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11. Über das Problem des Maßes in unserem Leben

Schluß von Roszak-1978

Mystifikation   Dialog    Wachstums

  Klein heißt persönlich  

275-288

Die zentrale These dieses Buches war, daß jedes Übermaß die Rechte der Person und des Planeten zerstört und daß Person und Planet sich deshalb gegen die urban-industrielle Herrschaft zur Wehr setzen, indem sie nach gesellschaftlichen Formen und kulturellen Werten suchen, die dazu taugen, maßlos angeschwollene Institutionen aufzuspalten. 

Im vorigen Kapitel haben wir uns Graswurzel-Gemeinschaftsexperimente angesehen, die uns vom Joch aufgeblähter Strukturen befreien könnten, und zwar auf jene humane und umsichtige Weise, in der das Mönchtum im späten Römischen Weltreich den Menschen neue kulturelle Möglichkeiten vor Augen führte, auf die sie ihre Kräfte richten konnten. Diese Aufgabe stellt sich uns in unserer nächsten Umgebung — bei unserer Familie, unseren Freunden und Nachbarn. 

Doch die Herausforderung verlangt von uns nicht nur, die gemeinschaftsbildende Zellstruktur unserer Gesellschaft von Grund auf zu erneuern; wir müssen auch die riesenhaften Institutionen, die uns umgeben, verkleinern, bevor sie unter ihrem eigenen Gewicht zusammenbrechen oder sich unter dem Druck von Krisen zu einer rücksichtslosen technokratischen Diktatur verhärten. Zum Projekt der schöpferischen Auflösung gehört jedoch auch, daß dabei nichts von dem unter die Räder kommt, was wir gerade von der drückenden Last des industriellen Riesenwuchses befreien wollen — wir brauchen es für den Übergang zu einer personalistischen Gesellschaftsordnung.

Aber was heißt das: verkleinern? Welches sind die Kriterien für gesundes Maß? 

Ganz bestimmt kommen wir nicht sehr weit, wenn wir uns nur von Slogans wie small is beautiful leiten lassen. Dieser Satz mag aufrüttelnd sein, aber 'klein' ist ebenso wie 'groß' immer noch ein quantitativer und äußerlicher Maßstab; wir suchen dagegen eine Veränderung in der Qualität unseres Lebens, die uns das Abenteuer der Selbstentdeckung als zentralen kulturellen Wert erkennen läßt. Wir müssen an das Problem des Maßes mit der Einsicht herangehen, daß das Gegenteil von groß nicht klein ist, sondern persönlich. Keine Alternative für unsere gegenwärtigen Institutionen wird die Loyalität der Menschen an sich binden können, solange nicht gesichert ist, daß klein auch persönlich bedeutet.

Und das ist durchaus nicht selbstverständlich. Es gibt zwar eine wichtige Beziehung zwischen Kleinheit und Personalität, darauf komme ich später zurück, doch diese Verbindung ist keineswegs notwendig. Wir brauchen nur auf die Geschichte zurück­zugreifen; es hat genügend kleine Gesellschaften und Institutionen gegeben, die die Menschen unterdrückten. Die Stammes­kulturen der Welt sind immer klein gewesen, meist aber auch streng traditions­gebunden; die sozialen Identitäten so stark fixiert, daß kein Raum für freie Selbstäußerung und Originalität blieb. Die Stadtstaaten in der Antike und im Italien der Renaissance waren auch kleine Gesellschaften, doch ihre Politik konnte sich an Niedertracht mit manchen modernen Regimen durchaus messen, und es gab innerhalb der Mauern dieser Stadtstaaten genügend Raum für Sklaverei, Klassenherrschaft, Unterdrückung von Frauen, Kindern, Fremden und Minderheiten.

Auch Amerika war eine Gesellschaft kleiner Formen, bevor es ein urban-industrieller Gigant wurde. Doch die Hexenjagden von New England fanden in Stadtversammlungen unter Bürgern statt, die einander als Nachbarn kannten; und die Sklavenhalterwirtschaft der Südstaaten ruhte vorwiegend auf kleinen und mittelgroßen Farmen, wo eine fast intime Beziehung zwischen den Antreibern und Arbeitern bestand — was dazwischen fehlte, war eine Anerkennung als Person. Vergessen wir auch nicht, daß die schlimmsten Formen kapitalistischer Ausbeutung oft gerade in kleinen Menschenschinderbetrieben anzutreffen waren, obgleich deren Technologie unserem heutigen Ideal der <mittleren Technologie> entsprach und der Chef persönlich anwesend war, um das Tempo der Tretmühle festzulegen.

Es gibt heute die Tendenz, das Interesse für kleine Unternehmungen als ein 'Zurückdrehen der Uhr' zu betrachten. Manche schwärmen von der Rückkehr zur guten alten Zeit, andere sprechen von bloßem Wunschdenken. Ich finde, daß beides nicht trifft. Suchen wir in der Vergangenheit nach Modellen überschaubarer Größe, so finden wir sie meist von Kulturen umgeben, in denen die Rechte der Person eher noch weniger Gültigkeit besitzen als in unserer Zeit. Deswegen habe ich das mönchische Modell angeführt, denn es ist eines der wenigen Beispiele aus der Vergangenheit für ein personalistisches Gemein­schaftsleben. Gleichwohl bleibt dieses Modell mit einer bestimmten Heilslehre verknüpft und eignet sich daher kaum für eine planetare Kultur. Wenn wir also eine personalistische Gesellschaftsordnung anstreben, sprechen wir über ein entschieden zeitgenössisches Projekt, das von uns verlangt, unsere Mittel und Ideen hauptsächlich in uns selbst und in der Zukunft zu suchen.

