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1   Möglichkeiten der Zukunft    Taylor-1975

Auch die Zukunft ist nicht mehr das, was sie war.   Arthur Clarke (1917-2008)  

    1  Gefühle des Ungenügens   2 Bestandsaufnahme der Zukunft     3 Die Optimisten   4 Die Reformer    5 Läßt sich Zukünftiges voraussagen?   

 

    1  Gefühle des Ungenügens   

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Was hält die Zukunft für uns bereit?  Diese Frage ist niemals dringlicher gestellt, niemals häufiger aufge­worfen worden als in unseren Tagen. Das hat seine Gründe. Das rapide Tempo, mit dem die Industrie­gesellschaft sich verändert, hat mehr Ungewißheit gebracht als je zuvor.

Wenn vor hundert Jahren ein Mann einen Baum pflanzte, dann tat er das in der sicheren Erwartung, ihn auch zu einiger Höhe heranwachsen zu sehen. Wenn er ein Haus kaufte, blieb er meist bis zu seinem Tod darin wohnen. Wenn er als alter Mann die schwankenden Gestalten seiner Jugend wieder an Ort und Stelle Revue passieren ließ, dann hatte sich die Bühne kaum bis zur Unkenntlichkeit verändert.

Aber heute: Da wird das Haus abgerissen, weil eine Straße gebaut werden muß oder ein großes Bauvorhaben der öffentlichen Hand zur Realisierung drängt; die vertraute nachbarliche Umgebung verschwindet, ganz Neues tritt an ihre Stelle; selbst die Sprache hat sich oft so gewandelt, daß die Verständigung zwischen den Generationen leidet, und was gestern noch als Norm und Richtschnur galt, ist morgen schon hoffnungslos veraltet.

Darum die zahlreichen Institute der Zukunftsforschung, die Flut der Veröffentlichungen, die sich mit Futurologie und techno­logischen Prognosen befassen, häufig unterstützt von Auftraggebern der Großindustrie. 

All diesen Bemühungen zum Trotz bleibt es für den Mann auf der Straße nahezu unmöglich, die dort getroffenen Aussagen zu verstehen. 

Da gibt es die Meinung der Untergängler, der die Meinung der Aufschwüngler kraß widerspricht. 

Was soll man da glauben? Wie kann man da planen?

Die zukünftige Entwicklung wird uns nach meiner Meinung vor zwei unterscheidbare Problemtypen stellen: praktische Probleme und menschliche Probleme. 

Zunächst soll es hier um die Probleme praktisch-materieller Art gehen, die heute schon allgemein gesehen werden: 
Rohstoff­verknappung und Umwelt­verschmutzung.

Im weiteren Verlauf soll dann versucht werden, diese Fragen auf eine Weise abzuhandeln, die jedem Leser ein eigenes Urteil erlaubt. Sieht man von allen Vorein­genommenheiten für oder gegen Untergang hier, Aufschwung dort ab, so wird man bei nüchterner Betrachtung fraglos zugeben müssen, daß uns die Verknappung von Rohstoffen und Nahrungsmitteln in naher Zukunft vor schwere Probleme stellen wird. Dabei kann es durchaus sein, daß auf dem Sektor der Energieversorgung eine Zeit der Verknappung vorübergehend durch ausreichende Möglichkeiten der Bedarfsdeckung wieder aufgehoben wird, wobei aber dann die Probleme der Umwelt­ver­schmutzung (vor allem durch Radioaktivität) sich nur um so schärfer stellen werden. Und was den Hunger angeht, so haben ihn nur die Industrienationen noch nicht.

Doch ernster noch als diese Fragen, dringlicher noch sind die Probleme des sozialen Miteinanders. Gewalt ist heute in einer Weise an der Tagesordnung wie seit den Zeiten der Renaissance nicht mehr. Wenn wir von Kerlen lesen, die einen 72jährigen Mann zur Herausgabe seiner geringen Ersparnisse zwingen wollten, wobei sie ihm die Ohren abschnitten und ihn aufhängten, danach auch noch auf seine Frau losgingen, so wirkt das doch wie finsteres Mittelalter — aber es ist England von heute. Wenn wir weiter lesen, daß ein Pony mit zusammengeschnürten Hufen zum Ertränken in einen Kanal geworfen wurde — «nur so zum Spaß» —, dann müssen wir uns fragen, wie weit derartige krankhafte Auswüchse noch gehen mögen.

