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1.3 - Politik am Ende

Taxacher-2012

 

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Die neue Konfrontation mit der Natur bedeutet für die Gesellschaft und ihre Selbststeuerung - also für die Politik - eine Herausforderung, auf die sie nicht eingestellt ist. Die Menschheit hat nie eingeübt, die Rück­meldungen der Natur als den primären »gegnerischen« Faktor bei ihrem Handeln einzukalkulieren. Politik hat sich - mit wie viel Recht auch immer - für den maßgeblichen Faktor gehalten, der »Geschichte macht«.

Die Regeln dieses Geschichte-Machens haben sich über Jahrtausende kulturell herausgebildet. Immer wieder modifiziert, sind politische Grundkategorien wie Interesse, Macht, Sicherheit, Gleichgewicht, Konkurrenz, Ausgleich, Kompromiss uralt. Sie alle rechnen mit dem Menschen als Partner und Gegner des Menschen und bündeln Erfahrungen des Umgangs mit ihm.

Auch die einschneidenden Erfahrungen des 20. Jahrhunderts - zwei Weltkriege, Diktaturen als Supermächte, schließlich die Drohung eines weiteren Weltkriegs apokalyptischen Ausmaßes - haben die Definitionen der eben genannten politischen Grundkategorien nicht wirklich aus den Angeln gehoben. Selbst in den Krisen des Kalten Krieges zwischen den hochgerüsteten Supermächten zählten noch, wenn auch in neuen Formen, die alten Rituale: Abschreckung und vertrauensbildende Maßnahmen, Kompromisse und die Möglichkeit, das Gesicht zu wahren.

Allerdings wussten die Beobachter schon, dass die Technik eine neue Qualität in die Politik brachte. Das lehrte bereits der Schock der Materialschlachten des Ersten Weltkriegs, und durch die Atomrüstung wurde dieses Bewusstsein allgegenwärtig. Auch nach dem Ende des Kalten Krieges kann die »Menschheit ihre voratomare Unschuld nicht wiedergewinnen«.(101, Zulehner) Und doch verdeckte die Drohung des atomaren Selbstmordes der Menschheit lange die gleichzeitig schon anwachsende, andersartige Bedrohung.

Auch die Bombe war eine Technik in Händen der Politik, die eingesetzt werden konnte oder nicht. Über die Katastrophe oder ihr Ausbleiben entschieden also menschliche, politische Faktoren. Gleichzeitig jedoch arbeitete das auch diese Waffen produzierende System an einer Katastrophe, die kein Gipfeltreffen mehr absagen konnte.

Die neue Situation blieb durch die vordergründige Bedrohung verborgen und war dennoch ...

»noch beunruhigender als die Aussicht auf die von Menschenhand herbeigeführte Katastrophe eines Atomkriegs.... Denn ein sowjetisch-amerikanischer Atomkrieg war vermeidbar gewesen und sollte, wie sich schließlich herausstellte, auch vermieden werden. Den Auswüchsen des wissenschaftlich geförderten Wirtschafts­wachstums war hingegen nicht so einfach zu entkommen.«(102, Hobsbawm)

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  Der tote Winkel des politischen Blicks 

Politik ist gewohnt, plötzliche unausweichliche Probleme aus dem Weg zu räumen. Je allmählicher und schleichender sich Probleme aufbauen, desto verzögerter reagiert sie. Nun ist die ökologische Katastrophe im Gefolge der Industrialisierung ein sich aufbauendes Szenario über Generationen. »Bis heute tut sich die Menschheit mit den praktischen Konsequenzen aus der Neuartigkeit ihrer Umwelt-Situation schwer: Es ist eine Reaktionsträgheit, die mit Blick auf die vergangenen Jahrtausende nicht verwundert.«(103, Radkau)

Denn unsere Wahrnehmungs- und Reaktionsweisen sind althergebracht, die Situation ist neu und dennoch nicht als solche erkannt: »Die Verantwortlichen in der Politik neigen dazu, die Welt, wie wir sie kennen, als Bezugs­rahmen für ihr Handeln zu nehmen. Das führt dazu, die Dinge, wie wir sie beobachten und erfahren - den Zustand permanenter Störungen also ... als >normal< anzusehen. Tatsächlich stellt die derzeitige Situation, unter ökolog­ischen Gesichtspunkten betrachtet, eine extreme Abweichung von jeglichen dauerhaften >normaleren< Zuständen der Welt dar. Das gilt für den Zeitrahmen der Menschheitsgeschichte und sogar für den der Erdgeschichte.«(104,McNeill) Aber wessen Vergleichshorizont die Zeit vor und nach einer Legislaturperiode ist, nimmt solche Dimensionen nicht als handlungsrelevant wahr.