Natürlich kommen wir bei dem Beweis, daß klein nicht unbedingt schön sein muß, auch ohne die Geschichte aus. Dazu reicht unsere eigene Erfahrung. Jeder ist gewiß irgendwann in seinem Leben einmal Mitglied von Vereinen oder politischen Gruppen gewesen, hat in Büros oder Betrieben gearbeitet, die klein waren und doch den ganzen Fächer an widerlichen Intrigen und verachtungsvollen menschlichen Beziehungen boten.

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Jean Paul Sartre demonstriert in seinem Stück <Geschlossene Gesellschaft> erschöpfend, daß das Grauen der ewigen Verdammnis nur drei Menschen braucht, die sich Auge in Auge in einem Zimmer gegenüberstehen. "Die Hölle sind andere Menschen" — und es braucht nicht einmal drei Menschen. Wieviele Ehen sind eine Hölle für zwei?

 

Offenbar ist an diesem Problem des Maßes noch vieles zu klären. Selbst E.F. Schumacher, der so viel dazu beigetragen hat, das Bewußtsein für diese Frage zu schärfen, hat sie nie ganz in den Griff bekommen. Er hat uns viele kleinformatige Ansätze vorgeführt, mit denen irgendwelche technischen oder ökonomischen Schwierigkeiten glänzend gemeistert werden konnten, aber er ließ die anderen kleinen Unternehmungen und Institutionen außer Betracht, die alles andere als human und nicht im geringsten effektiv waren. In einem seiner späten Essays über "Die kritische Frage des Maßes" erklärt er: "Das richtige Maß ist ein schwieriger Begriff... Was genau das richtige Maß ist, kann ich nicht sagen. Wir müssen experimentieren, um es herauszufinden."* 

Er kam jedoch nie dazu, uns zu beschreiben, wie ein kleines Telefon- oder Bewässerungssystem, ein kleines Wasserkraftwerk aussehen könnte. Bedeutet das Plädoyer für das Kleine, daß man solche von ihrer Natur her großen Systeme abschaffen muß? Oder bedeutet es, daß wir sie zu ihrer technologisch optimalen Größe heranwachsen lassen und nur für eine Dezentralisierung des Managements sorgen? Letzteres scheint alles in allem Schumachers Empfehlung zu sein. "Die fundamentale Aufgabe", so glaubte er, "besteht darin, das Kleine innerhalb großer Organisationen zu verwirklichen."

Dennoch: wenn wir die großen Systeme in kleine Einheiten zerlegt haben (unter der Voraussetzung, daß sie dann noch funktionieren), wie stellen wir dann sicher, daß es sich um schöne kleine Einheiten handelt und nicht um häßliche, in denen Animosität, Neid und Intrige herrschen? Oder winken wir beim Thema menschliche Beziehungen ab und trösten uns damit, daß wirksam aufgeteilte Macht wenigstens kein Instrument der Despotie mehr sein kann? Das ist die herkömmliche anarchistische Sicherheitsvorkehrung, eine rein negative Begründung für die Notwendigkeit des Kleinen und Dezentralen. Belassen wir es dabei, dann haben wir uns zwar mit dem Problem der Macht befaßt, aber nicht mit der Frage der Personalität.

Ein Beispiel, das vielleicht einige der ungelösten Fragen über das richtige Maß illustriert: Jeder, der schon einmal in einer großen Klinik gelegen hat, weiß, wie niederschmetternd unpersönlich die Behandlung sein kann. Die Routine, der koordinative Überbau, der geballte Einsatz medizinischer Technologie kann die besten Absichten der gewissenhaftesten Ärzte und Schwestern zunichte machen. In diesem organisatorischen Korsett hat fürsorgliche Pflege keinen Platz und die Patienten gehen leicht in der Papierflut unter.

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Suchen wir andererseits einen einzelnen Arzt in seiner Praxis auf, dann stehen wir der Medizin in ihrer kleinsten, ganz hautnahen Gestalt gegenüber. Aber gibt uns das irgendwelche Garantien für die menschlichen Beziehungen, die uns da erwarten? Verspricht es uns warme, einfühlsame, humane Behandlung? Keineswegs. 

Gut möglich, daß der Arzt uns herumschubst, einschüchtert oder gar demütigt, daß er seine Patienten als unmündige Kinder und Ignoranten betrachtet, daß er in ihnen nichts anderes als eine Ansammlung von Symptomen mit gewissen Auswirkungen auf seinen Kontostand sieht; wir finden uns auf der Empfängerseite einer medizinischen Wissenschaft, für die wir nur fühllose biologische Materie sind; vielleicht dienen wir auch — ohne daß man uns fragt oder warnt — als Meerschweinchen, an denen unser Arzt ein neues Verfahren ausprobiert. Wenn der Arzt nicht gelernt hat, seine Patienten als ganze Personen zu erfahren, die emotionale Hilfe ebenso brauchen wie medizinische, wenn er sich selbst nicht als fehlbaren Menschen sehen kann, der einen anspruchsvollen Dienst versieht, in dem es nicht nur auf physisches, sondern auch auf psychologisches Feingefühl ankommt, dann ist es gleichgültig, wie klein man das System macht, dann bleibt es in jedem Fall gefühllos und autoritär.

In dem erwähnten Essay gesteht Schumacher ein: "Ich kann in irgendeinem speziellen Fall nicht definieren, was das <menschliche Maß> ist... es gibt keine wohlfeile allgemeine Antwort."* Doch in einem Kapitel seines Buches <Rückkehr zum menschlichen Maß> versucht er sich doch an theoretischen Prinzipien für großformatige Organisation. Die Regeln, die er vorschlägt, taugen gewiß als Sicherung gegen die Tendenz großer Systeme zu bürokratischer Machtanmaßung; sie schreiben vor, daß jede Größenänderung oder Zentralisierung begründet werden muß. 

