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Theorieszene und Meinungsmarkt  

Schwanitz-1999

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Als die Religion in der Moderne endgültig ins Koma fiel, traten »Weltanschauungen« an ihre Stelle. Das waren umfassende Welterklärungs­modelle, die ursprünglich vor allem in den Werkstätten der Philosophie zusammen­gezimmert wurden; aber im Laufe der Zeit produzierten auch die Einzel­wissenschaften große Entwürfe mit Welterklärungsanspruch. Sie wurden mit Begriffen bezeichnet, die auf -ismus enden, wie Liberalismus, Marxismus, Darwinismus, Vitalismus etc.

Dahinter standen sogenannte Schulen von Intellektuellen, die so etwas wie Denkgemeinschaften, Meinungsclubs, Weltbildgangs, Welt­anschau­ungszirkel, Konventikel von Glaubensbrüdern, ideologische Zellen und Über­zeugungs­vereine bildeten. Als kleinster gemeinsamer Nenner für die Mischung aus Philosophie, Ideologie und Wissenschaft hat sich der Begriff »Theorie« durchgesetzt.

Die Theorieszene ist heute ein Meinungsmarkt mit schwankenden Wechselkursen. Über ihn herrscht dieselbe Göttin wie über andere Märkte auch: die Göttin der Mode. Die Mode lebt von der häufigen Innovation durch Abweichung vom Bestehenden: Sie verschafft deshalb dem Frühstarter Vorteile - er ist dann auf dem laufenden, er geht mit der Zeit, er überholt alle anderen und hat das Vergnügen zu erleben, wie sie ihn einzuholen trachten.

Es gibt also Theorien, die »in« sind, und solche, die »out« sind. Es gibt Etikettenschwindel und Imitation von Markenartikeln, unlauteren Wettbewerb und Billigangebote, Nostalgien, Recyclingwellen, Räumungsverkauf und Ramsch; es gibt Booms und Depressionen, Pleiten und Aufschwünge. 

Um sich da zurechtzufinden, braucht man einen Marktüberblick. Man muß die Firmen kennen, die Seriosität der Anbieter auf dem Theoriesektor, die Aktienkurse, die Preise, die Profitmargen, die Zulieferer und den Publikumsgeschmack. Und man muß eine Nase für Theorietrends haben.

   Der allgemeine Ideologieverdacht   

Im folgenden soll ein Überblick über die Anbieter mit ein paar Tips zur Orientierung verbunden werden. Zunächst einmal: Die Mode hat auf dem Theorie­markt so schnell Fuß fassen können, weil die Theorien selbst schon auf Konkurrenz hin angelegt sind. Machen wir uns das noch mal anhand des Marxismus klar (==> Marx und Kant).

Der Marxismus enthält eine Theorie über das Bewußtsein seines Gegners: Es ist notwendig falsch, weil seine Klassenlage ihn dazu konditioniert, als Kapitalist zu denken. Bewußtsein ist also nur Maskierung von Interessen. Das ist auch beim Marxisten so, aber sein Interesse ist identisch mit dem der Menschheit selbst. Deshalb ist sein Bewußtsein das richtige.

Das hat eine furchtbare Konsequenz zur Folge: Es gibt kein unschuldiges Bewußtsein mehr. Bewußtsein ist moralisch oder unmoralisch. Wer das falsche Bewußtsein hat, macht sich schuldig. Das macht Aufklärung zur heiligen Pflicht. Sie wurde Ideologiekritik genannt, weil im dialektischen Marxismus Ideologie immer falsches Bewußtsein ist (nach eigenem Verständnis war also der Marxismus keine Ideologie). 

In dieser Lage entwickelte fast jede Theorie eine Abteilung für allgemeine Verdächtigung aller anderen Theorien. Die Theorien waren sozusagen von Geburt an polemisch. Jede Theorie entdeckte bei der anderen latente (verdeckte) Strukturen, auf die hin sie sie relativieren konnte. Die Konkurrenz der Theorien untereinander wurde zum Spiel »Ich sehe was, das du nicht siehst, und das sind die Strukturen hinter deinem Rücken, die dein Denken konditionieren«.

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   Marxismus  

Die größte Durchsetzungskraft am Markt hatten die Theorien, deren Verdachtsabteilungen am besten funktionierten: Lange Zeit, genaugenommen seit 1968, hatte der Marxismus auf dem Theoriemarkt in Deutschland eine beherrschende Stellung, weil er im Bereich des Ideologieverdachts unschlagbar war. Seine Stärke kann man daran ermessen, daß seine Kurse auch dann immer noch unverändert hoch notiert wurden, als unüber­sehbar wurde, daß er in der real existierenden Wirklichkeit eine Katastrophe anrichtete.

Allerdings muß man zugeben, daß er auch im Bereich »Sinngebung« eine sehr breite Angebotspalette hatte. Jeder Kunde wurde mit einem grandiosen Szenario beliefert, in dem er eine heroische Rolle spielen konnte. Und da das Angebot vor allem Intellektuelle ansprach, die ihre Sinnbedürfnisse durch eifrige Missionstätigkeit befriedigen, sorgte der Marxismus durch Verkaufserfolge wieder für seine eigene Verbreitung bei gleichzeitiger Verdächtigung des Gegners.

