an dem Schicksal der Münsterer von 1534 noch fehlt — etwa, daß man in der belagerten Stadt vor

1)  Bockelson (eigentlich Johann von Leiden), um 1510 in Holland geborener Schneider, war einer der Wortführer und dann »König« der fanatischen protestantischen Sekte der Wiedertäufer in Münster. Nach Zerschlagung des Wiedertäuferreiches 1536 hingerichtet.

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Hunger seine eigenen Exkremente und schließlich sogar seine eigenen, vorsorglich eingepökelten Kinder verschlang: all das könnte über uns just noch so kommen, wie einst über Hitler und seine Trabanten das unausbleibliche Ende der Bockelson und Knipperdollink1 kommen wird.

Betroffen stehe ich vor diesen vierhundertjährigen Akten, befallen von der Ahnung, daß diese Ähnlichkeit keineswegs durch einen Zufall, sondern durch die schaurige Periodizität seelischer Abszeßentleerungen bedingt sein könnte. Denn was wissen wir schon von jenen unterirdischen Schluchten und Gewölben, die sich unter dem Lebenshaus eines großen Volkes ins Unbekannte verlieren — von jenen Katakomben, in denen einst alle unsere trüben Wünsche, unsere Angstträume und Plagegeister, unsere Laster und vergessenen und ungesühnten Todsünden eingesargt sind seit Generationen? In gesunden Zeiten durchziehen sie als albischer Spuk unsere Träume, dem Künstler erscheinen sie als satanische Visionen — dann strecken an unseren Kathedralen die gotischen Wasserspeier obszöne Hintern in die Luft, und es ziehen über Grünewalds heilige Tafeln mit geschnäbelten Fratzen und Krallenfüßen die Symptome aller Laster und jene Geißler, die, auf daß das Gesetz erfüllet werde, auf den Salvator einschlagen, und siehe, fast tun sie in der Automatie dieser Gesetzeserfüllung dem Beschauer leid . . .

Wie nun aber, wenn alles dies, was sonst in unseren Verliesen verborgen gehalten wird, in der blutreinigenden Funktion eines Furunkels nach außen drängt, wenn jene Unterwelt von Zeit zu Zeit den Satan gebiert, der ihre Gruftdeckel sprengt und die bösen Geister der Pandorabüchse entweichen läßt?

1) Knipperdollink, Bernhard, Bürgermeister von Münster und einer der eifrigsten Förderer der revolutionären Pläne Bockelsons. 1536 enthauptet.

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War es nicht just so in dem vorher und hinterher so konservativen Münster, und erklärt sich nicht dort wie bei uns die rätselvolle Tatsache, daß dies alles ohne Widerstand der Guten in einem an sich ordentlichen und nüchternfleißigen Volke geschah, durch die nämliche schaurige und unberechenbare kosmische Drehung, die eben, seit der ersten Stunde dieses Hitlerregimes, durch Sonnenflecken das Wetter, durch unentwegt verregnete Sommer die Ernten verdirbt, mit unbekanntem Ungeziefer die alte Erde überzieht und in einem unvorstellbaren Ausmaße die Begriffe von Recht und Unrecht, Mein und Dein, Gerade und Ungerade, Tugend und Laster, Gott und Satan verwirrt?

Ich kam neulich in München, wo man gerade mit Tubaton und Paukenkrach eines der nun alltäglichen Feste feierte, in meinem gewohnten Hotel am Bahnhof nicht unter, ich fand ein Notquartier in der Altstadt gegenüber einem Schulhaus, in dem man jetzt, in den Ferien, einen wandernden Trupp der Hitlerjugend untergebracht hatte.

Ich sah einen dieser Buben, der eben seinen Tornister abgeworfen hatte, sich umsehn im leeren Klassenzimmer, ich beobachtete, wie sein Blick auf den über dem Katheder hängenden Kruzifixus fiel, wie mit einem Mal dieses junge und noch weiche Gesicht in Wut sich verzerrte und wie er das Symbol, dem die deutschen Dome und die tönenden Säulenhallen der Matthäuspassion geweiht sind, von der Wand riß und wie er es durchs Fenster auf die Straße warf ... Mit dem Ausruf »Da lieg, du Saujud!«

Dies also habe ich gesehn. In meiner Bekanntschaft habe ich es mehrfach erlebt, daß Kinder ihre Eltern politisch denunzierten und damit ans Messer lieferten — ach, ich glaube nicht, daß alle diese Kinder in nuce geborene Teufel waren; just, wie jener Christusstürzer gestern noch sich berauscht haben mag am Märchen vom Machandelbaum oder gar von jenem getreuen Heinrich, dem in seiner Treue und in seinem Kummer um seinen gebannten und verzauberten Herrn ums Herz ein Eisenreif gewachsen war.

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Mein Leben in diesem Pfuhl geht nun bald ins fünfte Jahr. Seit mehr als zweiundvierzig Monaten denke ich Haß, lege mit Haß mich nieder, träume Haß, um mit Haß zu erwachen ... Ich ersticke in der Erkenntnis, der Gefangene einer Horde böser Affen zu sein, und zermartere mir das Hirn über das ewige Rätsel, daß dieses nämliche Volk, das vor ein paar Jahren noch so eifersüchtig über seinen Rechten wachte, über Nacht versunken ist in diese Lethargie, in der es diese Herrschaft der Eckensteher von gestern nicht nur duldet, sondern auch, Gipfel der Schande, gar nicht mehr im Stande ist, die eigene Schmach als Schmach zu empfinden ...