Doch wieder zögert Schumacher am Ende, schärft uns ein, daß die besten Prinzipien nicht aus der Theorie abzuleiten sind, sondern "aus Beobachtung und praktischem Verständnis" — als wäre ihm immer noch nicht ganz wohl dabei, allgemeine Regeln für angemessene Größenordnung zu formulieren. An einer Stelle warnt er uns sogar vor einer "Vergötzung des Kleinen", die uns ebenso in die Irre führen würde wie die gegenwärtige "Vergötzung des Großen"; in dem Fall müßte man wieder "versuchen, Einfluß in der entgegengesetzten Richtung auszuüben".

 

   Die Erfahrung der Mystifikation  

 

Wenn kleine Institutionen also keine Garantie für die Qualität des Lebens sind, das sich in ihnen abspielt, dann ist es müßig — oder zumindest zu früh —, allgemeine Prinzipien des richtigen Maßes aufzustellen. Wir müssen anderswo anfangen, nämlich bei den Motivationen und Neigungen der Menschen. Da wurzelt schließlich das "praktische Verständnis". Das Problem des Maßes liegt letztlich nicht in den Institutionen, sondern in uns selbst.

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Vielmehr: es ist in den Institutionen, weil es zuerst in uns selbst ist — in dem Ausmaß von Entfremdung und unpersönlicher Interaktion, das wir ertragen können. Wenn wir diese Erfahrungsdimension des Problems außer acht lassen, dürfen wir auch nicht hoffen, es auf einer höheren institutionellen Ebene oder im Bereich reiner Theorie lösen zu können.

Wir haben es auf der Ebene zwischenmenschlicher Beziehungen also nicht in erster Linie mit der Erfahrung der Größe zu tun, sondern mit der Erfahrung der Mystifikation. Das ist der Kern der Sache. Je größer oder stärker die Mystifikation, desto schlimmer die Vergewaltigung unserer Personalität. Das Wesen der Mystifikation besteht in der Zuschreibung von falscher Identität, das heißt, Mystifikation ist Manipulation: Irgendwer sagt uns, wer wir sind und was wir sind, welche Rollen wir spielen sollen, was wir fühlen müssen, welche Grenzen für Können, Treuepflicht und persönlichen Wert wir zu respektieren haben.

Mystifikation ist ein Angriff auf die spirituelle Autonomie anderer; aufgrund der Annahme, daß es irgendwo in der Welt eine höhere Autorität gibt, die das Recht hat, Identitäten zuzuweisen, strebt sie unweigerlich nach einer starren hierarchischen Ordnung, in der Personalität keine Rolle spielt. Diese Vergewaltigung der Personalität kann im großen gesellschaftlichen Rahmen ablaufen — wie im Fall einer Führungselite, die ihre privilegierte politische Position ausnutzt, um ihren Willen der Bevölkerung eines ganzen Weltreichs aufzuzwingen; oder in ganz kleinem Rahmen, etwa in der Beziehung zwischen Mann und Frau, zwischen Eltern und Kindern. Wo immer die Menschen eingeschüchtert und in zugewiesene Identitäten hineinmanipuliert werden, da werden sie mystifiziert. Mit Tricks werden sie dazu gebracht zu vergessen, daß sie Personen mit dem Geburtsrecht auf Selbstentdeckung sind.

Mystifikation ist sehr vielfältig und oft unmerklich, so subtil, daß manchmal beide Seiten der Transaktion — der privilegierte Top Dog ebenso wie der unterwürfige Underdog — nichts von der zutiefst ausbeuterischen Natur ihrer Beziehung merken. Beide haben die zugeschriebene Identität des anderen so tief verinnerlicht, daß sie über die eindimensionale soziale Oberfläche, die jeder geworden ist, nicht mehr hinausblicken können. Underdogs können ihre eigene Unterjochung letztlich sogar selbst wollen, während Top Dogs im Geist des noblesse oblige paternalistische Pflichten auf sich nehmen, für die sie mit materiellen Gütern und Seelenfrieden teuer bezahlen. Es gibt sogar Formen der Mystifikation, die edelsten Absichten entspringen, etwa wenn eine pflichtbewußte revolutionäre Führerschaft das Bewußtsein ihrer Gefolgschaft erweitern und deren Solidarität fördern will. Sie schreibt eine vorgefertigte kollektive Identität auf ihre Flaggen — Arbeiterklasse, Masse, Volk — und dazu gleich noch ein komplettes Weltbild, eine Ethik, ein höchstes Gut und einen stereotypen Charakter. Gerechtigkeit und Freiheit heißt die Absicht, aber zuerst müssen alle ein Gesicht, einen Namen, ein und dieselbe gesellschaftliche Bestimmung annehmen: die unterdrückten Millionen.

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Und dort könnte die Revolution, selbst nach ihrem Sieg, zum Stehen kommen — wenn sie diese eine Identität zu einer nationalen Kultur und einer politischen Mystik institutionalisiert und keinerlei Anerkennung der Person mehr zuläßt.

Mit dem Prozeß der Mystifikation im Blick erkennen wir deutlicher die Gefahr, die in übergroßen Operationen liegt. Je größer die Institution, das Unternehmen, die Bewegung, desto näher liegt es den Menschen, einander und sich selbst zu mystifizieren. An diesem Punkt gibt es gegen Schumachers Einwendung, daß Größe unweigerlich Probleme der Entfremdung und Unterdrückung ausbrütet, nichts zu sagen. Große Institutionen sind per definitionem dazu da, große Mengen von Dingen und Menschen zu verarbeiten; der Weg zu stumpfen bürokratischen Prozeduren ist damit vorgezeichnet. Strikte Ordnung und Buchführung werden zur Manie, also muß es präzise Vorschriften und viel Papierkram geben und natürlich verschlungene Dienstwege, um alles zu prüfen und gegenzuprüfen. 