Obwohl es seit den 1970er Jahren das Ressort Umweltpolitik und in Philosophie und Theologie die Umweltethik gibt, wird immer noch keine wirklich neue Antwort auf die neue Qualität der Herausforderung praktiziert. Umwelt­politik und -ethik wirken eher als neue Instrumente zur Erhaltung der alten Verhältnisse. Die Theoretiker üben sich in Güterabwägung, die Politik veranstaltet Umweltgipfel und schließt Verträge zum Weltklima. Verhandelt werden dabei weiterhin die unterschiedlichen Interessen der beteiligten Staaten und Gruppen, so als sei die ökologische Katastrophe Verhandlungssache, als könnten die Mächtigen ihr Ausmaß unter sich ausmachen. Interessenausgleich und Kompromisse stellen aber die Ruhe höchstens auf der politischen Ebene her. Die Natur reagiert nicht darauf.

»Das Ganze nennt sich <Regieren durch Krisenmanagement>. Aber die Krisen verschärfen sich und werden immer unerträglicher.... Wird reagiert und nicht gehandelt, so besteht ständig die Gefahr, dass man das Nichtwieder­gutzumachende geschehen lässt«, schrieb Francois de Closets bereits 1970.(105)

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So ist die Geschichte der Umweltpolitik eine andauernde Geschichte von Enttäuschungen und verpassten Gelegenheiten. Wer weiß schon, dass der so genannte »Treibhauseffekt« bereits Ende des 19. Jahrhunderts erkannt - und immerhin 1965 von US-Präsident Lyndon B. Johnson anerkannt wurde? (106; nach Dyer, Schlachtfeld, S.194, wikipedia  Lyndon_B._Johnson *1908)  Das hinderte einen späteren Nachfolger Johnsons bekanntlich nicht, den Zusammenhang wieder zu leugnen. [GWBush]

1968 veranstaltete die UNESCO eine internationale Konferenz zur Erhaltung der Biosphäre, 1972 fand die erste UN-Umweltkonferenz in Stockholm statt(107), zwanzig Jahre später (1992) der Umweltgipfel von Rio.

Im Kampf gegen die drohende Klimakatastrophe setzte die EU 1996 fest, der globale Temperaturmittelwert solle das vorindustrielle Niveau nicht um mehr als zwei Grad übersteigen.108 Das ist ein politischer Grenzwert, der an die Maastricht-Kriterien der EU zur Geldwertstabilität erinnert: Er gilt, obwohl er von der Mehrheit der Mitgliedstaaten andauernd überschritten wird. Nach dem Kyoto-Protokoll, das 1997 solche Grenzwerte global erreichen sollte, galt Jahre lang die Blockadehaltung der US-Regierung unter George W. Bush als Hindernis auf dem Weg zur Wende. Dann kam Barack Obama, und der Klimagipfel von Kopenhagen 2009 scheiterte schlimmer als seine Vorgänger. Inzwischen erreichte der Ausstoß von Treibhausgasen im Jahr 2010 einen neuen Rekordwert109, und auch die Klimakonferenz von Durban im Dezember 2011 beschloss kein wirksames Gegenmittel.

Die Folge ist klar: »Wir werden die Termine nicht einhalten können, wie sie die Realität uns vorgibt, und mit physikalischen Gegebenheiten kann man nicht verhandeln.«(110) Die Natur, auf die sich umweltpolitisches Handeln eigentlich bezieht, sitzt an keinem Verhandlungstisch, lässt sich auf keine Fristen ein und auf kein Stillhalteabkommen. Unsere politische Situation kennzeichnet geradezu, dass sie diese im Grunde banale Erkenntnis nicht wirklich begreift. Das deutet auf eine strukturelle Überforderung oder Verweigerung hin. Eine sachgerechte Reaktion auf das Szenario, das Ökologen und Klimaforscher schildern, müsste in einer radikalen Verlagerung politischer und ökonomischer Prioritäten bestehen.

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Das wird heute im wissenschaftlich-analytischen Bereich breit vertreten. Sagt man es aber im politischen Raum, setzt man sich dem Verdacht des Öko-Fundamentalismus, der Realitätsferne aus. Deshalb haben auch »grüne« Parteien, wo sie mitregieren, den »ökologischen Umbau« meist nur noch im Grundsatzprogramm stehen. - »Nirgends sind kompromisslose Sofortprogramme in Sicht; sie zu fordern wird als utopisch gebrandmarkt.«(111, Fuller)

Wenn aber politisch als irrational gilt, was Wissenschaftler für eine rationale Schlussfolgerung halten, dann steht man vor einem wohl nur systemtheoretisch beschreibbaren Dilemma: Die Selbsterhaltungstendenz des politischen wie des ökonomischen Systems bedroht die des ökologischen.