Noch schlimmer aber ist, daß Regierungen angeblich zivilisierter Länder in Haft gehaltene Personen foltern, allen internationalen Abmachungen zum Spott, die sie mitunterzeichnet haben. Es ist aber nicht nur diese Flut ungewöhnlich abstoßender Vergehen, von denen täglich in der Zeitung zu lesen ist, etwa brutaler Massen­vergewaltigungen oder von Computerhirnen erklügelter Untaten. Viel weiter verbreitet sind mildere Formen sozial fragwürdigen Verhaltens, Kavaliersdelikte wie Kaufhausdiebstahl oder Rücksichtslosigkeit im Verkehr, die mehr oder weniger hingenommen werden.

Erstaunlich ist ja, daß Diebstahl und selbst Gewaltanwendung heute überall ihre Verteidiger finden. Es gibt philosophische Rechtfertigungen der Gewalt, und schon mancher, der auf Raub ausging, verwies zu seiner Verteidigung auf den Satz, daß Eigentum Diebstahl sei. Da finden sich Gegner jeglicher Autorität neben solchen, die keine freie Meinungsäußerung mehr zulassen wollen.

Alle diese Erscheinungen spiegeln offensichtlich die Schwierigkeiten bei der Integration der einzelnen Menschen in die Gesellschaft wider, die Schwierig­keiten eines Gesellschaftsvertrags, der hier Pflichten, dort Rechte vorsieht. An sozialer Kooperation mangelt es häufig auch im Arbeitskampf, wenn einerseits der Ruf nach mehr Geld für Investitionen laut wird, andererseits aber die Einsicht in deren Notwendigkeit oft zu kurz kommt, weshalb dann Veränderungen unterbleiben, die Erleichterung am Arbeitsplatz und auch eine Erhöhung des Lebens­standards mit sich brächten.

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Aber während einzelne wie Interessengruppen immer weniger Bereitschaft zeigen, sich an Spielregeln zu halten, wird die Zahl der Spielregeln in unserer Welt immer größer. Immer häufiger wird unser Leben von außen her bestimmt, zusehends weniger sind wir Herren unser selbst.

Dabei enthält das Alltagsleben ein steigendes Maß an Unsicherheit. Da werden auf dem Verwaltungsweg alle möglichen Versuche angestellt, dem Menschen Sicherungen und Vergünstigungen zu verschaffen; gleichzeitig aber weiß keiner mehr, ob er morgen noch Arbeitsplatz und Wohnung wird behalten können, und das Vertrauen, daß heute getroffene Entscheidungen auch morgen noch ihren Sinn haben werden, schwindet allmählich dahin.

Von den Werten, auf denen die bürgerliche Gesellschaft beruhte — Redefreiheit, durchschaubare Spielregeln, Ehrlichkeit, Verantwortung für andere, Verläßlichkeit, Kontrolle der Regierung durch das Volk, Unbestechlichkeit —, ist in der Realität wenig geblieben. Wem dies klar wird, der fühlt sich desillusioniert, verunsichert und hoffnungslos.

Das Gefühl tiefen Ungenügens über die Zukunftsaussichten der westlichen Welt wächst allgemein. Wir haben die Warnungen bedeutender Persönlichkeiten gehört. Lord Ashby, ein Wissenschaftler von Rang, sprach davon, daß wir uns nicht in einer Entwicklungskrise, sondern in einer Untergangskrise befänden. Maurice Strong, verantwortlicher Leiter der Umweltprogramme der UNO, gab zu verstehen, daß bei realistischer Einschätzung der Lage «wir zugeben müssen, daß der Weltuntergang zwar nicht unvermeidlich, aber immerhin möglich, vielleicht sogar wahrscheinlich ist — wenn wir wie bisher weiter­machen».

Drei Formen lassen sich unter den Beurteilungen der Lage feststellen.  

Da gibt es die pragmatische Sicht, in der die gegenwärtige Krise nichts weiter ist als ein neues Stadium im ewig währenden Kampf um die an Rosinen reichsten Stücke des globalen Kuchens. 

Dann gibt es die Apokalyptiker: Sie sehen «die Krise der Gegenwart als Aspekt der zum Tode führenden Krankheit der industriellen Gesellschaft als solcher», wie bei einem Autor zu lesen steht.