Nach dem Zusammenbruch des real-existierenden Sozialismus kam es aber zu einer unübersehbaren Krise. Da sich der Marxismus bisher gegenüber Widerlegungen in der Realität als immun erwiesen hatte, war das nicht vorher­sehbar. Aber nun ist er out. Ob er sich wieder erholt, ist schwer zu sagen. Vielleicht nicht in der alten Form, und wahrscheinlich wird es Radikalisierungen, Sektenbildung und theoretische Metamorphosen (Verwand­lungen) geben. Im Augenblick sind selbst die besten Marktbeobachter zurückhaltend.

 

    Liberalismus 

Als Gewinner des real-existierenden Bankrotts des Marxismus gilt im allgemeinen der Liberalismus. Er hat in Deutschland fast keine einheimischen Wurzeln, und seine geistigen Väter sind sämtlich Engländer: John Locke (==>Locke), Adam Smith und John Stuart Mill (==>Bücher, die die Welt verändert haben). In allen englisch sprechenden Ländern gelten sie praktisch als Nationalheilige. Welches sind die Kerngedanken des Liberalismus?

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Der höchste Wert ist die Freiheit des Individuums. Deshalb wurden die liberalen Meisterdenker zu Erfindern der Menschenrechte, des demokratischen Verfassungs­staats, der Machtkontrolle durch Gewaltenteilung und der Vorstellung vom Eigentum als dem Garanten der Unabhängigkeit des Individuums gegenüber dem Staat.

Ferner hat der Liberalismus in der Ökonomie die Vorstellung verbreitet, daß die freie Entfaltung des wirtschaftlichen Egoismus dem Wohl aller diene, denn was beim einzelnen wie Raffgier aussehe, werde durch die Zauberkraft des Marktes (durch die unsichtbare Hand) in einen Beitrag zur wirtschaftlichen Harmonie im Dienste der Produktivität verwandelt (die Theorie wurde in England als Paradoxie von »private vices and public benefits« - private Laster und öffentlicher Nutzen — bekannt). Und deshalb dürfe man das freie Spiel der ökonomischen Kräfte nicht durch staatliche Eingriffe stören. Die Gesetze von Angebot und Nachfrage würden alles zum besten regeln.

Es war vor allem diese Theorie, die vom Marxismus als Ideologie, also als Bemäntelung kapitalistischer Interessen, entlarvt wurde. Und tatsächlich hat sich der reine Wirtschaftsliberalismus nirgendwo ohne staatliche Eingriffe zum Schutze der Armen durchhalten lassen.

Nun hat der Liberalismus ein paradoxes Schicksal erlitten. In den westlichen Demokratien war er so erfolgreich, daß er zum Gemeingut aller geworden ist: Deshalb sind die liberalen Parteien an ihrem eigenen Erfolg zugrundegegangen und in der Regel von den Sozialdemokraten beerbt worden.

Andererseits hat der Liberalismus in Deutschland nie, wie in den westlichen Demokratien, die entscheidende Rolle gespielt. Deshalb gibt es in Deutschland immer noch Nachholbedarf. Die Vorstellung vom Eigentum als dem Garanten der Unabhängigkeit des einzelnen und als Motivquelle für sein staatsbürgerliches Engagement ist hierzulande nie heimisch geworden. Der liberale Grundsatz, »Behandle einen Menschen immer als Individuum und nie als Teil einer Gruppe«, wird durch den Exzeß von Quotierungen und den Parteienfilz ständig verletzt, ohne daß sich irgendjemand darüber aufregt. Er ist eben nicht ins politische Unterbewußtsein eingedrungen. Und obwohl der Marxismus out ist, hat seine antiliberale Verdächtigungsabteilung überlebt: Vom Liberalismus wird nur der Wirtschaftsliberalismus gesehen. Die Tradition des Bürgerhumanismus, in dem sich Bildungsbewegung und politisches Engagement verbanden, ist hierzulande kaum bekannt und wird deshalb gleich mitverdächtigt.


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   Kommunitarismus  

Nun ist der liberale Traum vom gebildeten Menschen tatsächlich nur ein Traum: Bildung wird dabei als das Vermögen des Individuums verstanden, die Gesellschaft durch die Komplexität seiner Persön­lichkeit noch einmal in sich abzubilden und damit aus sich heraus die moralische Bindung zu entwickeln, die die Gesellschaft zusammenhält. 

Das hat sich als frommer Wunsch erwiesen. Überläßt man die Gesellschaft sich selbst, droht sie in vielen Sektoren zu verwahrlosen (siehe Kriminalität, Slums, Ghettobildung, Vereinsamung etc.). Deshalb hat man sich in Amerika auf die sozialisierende Funktion kleiner Gemeinschaften besonnen (Community, daher Kommunitarismus) und lobt deren erzieherische Wirkung. Man denkt dabei an Nachbarschaften, Dörfer und religiöse Gemeinden. 