Alle, die hier arbeiten, sehen nichts von den Resultaten ihrer Arbeit; menschliches Empfinden und ethische Sensibilität können hier nicht überleben; das Gefühl persönlicher Verantwortung verliert sich in der grauen Ferne delegierter Autorität. Das Große veranlaßt mich (ja zwingt mich), dich wie eine Ziffer zu behandeln — ein nicht nennenswertes Teilchen der Massen, mit denen ich zu tun habe. Sie gibt mir das Recht, deiner lebenswarmem Einzigartigkeit ein abstraktes Verwaltungsverfahren überzubraten und mich dann mit einem Wall aus Formularen und Dienstvorschriften gegen die Folgen abzuschirmen. Wir werden unwirklich für einander, bloße Phantome, die in einem Nebel aus unpersönlichen Regeln und statistischen Formeln herumstolpern.

All das ist uns sattsam vertraut. Es ist der ganz gewöhnliche kafkaeske Alptraum des modernen industriellen Lebens, wie er überall durch unsere Literatur und Kunst geistert. Bis jetzt hat uns die Geschichte noch keinen Anlaß zu der Hoffnung gegeben — und das gilt auch für Gesellschaften, in denen das Profit-Motiv vom Tisch sozialisiert wurde —, daß große industrielle Operationen und Bürokratien jemals aufhören werden, alles zu massifizieren und zu klassifizieren. Kein Zweifel also, daß es richtig ist, dem Großen zu mißtrauen und nach Alternativen zu suchen. Ich möchte hinzufügen: Das Große ist notwendig antipersonal, aber das Kleine kann es auch sein. Das Kleine ist zwar notwendig, um die Rechte der Person zu schützen, aber es reicht noch nicht aus.

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  Ein Dialog zwischen Personen  

 

Was brauchen wir noch? Etwas, das nur von innen kommen kann, als Ausdruck intimer Unterweisung und planvoller innerer Entwicklung: ein Identitäts­gefühl, das jeden von uns zu einem einmaligen Ereignis im Universum macht, zu einem einmal geschaffenen und niemals wiederholbaren Zentrum der Originalität. Nur eine solche Kultur der Person wird uns lehren, daß wir nicht bloß Bruchstücke einer anonymen Masse sind, deren Bedürfnisse und Reaktion man en bloc vorausberechnen kann. Aus diesem Gefühl der Einmaligkeit gewinnen wir die Sensibilität, den ständigen Druck der Mystifikation wahrzunehmen, und die Kraft, ihm Widerstand zu leisten.

 

Dies dürfte die provozierendste politische Schlußfolgerung aus dem personalistischen Ansatz sein: daß die gute Gesellschaft nicht von oben nach unten gebaut werden kann, daß es unmöglich ist, humane Werte nach irgendwelchen großartigen institutionellen Entwürfen in Massen zu produzieren. Vielmehr sind wir aufgefordert, unser gesellschaftliches Leben als einen Dialog zwischen Personen zu sehen, und jede Person steht, wie Buber sagt, als "ein Schatz ewiger Möglichkeit" vor uns, der gehoben werden will. 

In der verwirklichten Kultur der Person wäre die Erfahrung radikaler Einmaligkeit das Geburtsrecht jedes Kindes und würde sich durch ein ganzes Leben des freien Wachstums fortsetzen — in Zuhause, Schule und Beruf. Doch dieses Ideal ist noch weit weg, und in der Zwischenzeit können wir nur improvisieren und uns irgendwie durchschlagen, müssen wir den Menschen jede mögliche Gelegenheit bieten, die Kräfte ihrer Initiative und Kreativität zu entdecken, ihre Tiefe und Fremdheit. Wir schaffen Raum für Selbstdarstellung und gemeinsame Erfahrung, für Alleinsein und Zurückgezogenheit. Wir nehmen Anteil und beraten; wir nehmen uns die Zeit und machen uns die Mühe, die Wirklichkeit persönlicher Erfahrung, die Unantastbarkeit der persönlichen Bestimmung zu bekräftigen. 

Institutionen haben dabei auch eine Rolle zu spielen, doch können sie nicht mehr tun, als Bestrebungen den Weg zu ebnen, die bewußt geworden sind. In diesem Sinn können wir von kleinen Institutionen einen wichtigen Beitrag zu einer Kultur der Person erwarten. Sie können ein fruchtbares Umfeld aus Nähe, Offenheit und Transparenz bilden, in dem es uns immer leichter fällt, einander als Personen anzuerkennen. Sie bieten uns den Raum, in dem wir einander im Dialog gegenübertreten, und geben uns damit die Chance, mit unserer eigenen Stimme zu sprechen und gehört zu werden. 

Aber die Erfahrung, daß wir tatsächlich eine eigene Stimme haben, müssen wir außerhalb des institutionellen Rahmens machen, müssen wir aus Quellen schöpfen, die keine offizielle Existenz haben können, die unangreifbar zwischen den formalen Strukturen der Gesellschaft schweben — ein flüssiges Medium sokratischen Forschens und therapeutischer Arbeit. Dazu wenden wir uns an Lehrer und Heiler, an Berater und situative Gefährten. Hier gewinnen wir das sicherste Mittel für Verteidigung unserer persönlichen Rechte: das Wissen, daß unsere Identität von innen kommt und uns nicht von außen auferlegt werden kann.