Die dritte Auffassung geht dahin, daß zwar das Leben auf der Erde nicht gefährdet sei, die westliche Gesellschaft aber einer Krise entgegengehe. 

«Es liegt nahe», schreibt die Londoner <Times>, «unsere Situation mit jener zu vergleichen, die etwa im Römischen Reich bestand, als Heliogabal den Purpur trug und die Goten an der Donau Heerschau hielten. Oder mit der Lage der Bewohner der Stadt Ur, als der Euphrat seinen Lauf veränderte und ihrer starr spezialisierten Wirtschaft dadurch den Boden entzog.»  

Wie tröstlich, daß die <Times> immerhin zu dem Schluß kommt, daß solche Vergegenwärtigungen «dem wahren Zustand der Dinge weit voraus zu sein scheinen» und daß die gegenwärtigen Probleme «keinen Anlaß für die Vorhersage geben, daß der westlichen Gesellschaft nun die Basis unter den Füßen weggeschlagen würde ...».  

Ich weiß nicht, ob man eine solche Frage der freundlichen Beurteilung durch einen Leitartikler überlassen darf. 

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Wie ernst müssen wir die Probleme der Gegenwart nehmen?

Welche Gefahren der Umwelt drohen, wissen wir mittlerweile, aber viel weniger ist ins Bewußtsein gedrungen, wie problematisch das Gefüge unserer Gesellschaft geworden ist. Wenn es den Mitgliedern der westlichen Gesellschaft nicht gelingt, ihre sozialen Probleme rational durch Zusammenarbeit zu lösen, dann besteht wenig Hoffnung für sie, mit den wirtschaftlichen und von der Umwelt gestellten Problemen fertig zu werden. Die Entwicklung führt von der Wachstumswirtschaft in eine Wirtschaftsform, die Professor R.S. Scorer vom <Imperial College of Science> als <Defensivwirtschaft> bezeichnet hat.

Doch das Gefühl, unter Druck zu stehen, hat mit der wirtschaftlichen Situation der Defensivwirtschaft weniger zu tun als mit der Zunahme der Gewalt, mit Protest- und Abwehrhaltungen, zerstörten Hoffnungen und dem Fehlschlag sozialer Zusammenarbeit. 

Einerseits wachsen Neid und Ressentiments, andererseits besteht eine fast krankhafte Gleichgültigkeit gegenüber der Pflicht für den Nächsten

Solche Gefühle artikulieren sich stets auch politisch, vor allem dort, wo erbärmliche Lebensbedingungen herrschen. Ausbrüche von Gewalt sind da unvermeidlich.

Romesh Thapar, der Herausgeber der internationalen indischen Zeitschrift <Seminar>, formuliert bündig:

«Die Blumenkinder, die der Dschungel der Überfluß­gesellschaft hervortrieb; der leicht entflammbare Haß derer, die in den sich ausbreit­enden Elends­gebieten nicht länger warten wollen; die verzweifelten Aktionen der Kultur­revolutionäre; das Wiederaufleben anarchistischer Ideen; der Nihilismus der Sensitiven und die zynische Gleichgültigkeit von Millionen von Jugendlichen mit bester Schulung — all dies sind in der Tat nur Aspekte eines einzigen Entwicklungstrends, in dem die Ablehnung des sozialen Gefüges zum Ausdruck kommt, in dessen Rahmen wir zu leben haben.»

Wie hoch ist die Flut der Unzufriedenheit schon gestiegen? Alexander King, Generaldirektor für Wissenschaftsfragen bei der OECD, ist der Ansicht:

«Ich selbst glaube nicht, daß wir schon den kritischen Punkt sozialer Auflösung erreicht haben, aber vieles spricht dafür, daß wir uns auf einem Weg befinden, der leicht in eine Weltkrise führen könnte; es ist daher dringend notwendig, die anstehenden Fragen noch eingehender zu diskutieren, um ein noch detaillierteres und präziseres Bild der Situation zu gewinnen.»

wikipedia  Alexander_King Chemiker  1909-2007 

wikipedia  Organisation_für_wirtschaftliche_Zusammenarbeit_und_Entwicklung  

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Der wohl am meisten beunruhigende Zug der gegenwärtigen Lage scheint mir die Unfähigkeit staatlicher Organe zu angemessenen Reaktionen zu sein. Ja es gibt noch nicht einmal Anzeichen, aus denen sich schließen ließe, sie hätten den Ernst der Lage auch wirklich verstanden. Aus der Geschichte läßt sich lernen, daß immer dann, wenn Regierungen sich als unfähig erweisen und das Vertrauen in sich selbst verlieren, auch das Volk ihnen kein Vertrauen mehr schenken mag und revolutionäre Veränderung ins Auge faßt.