Hillary Clinton hat ein kommunitaristisches Buch mit dem Titel <It Takes a Village> geschrieben, bei dem man den Titel ergänzen muß zu: »to educate a child«. Man huldigt also einer Rhetorik, in der der überindividuellen engen Gemeinschaft Priorität (Vorrang) vor dem einzelnen eingeräumt wird.

In Amerika mit seiner starken liberalen Tradition ist das unverdächtig. In Deutschland aber mit seinem schwindsüchtigen Liberalismus knüpft es an anrüchige Traditionen an: Sowohl die Sozialisten als auch die Konservativen hatten die Gemeinschaft immer schon gegen die Gesellschaft (der Individuen) ausgespielt und darüber das Ausscheren aus der Gemeinschaft verdächtig gemacht. Das hatte den Konformismus beflügelt und die Abweichung bestraft. Schließlich hatten die Nazis die Gemeinschaft zur Volksgemeinschaft überhöht und jedes Ausscheren als Verrat verfolgt.

Obwohl also Deutschland sehr viel stärkere kommunitaristische Traditionen hat als Amerika, müssen diese — weil sie rechts sind — heute noch nach Amerika exportiert, dort zwischengelagert, umetikettiert und re-importiert werden, um als intellektuelle Handelsware hierzulande zugelassen zu werden. 


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Andererseits herrscht aber eine ausgesprochene Nachfrage nach kommunitaristischen Theorien. Sie haben nämlich die Marktlücke besetzt, die der Bankrott des Sozialismus hinterlassen hat. Ob sie sie halten können, hängt davon ab, ob aus den Trümmern des Marxismus-Konzerns wieder neue vitale Theorie­firmen entstehen, die eine aggressive Politik am Markt verfolgen. An sich ist der Kommunitarismus eine relativ weiche Theorie, d.h. nicht, daß er nicht stimmt oder schlecht ist, sondern daß er am Markt nicht sehr aggressiv auftritt.

    Psychoanalyse  

Was der Marxismus für die Gesellschaft, ist die Psychoanalyse für das Individuum: Sie hat eine Theorie der Entwicklung mit Sündenfall (statt Spaltung in Klassen - Abspaltung der Neurose), ein revolutionäres Programm (statt Befreiung des Proletariats durch Revolution - Befreiung des Unbewußten durch Therapie) und eine äußerst starke Verdachtsabteilung (statt Entlarvung von Ideologien - Demaskierung von Verdrängungen). 

Dem Klassenschema von Bürgertum, Proletariat und Aristokratie entspricht die Aufteilung der Psyche in Ich, Unbewußtes und Über-Ich. So wie sich das Bürgertum über seine Beteiligung am Elend des Proletariats selbst hinwegtäuschte, so verdrängte das Ich (mit Hilfe des Über-Ichs) das Schmutzige, Peinliche, Unbewußte. Und so wie die Kommunisten in den Betrieben wühlten und im Untergrund konspirierten, so rumorte das Unbewußte und demaskierte die offiziellen Verlautbarungen des Ich im Witz oder tanzte auf den Straßen im Karneval des Traums. Dagegen setzte das Ich die Polizei der Verdrängung ein und unterwarf die revolutionären Aufrufe des Unbewußten der Zensur. 

Freud schilderte die Psyche so wie die zeitgenössischen Sozialisten den kapitalistischen Polizeistaat.

Deshalb konnte die Psychoanalyse auch ohne weiteres eine Symbiose mit dem Marxismus eingehen: Das geschah in der sogenannten Frankfurter Schule oder bei einzelnen Theoretikern in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen: 

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Wilhelm Reich, Erich Fromm, Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Herbert Marcuse. In dieser Mixtur hatte der Psycho-Marxismus nach '68 fast eine beherrschende Stellung am Markt erobert, wobei die beiden Verdachtsabteilungen des Freudianismus und des Marxismus ihre Kräfte durch Bündelung vervielfachten:

Jede Theorie und jede Meinung konnte von da an nicht nur als kapitalistische Ideologie, sondern auch als orales Symptom, als Ausfluß einer ödipalen Verdrängung oder als Maskierung des Wunsches, mit der eigenen Großmutter zu schlafen, demaskiert werden. 

Der Psychodiskurs teilte sich in den Diskurs der Selbsterfahrung und den Diskurs der Verdächtigung der anderen. Die gesamte Verständigungs­kultur der Gesellschaft überzog sich mit dem Schimmelpilz des Verdachts. Jeder sah bei dem anderen die Gründe, warum dieser sich selbst nicht durchschauen konnte: Verdrängungen, Traumatisierungen, Neurosen, Blockierungen, Komplexe. 

Das erklärte die Verständigungskatastrophen, die man in diesem Diskurs selbst produzierte. Wer will sich schon darüber verständigen, daß er sich selbst nicht durchschaut und eine Macke hat? Darauf reagiert man mit Abwehr, weil man sich nicht ernstgenommen und als verantwortliche Person behandelt fühlt. Aber damit bestätigt man wieder den Verdacht, alles zu verdrängen. 