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Solche Schlußfolgerungen könnten manchem wie eine Binsenweisheit klingen — daß nur gute Menschen eine gute Gesellschaft bilden können. Ich möchte dieser simplen Wahrheit aber eine besondere Wendung geben, die etwas mit unserer spezifisch zeitgenössischen Empfindlichkeit für alle Mystifikation der gesellschaft­lichen Wirklichkeit zu tun hat, die sich als Institutionen, politische Strategien, Programme und öffentliche Autorität vor uns aufbauen, als eine Vielzahl verbaler und symbolischer Oberflächen, die auf Gehorsam pochen. Im Lauf der letzten hundert Jahre haben viele politische und intellektuelle Bewegungen an der Entlarvung der Lugen und Illusionen mitgewirkt, die die Beziehungen der Menschen in eine Wolke aus falschem Bewußtsein eingehüllt haben. 

Der Marxismus und die linken Ideologien haben das verschleierte Klasseninteresse aufgedeckt, das den kulturellen Überbau der Gesellschaft manipuliert. Von Freud und den Psychiatern haben wir vieles über die unheimliche heimliche Macht des Unbewußten über das private und öffentliche Leben erfahren. Die existentialistischen Philosophen haben uns gezeigt, mit welchen Schlichen sich die Leute vor ihrer Verantwortung drücken und ihre wahren Motive verschleiern. All das hat uns an einen entscheidenden Moment in der Geschichte herangeführt: Nie zuvor ist gesellschaftliche Macht und kulturelle Autorität so radikal und auf so breiter Basis entmystifiziert worden wie in den fortgeschrittenen Industriegesellschaften unserer Zeit; nie ist die Identität des Menschen so sehr zum Problem geworden. 

Gewiß, dadurch ist unsere Zeit zu einem <Zeitalter der Angst> geworden, und nichts garantiert uns, daß diese vom Zusammenbruch überkommener Glaubenssysteme erzeugte Angst die Menschen nicht entstellen und der bequemen Sicherheit des totalitären Kollektivismus in die Arme treiben wird. Aber es gibt auch die schöpferische Möglichkeit, mit der dieses Buch sich befaßt: daß sie sich nach innen wenden, um die ganze menschliche Persönlichkeit zu entdecken, die jetzt, nachdem die Sichtbarriere aus Institutionen und zugewiesenen Identitäten abzubröckeln beginnt, endlich erkennbar wird.

Nach innen — doch dieses nach innen könnte sich als eine politische Richtung erweisen. Während wir nämlich in uns selbst nach festem Boden suchen, öffnet sich eine Kluft zwischen uns und den Autoritäten, die Anerkennung und Gehorsam von uns erwarten. Ein Riß zeigt sich, wo eigentlich automatische und augenblickliche Zustimmung herrschen sollte. Durch diese Lücke bricht sich eine lebensbejahende Revolte Bahn. Herbert Marcuse nannte sie "die große Verweigerung" — die Menschen weigern sich, ihre eigene Entfremdung zu betreiben und sich der Tyrannei des Leistungsprinzips zu unterwerfen. Marcuse bringt diesen Protest allerdings mit jenem Narzißmus in Verbindung, der so oft als die Sünde des persönlichen Rückzugs angeprangert wird. Sein Blick reicht jedoch weit genug, um zu erkennen, daß es einen reifen Narzißmus gibt, der alles andere als ein "egoistischer Rückzug von der Wirklichkeit" ist; vielmehr könnte "der Narzißmus den Keim eines andersartigen Realitätsprinzips enthalten".*

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Der Mythos von Narziß läßt sich auch anders verstehen, nämlich als "Auflehnung gegen eine Kultur, die auf Mühsal, Herrschaft und Triebverzicht gegründet ist". Er ruft "die Erinnerung an eine Welt wach, die nicht bemeistert und beherrscht, sondern befreit werden sollte — eine Freiheit, die Kräfte des Eros entbinden würde, die jetzt noch in der unterdrückten und versteinerten Form des Menschen und der Natur gefesselt sind" (S. 163).

Wäre das Ethos der Selbstentdeckung nicht schon so tief in unsere Kultur eingedrungen, es hätte wenig Sinn, sich über solche erfreulichen Aussichten Gedanken zu machen. Der Prozeß der Entmystifizierung, der rings um unsere Identität eine qualvolle Leere erzeugt hat, bereitete den Weg; Therapeuten, Gurus, Berater, Psychische Helfer, Bewußtseinsagenten, Wachstumszentren und situative Netzwerke machen sich daran, das Vakuum zu füllen, das die Entmystifizierung hinterließ. Was sie als Selbstent­deckung anbieten, ist oft seicht und amateurhaft, repräsentiert aber trotzdem die Geburtswehen eines geschärften Personalitäts­bewußtseins. 

Der Hunger nach authentischer Identität ist da und will gestillt werden. Überlassen wir dieses Feld den Opportunisten zum Ausschlachten, dann wird aus diesem einmaligen Augenblick nichts Schöpferisches entstehen; er wird zu dem werden, was zynische Kritiker so beharrlich in ihm sehen wollen: Zu ebenso frivoler wie erbärmlicher Selbstüberhebung. Wenn das geschieht, so werden nicht die Scharlatane daran Schuld sein, sondern die fähigen Geister und die begabten Lehrer, die sich der spirituellen Bedürfnisse ihrer Zeit hätten annehmen können, sie aber nicht erkannten, als sie in gammeliger Kleidung und ohne akademische Vorbildung, ohne literarische Neigungen und ohne den richtigen intellektuellen Zungenschlag an sie herantraten.