Tatsächlich beruht gerade demokratische und friedliche Politik auf dem Kompromiss. Die ökologischen Verhältnisse ziehen aber »Freiheit, Autonomie und Gestaltung« eine »unerbittliche Grenze«.(112) Die Rück­meldungen der Natur lassen sich nicht ein wenig verschieben, weil gerade die Finanzkrise wichtiger erscheint. Trotzdem spricht auch der an die »unerbittliche Grenze« mahnende Umweltethiker, wenn es denn um die politische Umsetzung seiner Maxime geht, von dem berüchtigten »Kompromiss zwischen Ökonomie und Ökologie«.(113)

Die Formulierung ist in sich unlogisch: Die Ökonomie ist ein von Menschen gemachtes, geschichtlich gewordenes System. Die Ökologie beschreibt die gültigen Regelkreise in der natürlichen Umwelt. Zwischen beiden Bereichen kann man keine Kompromisse schließen. Faktisch schließt man Kompromisse nur zwischen den gegenwärtigen ökonomischen Zielen und Wünschen einerseits und den wünschbaren menschlichen Lebens­verhältnissen in der Zukunft andererseits. Mit anderen Worten: In dem Maß, in dem der Kompromiss zugunsten der bestehenden Ökonomie ausgeht, schädigt man die künftigen Generationen, ökologisch und damit natürlich auch ökonomisch.

 

   Krise der Rationalität   

»Der Irrsinn ist bei Einzelnen etwas Seltenes - aber bei Gruppen, Parteien, Völkern, Zeiten die Regel«, schrieb Friedrich Nietzsche.(114) Diese Beobachtung scheint sich beim politischen und gesellschaftlichen Umgang mit der ökologischen Krise zu bestätigen.

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Sie erhält angesichts der »Naturgesetze als Gegner« sogar eine besondere, gesteigerte Bedeutung: Ein subjektiv betont rationales Handeln wird im Gesamtzusammenhang irrational, ja »Irrsinn«. Dies gilt jedenfalls - d.h. mindestens - für die unsere westlichen Industrienationen prägende und von hier aus global exportierte neuzeitliche Rationalität, die Ratio des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts, die Vernunft der Planung, der Kalkulation.

Ob das Paradox dieser ins Irrationale umschlagenden Rationalität tiefer in der menschlichen Vernunft verankert ist, ob gar »unser Denken aufgrund der evolutiven Bedingungen seiner Entstehung prinzipiell außerstande ist, vernetzte Strukturen sich vorstellen zu können«115, sei hier dahingestellt. Es genügt die Beobachtung des linearen Charakters moderner Ratio: Sie ist eine handelnde, setzende Vernunft, zutiefst geprägt von einer pragmatischen Teleologie. Denken dient der Ziel-Erreichung, Wissen ist Macht. Akte werden gesetzt nach der Maßgabe, mit möglichst geringem Aufwand eine möglichst genau berechnete und möglichst große erwünschte Wirkung zu erzielen. Moderne Gesellschaften sind geprägt von einer »Generalisierung der technischen Rationalität«116: Sie beherrscht nicht nur die Bereiche der Politik und Ökonomie, sie prägt auch das private Verhalten. Deshalb entwickeln sich die Individuen zu »Ich-AGs«, betreiben Zeitmanagement in der Freizeit und gestalten ihre Beziehungen als »Win-Win-Situationen«.

Kennzeichnend für diese Rationalität ist »das Prinzip der funktionalen Isolation. Irgendein Plan, ein Projekt kommt uns als sinnvoll, nützlich und aus irgendeinem Grund als notwendig vor, - dann ist alles weitere scheinbar nur noch eine Frage der Bereitstellung der geeigneten Mittel, um dieses Ziel zu erreichen.«117 In dieser Projektrationalität wird schließlich alles verwirklicht, was technisch möglich ist: Das Machbare ist das Gesollte und damit auch schon das Unvermeidliche.(118)

Deshalb stehen Technologie-Kritiker meist auf so lächerlich verlorenem Posten: Selbst wenn weite und informierte Kreise ihre Bedenken teilen, ist der Widerstand gegen etwas schon Erfundenes und Mögliches faktisch ein Rückzugsgefecht. Technologiefolgenabschätzung in der von Projektrationalität geprägten Gesellschaft führt in der Regel dazu, Technik durch noch mehr Technik in Schach zu halten, - nicht dazu, auf ein Projekt zu verzichten.