Die Psychoanalyse hatte also noch ein anderes Erfolgsrezept am Markt als der Marxismus: Sie schaffte selbst die Probleme, als deren Lösung sie sich verkaufte. Das machte den Markt unersättlich. Je mehr Psychoanalyse sich verbreitete, desto mehr Nachschub war nötig. Es war wie bei einem Getränk, das Durst macht: eine Art sich selbst reproduzierendes Bedürfnis, kurzum, eine Droge. In ihrer sozialen Funktion können also die Psychoanalytiker mit einer Drogenmafia verglichen werden: Sie schaffen das Bedürfnis, das sie dann zur Quelle ihrer Einkünfte machen.

Trotz einer gewissen Übersättigung des Marktes hat die Psychoanalyse den Bankrott des älteren sozialistischen Partners überlebt, ja, vielleicht sogar davon profitiert, indem sie einige neue Kunden eingefangen hat. Das Fundament dieser lange andauernden Partnerschaft war das gemeinsame hegelsche Erbe (==»-Hegel). Hegel hatte die Geschichte in der Form des Bildungsromans eines Individuums erzählt. 

Das Entwicklungsmodell (hier Gesellschaft, dort Individuum) war in beiden Fällen dasselbe. Und deshalb konnten sich Marx und Freud zu einem Joint-venture verbinden.

Eine Tochter allerdings ist diesem Joint-venture entsprungen: der Feminismus. Dabei wurde der Klassenkampf durch den Geschlechterkampf ersetzt; und Freuds Theorie der Verdrängung wurde selbst als Verdrängung des Mißbrauchs entlarvt. Aber damit das geschehen konnte, mußte der Theorie-Cocktail noch durch andere Bestandteile angereichert werden.

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   Faschismus und Faschismusverdacht - ein vermintes Gelände   

Genaugenommen wurde der Faschismus von Mussolini erfunden (==> Geschichte; der Begriff Faschismus leitet sich von fasces = Liktorenbündel, ein römisches Hoheitszeichen, ab). Um den Anklang an das Wort Sozialismus zu vermeiden, wurde die sowjetische Sprachregelung, die den Begriff Nationalsozialismus durch den Begriff Faschismus ersetzt hatte, auch in der westdeutschen Linken durchgedrückt. Wir akzeptieren die Konventionen, meinen aber mit Faschismus den deutschen Nationalsozialismus. Was also waren die Ingredienzen des Faschismus?  

Wenn man von den offensichtlichen Inhalten wie Antisemitismus und dergleichen einmal absieht, setzt das alle angrenzenden Theoriezonen dem Faschismusverdacht aus. Verdächtig sind u.a.:

Umgekehrt hat man auch Zonen der Unsensibilität geschaffen, indem man rechtes Gedankengut als links umetikettiert hat.

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Auf jeden Fall ist dieser ganze Bereich ein vermintes Gelände, auf dem man sich vorsichtig bewegen muß. Wer sich darin auskennt, hat dann allerdings den Vorteil, andere dem Faschismusverdacht aussetzen zu können.

   Die Frankfurter Schule - Kritische Theorie   

Als <Frankfurter Schule> bezeichnet man eine Gruppe von Theoretikern aus dem Frankfurter Institut für Sozialforschung, die während der Nazizeit nach Amerika emigrierten, sich dort in zwei Gruppen aufspalteten, von denen die eine nach dem Krieg wieder zurückkehrte, um das Institut in Frankfurt neu zu begründen. Die Rückkehrer hießen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno; unter denen, die in Amerika blieben, war der einflußreichste Herbert Marcuse.

Es waren diese drei, die mehr als irgendeine andere Gruppe von Theoretikern - wenn man die Meisterdenker Marx und Freud einmal ausnimmt - die Studentenrevolte von 1968 inspirierten.

Das Bizarre dabei ist, daß sich Adorno und Marcuse diametral widersprachen. Adornos Thema war ein vertrackter Zusammenhang, den man ich vielleicht am besten klarmachen kann, wenn man auf einen englischen Zeitgenossen von Marx blickt: den Schriftsteller Charles Dickens (==>Literatur, Oliver Twist). 

Das England von 1850 war erfüllt vom Geist der Reform. Die Reformer bezogen ihre Programme von den liberalen Meisterdenkern Jeremy Bentham, James Mill und John Stuart Mill (==>Intelligenz, Begabung etc.). 

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Viele ihrer Vorschläge - etwa zur Einrichtung von Arbeitshäusern, zur Gefängnisreform, zur Gesundheits-Überwachung, zur Kriminalitäts­bekämpfung und zur Inspektion ganzer Bevölkerungsgruppen im Dienste der Schulbildung oder Seuchenbekämpfung - führten zum Aufbau einer rationalen Planungsbürokratie, die die Menschen um des Fortschritts willen einem entwürdigenden Zwang aussetzten. 