Der Zugang zum Problem des Maßes, den ich hier empfehle, beginnt mit der Erkenntnis, daß wir nicht in erster Linie zwischen groß und klein zu wählen haben, sondern zwischen einer von Mystifikationen beherrschten Gesellschaft und einer Gesellschaft, die für Selbstentdeckung offen ist. Beginnen wir also nicht mit institutionellen Entwürfen, sondern mit der lebendigen Erfahrung unserer Personalität; suchen wir nach Möglichkeiten, das Ethos der Selbstentdeckung zu verbreiten und überall neue Gelegenheiten zu sinnvollem persönlichem Wachstum zu schaffen: Menschen, die Personen geworden sind, werden sich Institutionen mit menschlichem Gesicht je nach Bedarf selber aufbauen können. Sie werden ihr Recht auf eigene Verantwortung und Originalität durchzusetzen wissen. Sie werden dem Leben eine Gangart und einen Rhythmus geben, die auch Zurück­gezogenheit, stille Selbsterforschung, Spiel und freie Kreativität zulassen. Sie werden auf der vollen Anerkennung ihrer besonderen Bedürfnisse und Begabungen bestehen.

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Die Rechte der Person werden für das Selbstverständnis der Menschen eine ebensogroße Bedeutung gewinnen wie die Bürgerrechte; sie werden zu einem neuen Stil politischer Agitation und Aktion anregen; sie werden alle Institutionen durchsetzen und dabei überall das gleiche Grundmuster verwirklichen — das menschliche Maß der Dinge.

Für die zwanghaft geschäftigen Industriegesellschaften, deren Menschen sich so sehr daran gewöhnt haben, ihre Energie und ihren Witz in aggressives, nach außen gerichtetes Handeln umzumünzen — Eroberungen, Erfindungen, Produktivität, Beherrschung der Natur —, ist es gewiß nicht leicht, sich mit diesem kulturellen Wandlungsprozeß auseinanderzusetzen. Doch aus einer breiteren, planetaren Perspektive gesehen, ist solch eine Verschiebung des Bewußtseins vielleicht nur der kompensatorische Rückschwung in einem kulturellen und ökologischen Zyklus, der sich jetzt einfach rundet und uns von außen nach innen, vom Aktiven zum Kontemplativen, aus der Entfremdung zur Wiedervereinigung trägt. 

Wenn diese Ausgleichsbewegung immer mehr Menschen erfaßt, wird sie vielleicht von einem allgemeinen Gefühl der Erleichterung und Entspannung begleitet — das Ende einer langen, unnatürlichen Durststrecke. Im Endeffekt zielt diese Bewegung darauf ab, die Begriffe Wachstum und Entwicklung dem ökonomischen Bereich wieder abzugewinnen und zu Qualitäten des inneren Lebens zu machen. Und das geschieht ja tatsächlich im heutigen psychotherapeutischen Denken, das psychische Gesundheit als die Fähigkeit zu wachsen definiert, während die Grenzen des ökonomischen Wachstums gerade in Sicht kommen.

 

In den Augen all derer, die immer noch für die urban-industrielle Herrschaft sind — und ich zweifle nicht daran, daß sie auf einen breiten öffentlichen Konsens zurückgreifen können —, muß diese neue Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf das innere Selbst nicht nur ziemlich unerfreulich, sondern sogar eine Bedrohung sein. Zweifellos wird hier gerade jene Technologie und jener Unternehmergeist aufs Korn genommen, den sie für unsere beste Hoffnung auf universale Freiheit und Menschenwürde halten. Aus ihrer Sicht gibt es nur eine Art, jedem Menschen ein volles Leben zu ermöglichen: unermüdlich auf dem steilen Pfad des ökonomischen Fortschritts voranstürmen, bis das Ziel des Überflusses für alle erreicht ist. Niemand kann die humanitäre Absicht bestreiten, die hinter diesem Weltbild steht: Armut und Unterdrückung für alle Zeiten vom Füllhorn der Industrie verdrängt. Doch die Ökonomie hat viel mehr innere Widersprüche, als wir bisher zu erkennen bereit waren — vor allem wenn wir ökologische Wechselwirkungen in die Rechnung einbeziehen. 

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Erst jetzt bemerken wir allmählich, daß eben die Kräfte, die den erstaunlichen Mittelklassen­wohlstand der westlichen Welt hervorgebracht haben — ich meine das hemmungslose Wirtschaftswachstum und den entfesselten Einfallsreichtum der Unternehmer und Techniker —, über ihr Ziel hinausschießen können, um uns dann in ein neues Zeitalter der Not und Barbarei zu stürzen, das alles bisher Dagewesene in den Schatten stellt. Nachdem wir das Geheimnis der expandierenden Wirtschaft gefunden haben, müssen wir jetzt lernen, daß ein schrankenloser Expansionstrieb uns nur über eine geschlossene Kreisbahn zum Regiment des Mangels zurückführt.

Solange wir am urban-industriellen Weltbild festhalten, können Armut und die mit ihr einhergehende Ungerechtigkeit nur zeitweilig und partiell gelindert werden — mal da für ein begünstigtes Land, mal dort für eine privilegierte Klasse. Solange die Industriestadt, die nur herrschen und ausbeuten will, die Erde in ihrer imperialistischen Umklammerung hält, werden die sozialen Übel, die wir reformieren wollen, an uns haften bleiben. Denn sehr bald werden die Reserven des Planeten von den maßlosen Luxusansprüchen der Städte erschöpft sein, und dann werden selbst die reichsten Gesellschaften am Rande der Verelendung stehen, die noch jede Zivilisation in Krieg, Sklaverei, Imperialismus und Klassenherrschaft getrieben hat. 