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Angesichts der ökologischen Krise ist auch diese Rationalität in die Krise geraten: Die »Kritik der planenden Vernunft« (Friedrich H. Tenbruck, 1972) am »naiven und maßlos überzogenen Vertrauen auf die menschliche Vernunft« schlägt teilweise sogar in »das exzessive Misstrauen gegen die Vernunft« um.(119) Tatsächlich liegt das Problem nicht im Rationalen als solchem, sondern in der Blindheit gegenüber den eigenen Grenzen bzw. in der Selbstüberschätzung angesichts der ökologischen Zusammenhänge.

Unsere Weltgestaltung ist auf eine planbare Zukunft ausgerichtet, verengt deren Möglichkeiten dadurch aber immer mehr. Die Zukunft darf sozusagen um ihrer selbst willen immer weniger unerwartet sein, immer weniger überraschen - obwohl das ihr ursprünglicher Charakter ist. »Um Zukunft willen vernichten wir alles, was der Zukunft selbst eine Chance ließe.« Indem wir »Wirtschaft, Gesellschaft, Staat, Einzelbewusstsein auf die Vorwegnahme von Zukunft hin organisieren«, laufen wir Gefahr, »dass wir Schluss machen mit der Zukunft, indem wir sie erstürmen.«120

Der projektrationale Umgang mit der ökologischen Krise gleicht der Taktik, den Teufel durch Beelzebub auszutreiben. Um den Klimawandel zu stoppen, unternimmt man ernsthaft Experimente mit der Düngung des Ozeans: Mehr Algen könnten mehr Kohlendioxid speichern. In den 1980er Jahren reagierten Technokraten auf die ökologische Krise mit der Hoffnung auf »eine technische Herstellung eines künstlichen Ökologie­gleich­gewichts,... letztlich bis zur Manipulation der Wasserkreisläufe und des Erdklimas«.121

Lomborg hofft auf ein »Geo-Engineering«, das auch das »Einspeisen von Sulfatpartikeln in die Stratosphäre« beinhalten würde.122 Auch skeptischere Geister wollen solche Maßnahmen als ultima ratio in Erwägung ziehen, wenn die politischen Maßnahmen zur Eindämmung des Treibhauseffektes absehbar nicht fruchten.123 Für die Projektrationalität ist die Fortsetzung ihres Weges auch in ihrem Scheitern der einzig gangbare Weg: »Statt von nachhaltiger Entwicklung spricht man nun vom Plan B(124;Grober) Der soll der Erde eine Art Riesen-Klimaanlage verpassen, an der wir dann je nach Bedürfnis die Regler hoch- oder runterschalten. Unüber­schaubare Eingriffe in Großsysteme sollen so die Probleme lösen, die durch unüberschaubare Einträge in Großsysteme ausgelöst wurden. Und wenn später die Ozeane umkippen, wird uns schon wieder etwas einfallen.

Angesichts dieser heillosen Spirale wünscht sich mancher rührend naiv »ein Moratorium unserer Aktivitäten bzw. eine historische Pause zum Nachdenken.«(125;Drewermann) Aber die bekommen wir nicht.

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   Ratio des Ökonomismus  

Die Selbstblindheit dieser Rationalität beginnt gerade damit, dass sie sich selbst als neutrales Instrument missversteht. In Wirklichkeit ist die moderne Projekt-Rationalität das Instrument in den Händen eines erfolg­reichen Egoismus. Sie hat sich herausgebildet in einer Gesellschaft, der das Prinzip des »survival of the fittest« zum Fortschrittsmotor wurde. Kapitalismus und Liberalismus haben dies auch ausdrücklich so formuliert: Das planvolle, möglichst rationale, also durch keine Mitleidsmoral getrübte Streben der Einzelnen nach einem Höchstmaß an Erfolg werde im Gesamtergebnis auch den größten Erfolg des Kollektivs mit sich bringen. Konkurrenz, Wettbewerb, weder von Staat oder Kirche, noch vom Gewissen regulierter Egoismus werde auf Dauer selbst die Verlierer bereichern. Die Vernunft verwirklicht sich durch den Egoismus der Einzelnen, die jeder für sich vernünftig handeln.