Letzthin in Seebruck sah ich Herrn Hitler, bewacht von seinen vorausfahrenden Scharfschützen, beschirmt von den Panzerwänden seines Autos, langsam vorübergleiten: versulzt, verschlackt, ein teigiges Mondgesicht, in dem wie Rosinen zwei melancholische Jettaugen steckten.

So traurig, so über die Maßen unbedeutend, so tief mißraten, daß noch vor dreißig Jahren, in den trübsten Zeiten des Wilhelminismus, diese Exkrementalvisage schon aus physiognomischen Gründen unmöglich gewesen wäre und, auf einem Ministersessel, sofort die Gehorsamsverweigerung ... nicht der vortragenden Räte, nein, selbst die des Portiers und der Reinmachefrauen zur Folge gehabt hätte.

1)  Keitel, Wilhelm (1882-1946), Generalfeldmarschall; 1938 Chef des Oberkommandos der deutschen Wehrmacht, unterzeichnete am 8. Mai 1945 die deutsche Kapitulation. Nach dem Nürnberger Prozeß von 1946 ab Kriegsverbrecher hingerichtet.

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Heute? Ich höre, daß Herr Hitler letzthin einen Vortrag des Herrn Keitel1, der seine Unzufriedenheit erregte, damit beendete, daß er dem General (der physiognomisch freilich gut zu ihm paßt) eine Bronzevase an den Kopf warf. Heute also? Im Zeichen einer im Pfuhl ihrer Schmach versinkenden Menge? »Und alles, was sie taten, das mußte recht sein, so war es Gottes Wille.« Das lese ich in einer Münsterischen Chronik des sechzehnten Jahrhunderts. Ich bin weder Okkultist noch Phantast, ich bin mit all meinen Ahnungen ein Kind meiner Zeit und halte mich nur an das, was ich sah, und was mir immer wieder sich aufdrängt als des Rätsels einzige Lösung.

Nein, dieser, den ich da vorüberziehn sah, im Gehege seiner Mamelucken, wie den Fürst dieser Welt, er ist kein Mensch.

Er ist eine Figur aus einer Gespenstergeschichte.

 

*

 

Persönlich, keineswegs in seinen Versammlungen, sondern eben von Mann zu Mann und mithin sozusagen in »freier Wildbahn«, bin ich ihm ein paar Mal begegnet.

1920 fand ich bei meinem Freunde Clemens zu Franckenstein1, der damals die Lenbachvilla bewohnte, einen seltsamen Heiligen vor, der nach Angaben des Dieners Anton partout sich nicht hatte abweisen lassen und schon eine volle Stunde dort saß. Er war es, er selbst! Bei Clé, der bis zur Revolution ja Generalintendant der Königlichen Hofbühnen gewesen war, hatte er sich Eintritt verschafft unter Berufung auf sein Interesse für Operninszenierung, die er mit seinem früheren Beruf in Zusammenhang brachte und die er sich vermutlich als eine Kette von Dekorateur- und Tapeziererkunststücken vorstellte.

1)  Franckenstein, Clemens Frhr. von und zu (1875-1942), Komponist, an der Berliner Hofoper und dann am Münchner Holtheater Generalintendant.

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Gekommen war er, damals noch ein unbekannter Outsider, sozusagen »en pleine carmagnole«, hatte für diesen Besuch bei einem Unbekannten sich mit Reitgamaschen, Reitpeitsche, Schäferhund und Schlapphut ausstaffiert und wirkte auf diese Weise zwischen diesen Gobelins und diesen kühlen Marmorwänden seltsam wie ein Cowboy, der es für richtig befunden hatte, mit Lederhosen, Monstresporen und Coltrevolver sich auf den Stufen eines Barockaltars niederzulassen.

So — damals noch hager und scheinbar sogar ein wenig verhungert — saß er da mit dem Gesicht eines stigmatisierten Oberkellners, fühlte sich durch die Anwesenheit eines leibhaftigen »Herrn Baron« ebenso beglückt wie gehemmt, wagte aus lauter Ehrfurcht gewissermaßen nur auf der einen Hälfte seines asketischen Allerwertesten zu sitzen und schnappte nach den liebenswürdig-kühlen Zwischenbemerkungen des Hausherrn beglückt wie ein verhungerter Straßenköter, dem man einen Brocken Fleisch zuwirft. 

Vom Hundertsten ins Tausendste kommend, bestritt er die Unterhaltung durchwegs allein, predigte dabei wie ein Divisionspfarrer und geriet, ohne etwa in Differenz mit uns geraten zu sein, lediglich in unbewußter Erinnerung an die gewohnte Akustik des Zirkus Krone dermaßen ins Schreien, daß schließlich Franckensteins Hauspersonal, einen Auftritt zwischen Hausherrn und Gast befürchtend, zusammenlief und zum Schutz meines Freundes ins Zimmer kam. 

Als er ging, saßen wir schweigend und in einer gewissen Ratlosigkeit uns gegenüber ... keineswegs amüsiert, sondern mit jenem peinlichen Gefühl, das man haben mag, wenn der einzige Mitreisende, mit dem man ein Coupe geteilt hat, sich als ein Geistesgestörter erwies. Lange saßen wir, ohne daß ein Gespräch in Gang kommen wollte. Schließlich stand Cle auf, öffnete eines der riesigen Fenster und ließ von draußen die föhnwarme Frühlingsluft herein. 

Ich will.....

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