Bevor wir nicht die Personalität der Erde respektieren, werden wir nie eine Welt haben, in der die Personalität des Menschen sicher aufgehoben ist. Solange wir den Planeten und alles, was ihm angehört wie ein Proletariat ohne Bürgerrechte behandeln, wird auch das ausgebeutete menschliche Proletariat bestehen bleiben. Dann wird es immer eine Unterschicht von Unterdrückten geben — wenn nicht in den reichen Nationen, dann außerhalb ihrer Grenzen in der hungernden Dritten Welt, die immer tiefer in einen Zustand permanenter Armut versinkt, weil ihre Arbeitskraft und ihre Reserven von der unersättlichen Gier der fortgeschrittenen Industrie­gesellschaften einfach verschluckt werden.

Die Alternative zu diesen finsteren Aussichten besteht darin, eine neue Art von Größe zu finden, in die wir unsere besten Kräfte investieren können: die Größe des Innern, die weder die Person noch den Planeten unterdrückt, sondern beide von der Entfremdung und Ausbeutung befreit, die bisher alle unsere Hoffnungen auf Fortschritt zunichte gemacht haben. Und das beginnt im Kernland der urban-industriellen Kultur — bei den Bewohnern des Weltreichs der Städte, deren Verschwendung und Praßsucht die schwerste Belastung der globalen Ökologie sind. 

Wir müssen begreifen, daß die Rechte der Person, die in uns danach schreien, endlich Geltung zu bekommen, der Anfang einer Ökonomie der Beständigkeit sind, die alle ausreichend versorgen kann. Die Größe der Städte, der Fabriken, des technologischen Apparats, des Bruttosozialprodukts darf nicht länger das Wichtigste sein, sondern die Größe unseres Lebens — unsere Fähigkeit zur Selbsterkenntnis. Was sich in uns danach sehnt, groß zu sein, unermeßlich, ist das Abenteuer der Selbstentdeckung. Je größer das wird, desto leichter wird die menschliche Gesellschaft für die Erde tragbar sein.*

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   Die Politik des persönlichen Wachstums  

 

Personalistische Wertvorstellungen erfordern gesellschaftliche Veränderungen. Vieles von dem, was ich in diesem Buch geschrieben habe, war der Versuch zu umreißen, welche politischen Implikationen das Projekt der Selbstentdeckung hat. Nämlich: eine weniger urbanisierte Welt, die weniger von den Zwängen industrieller Produktivität beherrscht wird, dafür aber mehr Platz für kleine, lokale Vorhaben und für persönliche und partizipative Beziehungen in Regierung und Wirtschaft bietet. All denen, die das große Potential, das in den Rechten der Person liegt, nicht sehen können oder wollen und deshalb nach dem totalen gesellschaftlichen Engagement rufen, das keinen Raum für spirituelle Entwicklung mehr lassen würde, habe ich genug erwidert. 

Ich kann jedoch nicht schließen, ohne einen Appell an die zu richten, die mit mir auf der Seite des personalistischen Ethos stehen. Es bleibt zu konstatieren, daß nichts an der urban-industriellen Gesellschaft sich durch bloße Diffusion der hier angesprochenen psychischen und spirituellen Bedürfnisse automatisch ändern wird. Vielleicht werden wir tatsächlich erleben, wie die großen urban-industriellen Einrichtungen ins Stocken geraten und verfallen, wenn die Basis, die sie jetzt noch in den Menschen und in der Umwelt finden, schließlich zerbröckelt; vielleicht wird die Erde sie im Zorn niederschlagen. Aber das wird keine schöpferische Auflösung sein, sondern eine globale Katastrophe, in deren Sog auch alle Chancen verlorengehen, die sich aus der Selbstentdeckung ergeben könnten.

 

Wenn persönliche Bedrängnis und ökologische Krise ernst genug werden, können sie ganze Gesellschaften ins Chaos treiben; und die kopflose Reaktion auf eine Kombination aus 'Ökospasmus' und psychischer Malaise könnte auf eine Version des Totalitarismus hinauslaufen, wie sie Orwell in 1984 voraussagteine Technokratie der Ruinen, die sich auf Terror und politischen Aberglauben gründet. Es gibt schon genügend Anzeichen für diese grausige Möglichkeit. Wir brauchen uns nur die autoritären Kulte anzusehen, zu denen die Menschen hinströmen, wenn sie die Qualen der Identitätskrise und die ökonomische Unsicherheit nicht mehr ertragen.  

Den zugewiesenen Platz im Leben zu verlieren, kann ebenso erschreckend wie befreiend sein; wir gewinnen dabei eine anspruchsvolle Freiheit, die nicht jeden zu autonomer Selbstverwirklichung führt. Für manchen endet die Erfahrung in bereitwilliger Unterwerfung unter irgendeine Form des spirituellen oder therapeutischen Faschismus. Geben wir ruhig zu, daß es davon erschreckend viel gibt: falsche Heilsbringer, ausbeuterische Gurus, psychiatrische Unternehmer, die die Leicht­gläubigkeit gequälter Seelen ausnutzen, um große Gefolgschaften zu versammeln, große Organisationen aufzubauen, großes Geld zu machen. Solche Verbrechen am Menschengeist sind das Spiegelbild all der großen und tyrannischen Strukturen unserer modernen Welt, die jetzt zu einer Bedrohung der Person und des Planeten geworden sind.

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Wo die menschliche Identität radikal in Zweifel gezogen wird, wandeln wir auf Messers Schneide zwischen der vollen Freiheit verwirklichter Personalität und der trügerischen Sicherheit einer neuen kollektiven Versklavung.

Wenn das Ethos der Selbstentdeckung eine wahrhaft personalistische Lebensordnung anstrebt, so wird es dabei planvoll, ideenreich und mutig zu Werk gehen müssen. Es wird sich einen eigenen politischen Stil suchen müssen, der seine besondere Sensibilität respektiert und doch die Kraft zu Widerstand und Herausforderung besitzt, die Kraft, einen radikalen Wandel einzuleiten und die Verantwortung für die revolutionären Implikationen befreiter Personalität zu tragen. 