Diese Rationalität nennt Adam Smith, Urvater des Liberalismus, die »unsichtbare Hand«, die Idealisten nennen es »unbewusste Notwendigkeit« (Schelling) oder »List der Vernunft« (Hegel).126 Daraus gerann das Glaubens­bekenntnis der heutigen Neoliberalen: »Der Markt selbst ist das Wirkliche und also das Vernünftige schlechthin.«127 Joseph Vogl und Christoph Fleischmann haben gezeigt, dass diese »Oikodizee«128 seit der Aufklärung die alte Theodizee ersetzt hat: Statt wie Leibnitz Gott zu rechtfertigen, der trotz allem Übel die beste aller möglichen Welten erschaffen habe, wird nun alles faktische ökonomische Geschehen gerechtfertigt durch seine unumstößliche innere Rationalität, selbst wenn die über Leichen geht.129

Was uns als vernünftiges Handeln gilt, ist zutiefst von dieser Sozialphilosophie geprägt. Ihre Ideologisierung ist selbst schon Ausdruck einer gesellschaftlichen Realität, die sich gegen innere Widerstände seit dem spät­mittelalterlichen Frühkapitalismus mehr und mehr durchgesetzt hat.130

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Dessen Entstehung lässt sich gut an der Ersetzung des biblischen und deshalb lange Zeit auch noch kirchlichen Zinsverbots durch eine ganz auf der Kreditvergabe beruhenden Ökonomie studieren: Der Zins als Wirtschafts­motor zwingt zu beständigem Wachstum, ist er doch ein Wechsel auf eine Zukunft, die dem Gläubiger und dem Schuldner größere Gewinne bringen muss als die Gegenwart, damit die Verschuldungsspirale von Spekulation und Investition nicht im Crash endet. »Die Wirtschaft steckt in einer Wachstumsspirale fest, die ihren Grund hat im Anwachsen der Geldvermögen durch die Zinsen.«131

Aber nicht nur die Kreditwirtschaft im engeren Sinn, sondern die gesamte, auf Akkumulation von Kapital ausgerichtete Spekulation erwartet und erzwingt Wachstum, und deshalb liegt es in der Rationalität dieses Wirtschafts­modells, dass es auf die Wachstumskarte auch dann noch setzt, »wenn über der Selbsterhaltung des Systems die Welt zugrunde geht«.132 Wenn dieses ökonomische Prinzip erst einmal in alle gesellschaftlichen Teilbereiche ausstrahlt, prägt es auch eine Denkweise, die

»zwar mit dem Anspruch wertfreier, an den Sachzwängen orientierter Rationalität antritt, dabei aber die ökonomische Effizienz im Sinne einer Zweck-Mittel-Rationalität zum obersten Entscheidungskriterium verabsolutiert und eine daraus folgende, nahezu uferlose Unterordnung aller Lebensformen, politischen Prozesse und gesellschaftlichen Strukturen unter ihre Auffassung von Rationalität betreibt«.133

Unsere Konfrontation mit den ökologischen Grenzen ist nun die ultimative Krise dieser Rationalität. Wie eine Kompassnadel zeigt diese bei der Lösungssuche stets in die Richtung, in der ihr die angebliche Versöhnung des individuellen Egoismus mit dem kollektiven Wohlergehen gewährleistet zu sein scheint. Lösungen werden dann als rational eingestuft, wenn sie die bisherige gesellschaftliche Praxis nicht in Frage stellen, sondern ihr als weitere technische Errungenschaften nahtlos einzufügen sind. Was in diesem Sinne nicht rational ist, erhält den Stempel »irrational« oder »utopisch«. Denn fatalerweise hat sich diese Sozialphilosophie bzw. die ihr entsprechende Praxis über Jahrhunderte als überaus erfolgreich erwiesen, jedenfalls in Europa und Nordamerika, jedenfalls für die, welche das Sagen haben.

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»Die Werte, an denen die Menschen unter ungeeigneten Bedingungen am hartnäckigsten festhalten, sind genau jene, durch die sie zuvor ihre größten Triumphe über widrige Umstände gefeiert haben.«134

Unsere gesellschaftliche Logik ist expansiv, indem sie schon verplant, was sie noch nicht hat. »Kapitaleinsatz erzeugt Gewinn. Zukunft wird also zur geplanten Konsequenz und Verlängerung der Gegenwart« und gerät damit unter »Wachstumszwang«.135 Das dem zugrunde liegende ökonomische Modell ist maßlos, denn: »Es gibt für das Ziel der Kapitalverzinsung keine Grenze.«136 Diesem Prozess eine Grenze setzen zu wollen gilt innerhalb des Systems deshalb als naiv, illusorisch, mehr noch: als zerstörerisch. Kommen ökologische Grenzen in Sicht, gehört es zur Logik der herrschenden Rationalität, »zu behaupten, eine Wirtschaft müsse nur weiterwachsen, um sich jede Schadstoffbeseitigung leisten zu können«.137 Die ökonomische Rationalität potentieller Unendlichkeit und die ökologische Rationalität des labilen Gleichgewichts innerhalb eingehaltener Grenzen sind nicht versöhnbar. Die Ökonomie müsste sich also als endlich begreifen, weil die ökologische Nische des Menschen bei all seiner Anpassungsfähigkeit begrenzt ist. »Bei einer unveränderten Rationalität des Wirtschaftens kann dieses Ende nur durch eine Katastrophe erreicht werden138