Auch Dickens war für Reformen, aber er protestierte gegen solche Reformen, indem er in seinen Romanen die Arbeitshäuser (Oliver Twist), die Schulen (Nicholas Nickleby), die Gefängnisse (Little Dorit) und die Bürokratie (Bleak House) etc. als wahre Höllen darstellte, in denen brutale Tyrannen die Verwaltungs­vorschriften dazu ausnutzten, unschuldige Kinder und Frauen zu quälen. 

Dickens hatte kein Alternativkonzept, sondern protestierte im Namen des Gefühls und der Menschlichkeit gegen die Entmündigung der Menschen durch die kaltherzig-rationale und entwürdigende Tyrannei der modernen Verwaltung. In seinen Augen hatte der Fortschritt die Menschen nicht befreit, sondern noch stärker versklavt.

Just das war auch Adornos Position als Theoretiker des Faschismus. An sich war der Faschismus irrational, und so ruhte ursprünglich die Hoffnung der Antifaschisten auf der Rationalität der Aufklärung. Aber in der Disziplinierung des Menschen durch Armee, Fabrik und moderne Verwaltung verbündete sich die Rationalität mit der irrationalsten Gewalt. Es war so, als ob die Polizei zu den Gangstern übergelaufen wäre. Die Aufklärung war zum Komplizen der finstersten Barbarei geworden. Deshalb nannten Horkheimer und Adorno eins ihrer wichtigsten Bücher <Die Dialektik der Aufklärung>. Ihren deutlichsten Ausdruck hatte diese Verflechtung von Irrationalität, mythischer Gewalt und modernster Rationalität in der Todesfabrik von Auschwitz gefunden.

Für Adorno hatte diese Verflechtung unsere gesamte moderne Kultur, unsere Sprache und unsere Symbolsysteme durchdrungen. Sie war ein Verhängnis, aus dem es kein Entrinnen gab, eine universale Mystifikation und ein totaler Verblendungszusammenhang, den es zu enträtseln galt. Deshalb inspirierte Adorno vor allem Germanisten, die den Faschismus dann in den Texten wiederfinden konnten, aber sonst nichts zu tun brauchten. Denn die direkte politische Aktion der Studenten hat Adorno nicht unterstützt. Aus diesem Grunde wurde er selbst zum Adressaten von Protesten, die bei ihm — wie manche behaupten — 1969 einen tödlichen Herzanfall auslösten.


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Marcuse optierte für den entgegengesetzten Weg und inspirierte die studentischen Aktionen. Für ihn war der Spätkapitalismus darin dem Faschismus ähnlich, daß sie beide die sozialen Konflikte ruhigstellten und die Gesellschaft integrierten: Was der faschistische Staat aber nur mit Gewalt und Terror bewerkstelligte, das gelang dem Spätkapitalismus durch die universale Bewußtseinsmanipulation der Kulturindustrie (hier berührt sich Marcuse mit Adorno).

Diese Bewußtseinsverkürzung verschleierte vor allem die Einsicht, daß die Akkumulation der ungeheuren Reichtümer im Spätkapitalismus schon jetzt die Befreiung zum allgemeinen Glück ermöglichte. Deshalb schrieb Marcuse die Rolle des revolutionären Subjekts (des Handlungsträgers der Revolution) denjenigen zu, die noch nicht in den allgemeinen Verdummungszusammenhang integriert waren, weil sie noch zu jung und noch nicht fertig ausgebildet waren: den Studenten. Die Schwachstelle des Systems war also da, wo die Integration ins System erfolgte: im Erziehungssystem. Für Marcuse war die Rolle des Katalysators (Auslösers) der Revolution von den Arbeitern zu den Studenten gewandert.

In ihrer Wirkung auf die Studentenbewegung ergänzen Adorno und Marcuse einander. Mit Adorno ließ sich alles als Faschismus entlarven, mit Marcuse konnte man sofort aus ihm ausbrechen. Der höchste Notstand rechtfertigte die höchste Dringlichkeit. Mit Adorno blickte man zurück auf die deutsche Vergangenheit und blieb fixiert auf Auschwitz; mit Marcuse blickte man tatendurstig in die Zukunft, beseelt vom Optimismus des Reichtums. Der Rückkehrer Adorno verkörperte die deutsche Melancholie, der in San Diego lehrende Marcuse repräsentierte den amerikanischen Optimismus, mit dem sich die junge Generation von ihren Eltern absetzte. 

Andererseits wurde aber die Sprache einer ganzen Generation von Adorno geprägt. Weil sie sich überall auf den universalen Verblendungs­zusammenhang bezog, war sie zugleich unverständlich und suggestiv. In ihr wurde ständig das Verhängnis beschworen. Mit ihrem labyrinthischen Satzbau gewann sie etwas Priesterlich-Rätselhaftes, etwas Kultisches und Narkotisches. 