Es gibt nicht viele politische Instrumente, die diesem Zweck dienen könnten. Mehrheitspolitik, Parteien, legislatives Manövrieren, konspirative und terroristische Taktiken, Massenbewegungen, propagand­istische Manipulation — sie alle sind Erbe der Vergangenheit und daher ganz mit individualistischen und kollektivistischen Wertvorstellungen durchtränkt. Sie werden sich nicht ohne weiteres einer Politik der Person anpassen, und man kann ihnen auch nicht gerade nachsagen, daß sie den Bedürfnissen der planetaren Ökologie entgegenkommen.

 

Bis jetzt haben die personalistischen Instinkte unserer Zeit allenfalls durch den erfolgreichen Protest mancher situativer Gruppierungen einen begrenzten und sporadischen politischen Einfluß ausgeübt. Die Resultate waren beachtlich. Frauen, ethnische Minderheiten, Homosexuelle, Alte und Behinderte haben wichtige Fragen aufgeworfen — öffentliche Schlachten wurden gewonnen und haben das soziale System gelockert. Ich bin sogar der Meinung, daß auch solche Erfahrungen der Selbst­entdeckung eine politische Relevanz haben, zu denen die Menschen sich in die stillen Zwischenräume der Welt zurück­ziehen. 

Anders als manche ungeduldige Kritiker und breitspurige Radikale möchte ich diese scheinbar apolitischen Zwischenspiele nicht vorschnell als narzißtisch oder eskapistisch verdammen. Ich sehe in ihnen die Saatzeit einer neuen Kultur. Und selbst der Verlust an Gefolgschaft und Energie, den solch ein Rückzug mit sich bringt, trägt vielleicht mehr, als wir auf den ersten Blick wahrnehmen, zu einer Schwächung des Systems und einer Verlangsamung seines ökologischen Todeskurses bei.

 

Doch das genügt nicht. An einem bestimmten Punkt — und ich glaube, er ist erreicht — müssen wir alle, die das Abenteuer der Selbstentdeckung kennen­gelernt haben, uns direkt und entschlossen unseren gemein­schaftlichen Verantwortungen stellen, auch wenn unsere persönliche Suche noch andauert. Denn was wir in uns als die sich klärende Sehnsucht der Person erfahren, ist der dringende Hilferuf der Erde. Die richtige Reaktion auf diesen Ruf ist eine Verkleinerung der Strukturen und Institutionen, die die lebendige Vielfalt des Planeten bedrohen: das Übel benennen, bekämpfen und ausmerzen. 

Insbesondere müssen wir offen erklären, daß in einer Welt von Personen kein Platz ist für monopolistische und multinationale Konzerne, für die wahnwitzige Mittelklassen-Konsum-Religion, für völkermordende Militärapparate, für weitere urbane Expansion, für Staatssozialismus, für aufgeblähte öffentliche und private Bürokratie, für techno­kratische Politik. 

Die Erklärung muß mit unserem Stil übereinstimmen, sie muß unsere ureigene Art politischen Verhaltens sein, das sich etwa an der Arbeitsweise kooperativer Netzwerke orientieren könnte: Entscheidungen werden durch spontanen Konsens, gefällt, ohne Führer, offen, gewaltlos; nur Überzeug­ungskraft und sanfte Stärke dürfen ins Spiel gebracht werden, denn die Gegenseite soll nicht nieder­getrampelt, sondern gewonnen werden, das institutionelle Material soll nicht einfach vernichtet, sondern wiederverwertet werden. 

Diese Erklärung muß abgegeben werden, denn niemand kann sich auf Dauer vor der erdrückenden Last der urban-industriellen Herrschaft in Ashrams, Wachstumszentren, Lamaklöstern und Landkommunen, in therapeut­ischen Gruppen oder mönchischen Einsiedeleien verstecken. Früher oder später wird das städtische Imperium in unsere Einsamkeit eindringen, alle Schutzmauern durchbrechen und uns lebendig verschlingen. Keine Einöde ist so entlegen, keine Ecke der Welt so privat, daß die Erde uns nicht erreicht, um uns mit dem Gestank der Luft, die wir atmen, dem Gift in unserem Wasser, dem Dunst, der Sonne, Mond und Sterne verschleiert, an ihre Leiden zu erinnern und an all das menschliche Elend, das mit dieser Häßlichkeit einhergeht.

Ich glaube, daß immer mehr Menschen die Notwendigkeit einer Politik der Person spüren. In früheren Kapiteln und in den nach­folgenden Anmerkungen nenne ich Ansätze, die mit Einfühlungs­vermögen und Fantasie auf dieses Ziel hinarbeiten — von den französischen Personalisten der dreißiger Jahre bis hin zu der Bewegung für einfaches Leben in der religiösen Gemeinschaft des heutigen Amerika. 

Aus all den Beispielen kann ich nicht schlüssig ableiten, wie das Gleichgewicht zwischen der Stille persönlichen Suchens und dem Lärm politischer Aktion herzustellen ist. Ich weiß aber, daß wir diesen Ausgleich schaffen müssen. Die Bewegungen nach außen und nach innen, gesellschaftliches Engagement und kontemplatives Forschen, müssen in einem harmonischen Lebensmuster oder Energierhythmus in Einklang gebracht werden. Nur so können wir unsere Personalität um die notwendige gemeinschaftliche Dimension erweitern und dem Abenteuer der Selbstentdeckung dahin folgen, wohin es letztlich zielt: auf die Rettung des Planeten.

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 Ende

 

 

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  Roszak 1978