Damit zeigt sich die Hoffnung der liberalen Sozialphilosophie auf die kollektive Vernunft in allen individuellen Egoismen im Effekt in ihr Gegenteil verkehrt. Die Kumulation politischer, ökonomischer und sich ihr anpassender individueller Konkurrenz-Rationalität führt nicht zu der verheißenen höheren Vernünftigkeit des Ganzen, sondern: »Das schlechthin Unvernünftige - wir zerstören unsere Welt! - tritt ein, weil alle vernünftig handeln.«139

Nietzsches Beobachtung vom kollektiven Irrsinn trotz individueller Normalität beruht also darauf, dass die anscheinend vernünftige Normalität der Individuen schon durch ein objektiv irrsinniges System geprägt ist. Die Kritiker moderner Rationalität misstrauen nicht einer abstrakten Vernunft als solcher, sondern der schon nicht mehr bewussten Verformung dessen, was vernünftig sei.

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   Wahrnehmung und Interesse  

In der gesellschaftlichen Konstruktion von Rationalität bleiben die Interessen dem Erkennen nicht äußerlich. Es gibt einen komplexen hermeneutischen Zirkel zwischen Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, der ebenfalls in die Logik der Konkurrenzgesellschaft eingespannt ist.    wikipedia  Hermeneutik   Theorie der Interpretation von Texten und des Verstehens

Die Erkenntnis der ökologischen Krise ist in einem gegenüber alltäglichem Wissen ungleich höherem Maß vermittelt.140 Die vermittelnden Experten sind selbst von eigenen und fremden Interessen bestimmt. Und weil das zu gegensätzlichen fachlichen Stellungnahmen führt, neigt die Öffentlichkeit dazu, solchen komplexen Informationen grundsätzlich zu misstrauen oder ihnen kein großes Gewicht beizumessen. Was eigentlich aufhorchen lassen müsste, wird zu einer Art Grundrauschen.

In einer von der Ökonomie dominierten Gesellschaft kündigen sich Krisen an der Börse an. Die Konjunktur prägt viel entscheidender als die Wissenschaft die öffentliche Wahrnehmung. Aber weil in unserem ökonomischen System langfristige ökologische Schäden nicht »eingepreist« sind, weil bis auf kleinere, gesetzlich geregelte Teilbereiche im Ganzen kein Verursacherprinzip gilt, enthält die Konjunktur keine Informationen über die sich anbahnende ökologische Katastrophe. »Für Situationen, die sich über längere Zeit anbahnen, ist der Markt blind. ... Markt und Technologie sind nicht verknüpft mit den entscheidenden Sektoren des Umweltsystems und daher nicht in der Lage, über sich abzeichnende Grenzen zu informieren.«141 

Die Wissenschaft und ihre öffentliche Wahrnehmung sind in eine ökonomische Logik eingespannt. Wenn wir die ökologische Krise durch diese Filter wahrnehmen, erscheint sie uns nicht eigentlich als unsere Wirklichkeit, sondern als eine Art Gegen-Realität. Widerwillig müssen wir heute akzeptieren, dass sie existiert. Aber sie ist nicht so wirklich wie die Realität, in der wir leben, denken und funktionieren. Deshalb erscheint es uns intuitiv immer noch als wahrscheinlicher, dass unser Aktiendepot bis zu unserer Pensionierung gewachsen sein wird, als dass bis dahin die Folgen der ökologischen Krise unsere Lebenswelt samt Aktiendepots und Pensionen umgestürzt haben könnten.

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Selbst wenn wir uns bemühen, die Prognosen der Öko-Forscher ernst zu nehmen, manövrieren sie uns in eine innere Zerrissenheit: Wir hören ihre Folgerichtigkeit, aber wir denken und handeln Tag für Tag nach anderen Folgerichtigkeiten. Die Folgerungen, die wir aus den Warnungen ziehen müssten, kommen uns deshalb seltsam unwirklich vor; wir denken sie eigentlich nur im Konjunktiv.