Wie noch zu zeigen sein wird, deuten nicht wenige Anzeichen darauf hin, daß die Länder des Westens sich auf dem Weg der Abkehr von der Demokratie befinden, den so viele Länder geringeren Entwicklungsstandes bereits durchschritten haben. Willy Brandt, Altbundeskanzler und Parteivorsitzender der SPD, ließ verlauten, er gebe der Demokratie in Europa bestenfalls noch einmal zwanzig Jahre — und er steht mit einer solchen Warnung nicht allein.

Alles in allem konfrontieren uns diese Fragen mit einer Herausforderung, der zu begegnen an sich nicht unmöglich ist. Die richtige Einschätzung der Situation, die richtige Wahl hinsichtlich der einzuschlagenden Wege, Maßnahmen und konkreten Ausführungen wird letztlich entscheiden. Wird aber eine kranke Gesellschaft mit der Entschlossenheit und dem inneren Schwung reagieren können, die hier not tun? Falls nicht, wird die westliche Gesellschaft in Unordnung und Bedeutungslosigkeit versinken. Es geht aber nicht nur um die Einschätzung der Probleme, sondern auch um Richtlinien für unser zukünftiges Verhalten.

Beginnen wir also damit, einen allgemeinen Begriff von der Zukunft zu gewinnen, dann aber einen Rückblick auf historische Parallelen zu vollziehen, um für die Einschätzung unserer eigenen Position die rechte Perspektive zu erhalten. Danach soll unser Interesse den Problemen der Gegenwart gelten, wobei versucht sei, bestimmte Gefahren und Bedrohungen ins Blickfeld zu rücken, die zu einem Zusammenbruch führen könnten. Zuletzt seien Strategien des Handelns zur Diskussion gestellt. Zuvor aber wollen wir uns mit den Zukunftsprognosen der zuständigen Fachleute für die nächsten Jahrzehnte befassen. Ist das Bild in den Kristallkugeln der Zukunftsschau düster oder hoffnungsvoll?

 

    2  Bestandsaufnahme der Zukunft   

 

Viele, die sich als Fachleute mit Zukunftsprognosen befassen, geben sich vergleichsweise optimistisch. Nicht optimistisch ist allerdings Dr. Theodore  Gordon, Gründungsmitglied des <Institute for the Future> in Middletown, Connecticut, USA. 

Nach seinen Berechnungen stehen uns für die nächsten zwanzig Jahre mindestens fünf größere Krisen ins Haus. Und alle fünf erscheinen ihm unabwendbar.

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Zum einen, so meint er, dürfte das Gleichgewicht des Schreckens zwischen den Supermächten weniger stabil werden. Es sei nicht mehr die Situation gegeben, in der keine der Supermächte den Krieg wagen konnte aus Furcht vor massiver und vernichtender Vergeltung, denn inzwischen bestehe ein ganz neues Arsenal an Waffen: taktische Atombomben, die kleinere Ziele präzise zu treffen vermögen; chemische und bakterielle Waffen, über deren Einsatz­möglichkeiten nur wenig in die Öffentlichkeit dringe; Techniken wirtschaftlicher und sogar meteorologischer Beeinträchtigung, deren aggressiver Charakter lange Zeit im unklaren bleibe. Auch rückten begrenzte Kriege zusehends in den Bereich des Denkbaren.

Zum anderen stehe zu befürchten, daß der Mangel an Nahrungsmitteln bei weiterem Ansteigen der Bevölkerung und der landwirtschaftlichen Bedarfs­deckungs­lücken eine gefährliche Größenordnung erreichen könne. Zudem habe es den Anschein, als ob Klimaverschlechterungen — vor allem eine weltweite Abkühlung, die eine neue Eiszeit befürchten läßt — mit der Umwelt­zerstörung Hand in Hand gingen, wodurch die Landwirtschaft vor weitere Schwierigkeiten gestellt wäre. 