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Ihre interessante Unverständlichkeit teilte das Publikum in Eingeweihte und Außenseiter. Das löste in den Außenseitern eine Nachahmungsepidemie aus, weil sie alle in den Besitz des Zauberschlüssels der universalen Enträtselung gelangen wollten. So lag auch hier die Attraktivität der Sprache in der Entlarvung des »Latenten« und »Verborgenen«, des »Verdrängten« und »Unterdrückten«, zumal die Kritische Theorie (Lehre der Frankfurter Schule) Marxismus und Psychoanalyse verschmolz. 

Mit dieser Optik wurde alles verrätselt. Das Lieblingswort der Zeit hieß »verschleiert«. Alles erhielt jetzt eine doppelte Bedeutung, eine »latente« und eine »manifeste«, eine offenbare und eine verborgene, eine unmittelbare und eine andere, die sich wie bei einem Kunstwerk aus dem Bezug zum Ganzen erschloß (sie hieß dann »vermittelt«).

Die Gesellschaft wurde zu einem Kriminalroman, und die Anhänger der Kritischen Theorie verwandelten sich in Detektive. Und weil man in einem Kunstwerk steckte, war jedes Detail, das nicht stimmte, als Zeichen dafür zu deuten, daß das Ganze schon das Falsche war. Ein zentraler Satz Adornos lautete: »Es gibt kein richtiges Leben im falschen.« Ein Satz, bei dem man ins Grübeln kommt.

Der Adorno-Schüler Jürgen Habermas hat die Tradition der Frankfurter Schule dann eigenständig weitergeführt, indem er die Bedingungen idealer Kommunikation erforschte und sie zur transzendentalen Voraussetzung demokratischer Verständigung erhob (==»Kant). Darin kam er der wirklichen Funktion der Frankfurter Schule in der bundesdeutschen Geschichte recht nahe: nämlich der der Geburtshilfe bei der Entstehung einer kritischen Öffentlichkeit. 

Zugleich hat die narkotische Prosa Adornos die Sprache einer ganzen Generation verdorben, so daß sie nur als Jargon weiterlebte. Sie hat die Hirne so benebelt, daß der Unterschied zwischen faschistischem Terror und kapitalistischer Bewußtseinsverkürzung so verschwamm wie der zwischen bürgerlicher Demokratie und totalitärer Herrschaft. Damit hat er die politische Urteilskraft einer ganzen Generation ernsthaft beschädigt.

Die Sprache der Kritischen Theorie ist »mega-out«. An ihr erkennt man die alten 68er. Freilich sitzen diese in vielen Chefsesseln des Kulturbetriebs; und wer da hinein möchte, sollte den Frankfurter Dialekt lernen.


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   Diskurstheorie - Kulturalismus   

Die Diskurstheorie ist fast die alleinige Schöpfung eines einzelnen Mannes: des Franzosen Michel Foucault. Sein Ausgangspunkt ist ganz ähnlich wie der Adornos. Und darin gleicht er auch Charles Dickens: Ihn interessiert die Modernisierung als Prozeß der Disziplinierung. So untersucht er die Geschichte der Institutionen, die auch Dickens beschreibt: Kliniken, Irrenhäuser, Gefängnisse etc. Aber seine Aufmerksamkeit gilt nicht allein der Analyse der Zwangs­apparatur selbst und ihrer Ordnung, sondern den zugehörigen »Diskursen«, in denen definiert wird, was das ist: ein Irrer, ein Krimineller, ein Kranker, ein pathologischer Fall.

Mit anderen Worten: Foucault untersucht die Sprache der Disziplinen, die über die Definitionshoheit dessen, was ein Mensch ist, verfügen. Das sind Sprachen der Bürokratie, Sprachen der Wissenschaft, Sprachen der Medizin, Sprachen der Psychologie, kurzum: Sprachen der Macht. Sie beschreiben nicht, sondern sie bestimmen; sie legen fest und definieren. So wie Kant das mit dem Begriff »transzendental« gemeint hat, schreiben sie vor, d.h. sie konstituieren; sie schaffen Kranke, Irre und Kriminelle. Wie Petrus haben sie die Macht, den einzelnen aus dem Himmel der Gesellschaft auszuschließen und die Bedingungen festzulegen, unter denen er eingeschlossen wird: Rechtsfähigkeit, Verantwortlichkeit, Zurechnungsfähigkeit, Bildung, Ausbildung, Diszipliniertheit, Ordentlichkeit etc.

Foucault geht es also wie Adorno um die Verquickung von Sprache und Macht. Die Herrschaftssysteme der Sprache, die wie Staatsgebiete durch Grenzen als Hoheitszonen kenntlich gemacht sind, nennt Foucault Diskurse. Sein Verfahren besteht dabei aus einer Art Luftbildarchäologie. Die Diskurse selbst sind unterirdisch, und um sie freizulegen, muß man die Oberfläche des normalen Geredes wegräumen und sie ausgraben. Aber um ihre Struktur überhaupt zu finden und zu erkennen, muß man einen ungeheuren Überblick gewinnen, und das kann man nur aus der Distanz.