Würden wir diesen Konjunktiv in einen Indikativ übersetzen, müssten wir auch den darin enthaltenen Imperativ an uns heranlassen: Er verlangt eine enorme Verhaltensänderung. So etwas heißt in der religiösen Sprache Umkehr. Auch darin geht unsere gegenwärtige Situation parallel mit der apokalyptischen, in der die Ansage der drohenden Katastrophe als Ruf zu Buße und Umkehr fungiert. Wir brauchten eine »Ethik der planetarischen Verantwortung«, aber die würde »einen ungeheuren Schock auslösen müssen. Sie wird gegen den Strich der so genannten Menschennatur gehen: zumindest jener Menschennatur, die in unseren Breiten mit immer neuen Prämien des Erfolgs überschüttet wurde.«142

 

   Überforderte Sensibilität  

So arbeitet die ökologische Krise jenem Pessimisten in die Hände, den schon Kants Geschichtsphilosophie widerlegen wollte. Die »trostlose Absprechung unserer gutmütigen Hoffnung« durch diesen Pessimisten gründet darin, »dass er aus der Natur des Menschen vorher zu sehen vorgibt, er werde dasjenige nie wollen, was erfordert wird«.143

Was erfordert wird, ist trotz der analysierten Widerstände allmählich vielen theoretisch klar. Aber wie man wollen könne, was erfordert wird - die so genannte »Umsetzung« -, wird deshalb nur nebulöser. »Wir haben es mit einem weiten Auseinanderklaffen von Mutabilität und Kontroversität zu tun«(144): Die echten Kontroversen über die Erfordernisse der globalen Entwicklung schwinden eher, aber die Veränderung in die entsprechende Richtung erscheint immer weniger steuerbar. So wirken wir manchmal - vom Weltpolitiker bis zum »Verbraucher« - wie Zuschauer unserer eigenen Bewegungsunfähigkeit.

 wiktionary  Mutabilität    Instabilität, Unbeständigkeit, Veränderlichkeit, Wandlungsfähigkeit

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Um diese fatale Situation zu begreifen, müssen wir zu den bisher besprochenen Aspekten der Ratio und des Interesses noch den des Gefühls, der Sensibilität hinzunehmen, also einer inneren Wahrnehmung, die zugleich sinnlich ist - und umgekehrt.

Wir handeln nicht einfach, wenn Ratio und Interesse im Einklang sind, sondern erst, wenn uns auch diese unmittelbare Wahrnehmung in die entsprechende Richtung drängt.

Mitunter kann diese unmittelbare Wahrnehmung den fehlenden Willen sogar ersetzen: Auch wer sein Haus nicht verlassen mag, wird springen, wenn er die Hitze des Feuers im Rücken spürt und Angst hat. Aber leider »fehlt (noch) die unmittelbare sinnliche Erfahrung der globalen Gefahr.... Das ist ausgerechnet in jenen Ländern heute der Fall, von denen die ernsthafteste Gefahr für den Fortbestand der Spezies Mensch ausgeht.«(145; Amery-1972)

Die Unverhältnismäßigkeit der von uns geschaffenen und verantworteten Realität gegenüber unserer emotionalen Fassungskraft ging Zeitkritikern schon nach dem Abwurf der ersten Atombomben auf: Der Zerstörungs­kraft dieser Waffen entsprach meist kein Schuldgefühl bei den Entwicklern, Befehlshabern und Soldaten, und der Bedrohung durch die atomare Apokalypse entsprach keine Bedrohungs-Fantasie durch die Bevölkerung. Die Bombe war - außer für die Opfer - unsinnlich. »Was uns heute aufregen müsste«, schrieb Günther Anders 1956, »ist jedenfalls nicht, dass wir nicht allmächtig sind oder allwissend; sondern umgekehrt, dass wir im Vergleich mit dem, was wir wissen und herstellen können, zu wenig vorstellen und zu wenig fühlen können. Dass wir fühlend kleiner sind als wir selbst.«(146)

Dieses Kleinersein-als-wir-selbst gilt in der ökologischen Katastrophe wohl noch mehr als angesichts der atomaren Bedrohung. Das Schreckens-Szenario der Bombe war wesentlich plötzlicher gekommen und eindeutiger bestimmbar als der schleichende Zerfall unserer Lebensgrundlagen. Es war in Katastrophenfilmen leichter darstellbar, und gegen das Wettrüsten konnte man Menschen einfacher mobilisieren als gegen eine Praxis, an der alle mitwirken. Niemand revoltiert gegen Verhältnisse, wenn er von ihnen zu profitieren scheint. »Resultat dieser Konstellation ist: keine subjektive Notwendigkeit radikaler Umwälzung, deren objektive Notwendigkeit immer drängender wird.«147

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Als »Verbraucher« ist jeder Angestellte und Arbeiter als Profiteur in die kapitalistische Wirtschaftsweise eingebunden - und nicht zufällig sind gerade Gewerkschaften mit Blick auf die Erhaltung von Arbeitsplätzen oft die schärfsten Gegner einer ökologisch ausgerichteten Politik.

Aber auch die Herrschenden sind manipulierte Manipulatoren, keine darüberstehenden Diktatoren. Die entwickelte Wohlstandsgesellschaft produziert ein Einheitsbewusstsein. »Das Existieren im Spätkapitalismus ist ein dauernder Initiationsritus.«148 Darin gleicht dieser Kapitalismus der Religion in traditionellen Gesellschaften, also der unreflektierten Weltanschauung, die nicht wirklich von außen angesehen, in Frage gestellt werden konnte. »Der Kapitalismus ist darin Religion, dass keine Erfahrung mehr außerhalb des Kapitalismus möglich ist.«149

Günther Anders forderte angesichts des Wettrüstens, der Mensch müsse seine emotionale Wahrnehmung an die eigenen technischen Fähigkeiten anpassen. »Wenn es unser Schicksal ist, in einer (von uns selbst hergestellten) Welt zu leben, die sich durch ihr Übermaß unserer Vorstellung und unserem Fühlen entzieht und uns dadurch tödlich gefährdet, dann haben wir zu versuchen, dieses Übermaß einzuholen.«150 Diese Forderung wurde zur Maxime erst der Friedenserziehung, später auch der Eine-Welt-Pädagogik und der Ökologiebewegung.

Diese Erziehungsarbeit hat sicher manches erreicht; sie hat vor allem ein Milieu in den westlichen Industriestaaten geprägt, das sich eine gewisse Sensibilität für globale Probleme im Alltag leisten kann. Aus diesem Milieu heraus wurde die Politik beeinflusst, durch seine Kaufkraft entstanden ökologische Landwirtschaft und fairer Handel. Dennoch hat diese Arbeit am Menschen das Gesamtsystem nicht zu einer wirklichen Umorientierung bewegt. Das liegt an der Milieu-Begrenzung dieser Bewegung, die selbst noch einmal eingeschlossen ist in das kapitalistische Gehäuse.

In der ökologischen Krise geraten gerade die Sensiblen in das Dilemma, sich schließlich die gesamten Folgen ihres Handelns vorzustellen - oder neuerdings als »ökologischen Fußabdruck« zu berechnen -, dieses Handeln aber doch nur bruchstückhaft ändern zu können.

»Habe nur solche Dinge«, formulierte Anders in den 1950er Jahren den »Imperativ des Atom-Zeitalters«, »deren Handlungsmaximen auch Maximen deines eigenen Handelns werden könnten.«151 Aber was heißt das im Zeitalter der ökologischen Katastrophe? Etwa: Habe keine Fernflugscheine, keinen Waschetrockner, kein Auto, aber auch kein Mineralwasser aus Tiefenquellen, keinen Kunststoff, bei dessen Herstellung Dioxin anfällt?

»Der Imperativ von heute lautet: Antizipiere!«, legte Anders 1980 nach.(152) Aber bis wohin? »Was ist der Effekt des Effekts der Verwendung des Produktteils, den ich mitherstelle?« Und selbst wenn ich diese Frage beant­worten könnte: Wäre ich wirklich in der Lage, Konsequenzen daraus zu ziehen, und das für alle Produkte, für die ich mitverantwortlich bin, als Produzent oder als Verbraucher? Anders weiß es selbst:

»Der Gedanke, dass ich nicht weiß, was die letzte Folge der Folgen der Folgen meines Tuns sein wird ... und wofür ich letztlich verantwortlich bin - ... dieser Gedanke demoralisiert, weil sich, wer diesem verfällt und nachgibt, der Fähigkeit beraubt wird, überhaupt noch zu handeln.«(153)

Der Gedanke, dass ich dies mitunter sehr wohl weiß, aber überfordert bin, mein Leben konsequent nach diesem Wissen auszurichten, demoralisiert wohl noch mehr. Viele ziehen sich deshalb auf eine Maxime zurück, welche das Handeln nur auf die Folgen für sich selbst, die eigene Familie oder den eigenen Körper, reduziert.

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detopia: Im Text erwähnt

        

 

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