Die Diskurstheorie ist »in«. Aber um zu verstehen wieso, sollte man die beiden nächsten Stichworte lesen, weil da zwei Verwandte der Diskurstheorie genannt werden.


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   Der Dekonstruktivismus  

Auch der Dekonstruktivismus ist die Schöpfung eines einzelnen Mannes: des Franzosen Jacques Derrida. Um es vorwegzunehmen: Er startet anderswo als Foucault, aber landet so nahe bei ihm, daß aus ihrer Vermischung die Grundlagentheorie des Feminismus und des Multikulturalismus gewonnen werden kann.

Derridas Bezugsproblem ist einigermaßen schwierig und seine Sprache praktisch unverständlich. Deshalb fangen wir mit einem rätselhaften, aber lachhaften Satz an, der von dem Gothaer Professor Galletti stammen soll: »Das Schwein trägt seinen Namen zu Recht, denn es ist wirklich ein sehr unsauberes Tier.«

Was läßt uns dabei stutzen? Es ist die Unterstellung, daß die Lautfolge »Schwein« schon das Wesen der Unsauberkeit ausdrückt. Tatsächlich ist sie aber ganz willkürlich, und nichts an ihr drückt das Wesen des Schweinischen aus. Ein Schwein heißt nicht Schwein, weil das Wort treffend das Wesen dieses Tieres bezeichnet, sondern damit wir es nicht mit dem Wort »Schein« oder »Schwan« verwechseln. An sich spräche nämlich nichts dagegen, den weißen Vogel Schwein zu nennen und das Rüsseltier Schwan: Dann würde man von »Schweinensee«, von »Leda und dem Schwein«, dem »Schloß Neuschweinstein« und dem »Schwein von Avon« sprechen.

Merkwürdigerweise hat die Entdeckung, daß die Lautfolge eines Wortes völlig willkürlich ist und mit der Bedeutung nichts zu tun hat, sehr lange auf sich warten lassen. Sie wurde erst von dem Begründer der modernen Linguistik gemacht, dem Schweizer Ferdinand de Saussure. Seitdem unterscheiden wir zwischen dem Signifikanten - das ist die Lautfolge, also der materielle Träger der Bedeutung - und dem Signifikat als dem Bedeuteten, also dem inneren Abbild im Geist von Hörer und Sprecher.


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Die Tatsache, daß diese Entdeckung so spät gemacht wurde, ist Derridas Ausgangsproblem. Um diese Verspätung zu erklären, verweist er auf die Erfindung der phonetischen Schrift (Lautschrift). Sie ist für ihn die Voraussetzung der abendländischen Philosophie. In der phonetischen Schrift schiebt sich nicht mehr, wie in China oder Ägypten, ein eigenständiges Zeichen zwischen den Sprecher und das gesprochene Wort. Statt dessen wird das Zeichen auf das Lautbild hin transparent (durchsichtig). Das weckt die akustische Täuschung, daß der Sinn eines Wortes »unmittelbar« anwesend ist. Es unterschlägt die Differenz zwischen Bedeutendem und Bedeutung, weil es das Zeichen als Zeichen unsichtbar macht. Man meint, direkt auf die Bedeutung zu blicken. Das ist der Grund, daß man den Signifikanten als vom Signifikat getrennten Sonderposten so lange übersehen hat. Man hat eben immer so gedacht wie Professor Galletti. 

Derrida glaubt nun, daß diese »akustischeTäuschung« das ganze westliche Denken geprägt hat. Da es durch die Illusion von der unmittelbaren Anwesenheit des Logos (der Bedeutung) gekennzeichnet ist, spricht Derrida von Logozentrismus. Weil dieses logozentrische Denken »Anwesenheit« in den Mittelpunkt stellt, macht es die dritte Person Singular Präsens - das »ist« - zur privilegierten Aussage von der Wahrheit (und nicht etwa »wir waren« oder »du wirst sein«). Vor allem aber: der Logozentrismus unterschlägt die Selbständigkeit des Signifikanten, indem er ihn als unwichtig hinstellt und auf einen sekundären Posten verbannt.

Diese primäre Asymmetrie (Schlagseite) setzt sich fort in einer Serie von Gegenbegriffen, bei der immer eine Seite höher bewertet wird als die andere: etwa Geist/Materie, Mann/Frau, Idee/Gegenstand, Form/ Inhalt, Wesen/Erscheinung, Original/Kopie, aktiv/passiv, Geben/Nehmen, Kultur/Natur etc. Diese asymmetrischen Gegenbegriffe organisieren die symbolische Ordnung unserer Kultur und bestimmen, was Sinn ist. Unser abendländisches Verständnis von Sinn setzt also die Unterdrückung von Teilen unseres Zeichensystems voraus, die bei der Herstellung von Bedeutung eine gleichberechtigte Rolle spielen. Mit anderen Worten: Sinn ist Herrschaft. Die Verdrängung findet schon immer im Zeichensystem statt.


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In den Texten der Literatur kommt es nun zur Wiederkehr des Verdrängten. Die Textinterpretation kann dem nachhelfen, indem sie durch ein Verfahren den verschütteten Seiten der Gegenbegriffe wieder zu ihrem Recht verhilft und sie unter der offiziellen Sinnoberfläche hervorzerrt. Dieses Verfahren nennt Derrida Dekonstruktion. Es ist eine Art Karneval des Sinns, in dem man alles umdreht und eine umgekehrte Herrschaft errichtet, dann aber diese Herrschaft zugunsten der Einsicht abschafft, daß Zeichen und Bezeichnetes, Körper und Geist und Frau und Mann gleichberechtigt sind. Und hiermit landen wir in der Nähe Foucaults.

Weil beide, Derrida und Foucault, die Systeme symbolischer Ordnung als subtile, aber allgegenwärtige Repressionsinstrumente (Unterdrückungsinstrumente) verstehen, sind ihre Analysen besonders in den Kultur- und Literatur­wissenschaften populär geworden. Unter ihrem Einfluß hat sich Gesellschaftskritik in Kritik an den kulturellen Symbolsystemen verwandelt. Und weil die meisten Frauen, die studieren, geisteswissenschaftliche Fächer belegen, wurden hier die Waffen des Feminismus geschmiedet. Diskurstheorie und Dekonstruktion sind deshalb »in«. Dabei hat der Jargon Derridas in der Literaturwissenschaft den Jargon Adornos abgelöst. In der Konkurrenz der Unverständlichkeit schlägt er ihn aber um Längen.

     Feminismus und Multikulturalismus   

Derrida bezeichnet die europäische Kultur nicht nur als logozentrisch, also rational, sondern auch als phallokratisch, also männlich. Die Asymmetrie bei den Gegenbegriffen Signifikant (Zeichen) / Signifikat (Bedeutung) findet sich wieder in der Asymmetrie Frau/Mann. Sie drückt sich sprachlich darin aus, daß der Mann als Grundmodell des Menschen gesehen wird und die Frau als Abweichung wie in Bauer/Bäuerin, Politiker/Politikerin etc. (==>Schöpfungsgeschichte).

Entsprechend hat die abendländische Kultur sowohl die anderen Kulturen symbolisch enteignet als auch die Kultur der Weiblichkeit kolonisiert. Von dieser Warte aus parallelisieren die Feministinnen nun die Kultur der Femininität mit den Kulturen von Dritte-Welt-Ländern und stilisieren sich selbst als kulturelle Minderheit.

Ihre Revolte besteht deshalb aus einer Eroberung der Diskurse durch Symbolpolitik. Dabei zwingen sie die Gesellschaft, sich nach einer neuen feministischen Etikette zu richten. Vor allem werden häßliche, diskriminierende Ausdrücke durch eine Art semantisches Lourdes geheilt und in schöne Ausdrücke verwandelt; man sagt nicht mehr »klein«, sondern »vertikal herausgefordert«, nicht mehr »doof«, sondern »andersbegabt«. Außerdem wird Gleichberechtigung der Geschlechter hergestellt: neben den Killer tritt die Killerin.

   Politische Korrektheit  

Der Sozialismus ist also nach seinem Zusammenbruch von einem Kulturalismus beerbt worden, der Diskurstheorie, Dekonstruktion und Feminismus gleichermaßen kennzeichnet. Der Marxismus arbeitete noch mit einer Relativierung des Gegners durch den Nachweis von dessen falschem Bewußtsein. Die kulturalistischen Theorien dagegen sind schon ihre eigenen Programme:

Da sie von den Symbolsystemen als verkappten Herrschafts­instrumenten handeln, geht es ihnen um die Eroberung der Diskurse durch eine Form der moralischen Nötigung. Dem kommt entgegen, daß die alte Linke mit ihrem geschichts­philosophischen Programm auch das Kriterium für die Unterscheidung zwischen sich selbst und ihren Gegnern verloren hat: »Wir repräsentieren die Zukunft, sind also die Progressiven; die andern sind die Vertreter der Vergangenheit, also die Reaktionäre.« 

Statt dessen griff man auf eine moralische Differenz zurück: »Wir sind die Guten, die andern sind die Bösen.« Das führt zur Moralisierung des Meinungs­marktes durch semantische Schaukämpfe und Kampagnen: Ein falsches Wort in der Öffentlichkeit, und schon bist du reif für die Vorführung vor dem Wohlfahrts­ausschuß.

Das Rauschen der Diskurse wird begleitet von den Verhören der Ketzerprozesse und den Bußpredigten der Priester, die eine wahre Anschuldigungs­industrie unterhalten, um die Altäre der politischen Korrektheit mit dem Blut der Schlachtopfer rotzufärben. Mit anderen Worten: Der Meinungsmarkt ist selbst ein Schlachtfeld geworden. Man kann falsch und richtig liegen, man muß also vorsichtig sein. Zur Orientierung gibt es beleuchtete Warnschilder mit Aufschriften wie:

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Theorieszene und Meinungsmarkt, Schwanitz-1999