Gordon hält es für notwendig, eine synthetische Erdkrume herzustellen, die an die Stelle unserer ausgelaugten und erosions­geschädigten Böden treten müsse, und glaubt, daß derartige «künstliche Anbau­gelegenheiten» in den 1990er Jahren zum Alltag zu rechnen seien. Die Inflation werde unterdessen nicht aufzuhalten sein. 

Das Anwachsen multinationaler Konzerne müsse zur Erweiterung der Kluft zwischen armen und reichen Völkern beitragen. Gleichzeitig aber könne die Bildung internationaler Kartelle nach dem Muster der Ölländer die Volkswirtschaften der Reichen in arge Bedrängnis bringen, die der Armen aber an den Rand des Zusammenbruchs drängen.

Schon ein jedes dieser Probleme für sich genommen stelle vor «enorme und nie dagewesene Schwierigkeiten», sagte Gordon in einer Ansprache vor der <American Association for the Advancement of Science> im Jahr 1974; «zusammen formen sie ein unheilvolles Gespinst, das unserer Vertrauensseligkeit den Fehdehandschuh hinwirft». Zwar ist meiner Vertrauensseligkeit noch niemals durch ein Gespinst ein Fehdehandschuh hingeworfen worden, aber im Kern der Aussage möchte ich Gordon doch zustimmen, und die hier berührten Fragen sollen später noch eingehender erörtert werden. Bemerkenswert an Gordons Äußerungen erscheint mir vor allem die Bereitschaft zur negativen Sicht.  

Die meisten Futorologen befassen sich mit Entwicklungs­vorgängen, die ihnen ermutigend erscheinen, wobei sie die weniger ermutigenden Trends mehr als kleinere Störungen hinstellen. Daß solche Trends einmal die Grenzen des Erträglichen erreichen könnten, sind sie nicht gewillt zuzugeben, weil sie dann ja auch eine radikale Umorientierung der Gesellschaft ins Auge fassen müßten. Die Umkehrung von Entwicklungs­vorgängen liegt ebenso außerhalb ihres Denkens wie das Auftreten scharfer Gegenreaktionen. 

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Es genügt, an die Situation vor einem Jahrzehnt zu erinnern: Die seit über einem Jahrhundert zunehmende Umweltverschmutzung schien damals auch für die weitere Zukunft zuzunehmen. Niemand hat damals voraussehen können, daß die Öffentlichkeit durch ihren Widerstand diesen Trend abgeschwächt hat und vielleicht sogar eine Umkehr herbeizuführen vermag.

Ein anderer Pessimist, Hasan Ozbekhan, damals für die Rand Corporation tätig, unternahm 1969 einen kühnen Vorstoß, indem er Zeitangaben aufstellte, nach denen bestimmte Weltprobleme «explosive Ausmaße» anzunehmen drohten. Prüfen wir doch, inwieweit Ozbekhan recht hatte:    en.wikipedia  Hasan_Özbekhan  1921-2007

 

 

Prospektiver Zeitraum

Zeitpunkt

Gleichgewicht der nuklearen Abschreckung wird instabil
Überforderung der Institutionen durch anstehende Aufgaben
Drängen auf Entscheidungsteilhabe 
Rassenkonflikte
politisches Drängen der Jugend
Hungerkatastrophen
Unbewohnbarkeit der Städte
Gesetzlosigkeit der Verwaltung in den USA

in 5-15 Jahren
in 3-30 Jahren
in 1-5 Jahren
in 1-5 Jahren
in 1-5 Jahren
in 3-15 Jahren
in 20 Jahren
in 3-8 Jahren

1974-1984
1972-1999
1970-1974
1970-1974
1970-1974
1972-1984
1989
1972-1977

 

Unter dem letzten Punkt verstehe ich eine allgemeine Zurücknahme der öffentlichen Zustimmung gegenüber Regierung und höheren Verwaltungs­stellen. Auch die Bedeutung der anderen Punkte habe ich mir klarzumachen versucht. Zweierlei scheint sich hier vor allem herauszuschälen: Die den Hunger betreffende Voraussage hat sich in Afrika erfüllt, und in keinem Land der Welt werden die zuständigen Organe mit der Inflation fertig. Das Drängen der Jugend ist allerdings etwas abgeklungen, jedenfalls vorläufig, ebenso der Rassenkonflikt. Das atomare Patt könnte allerdings bald aufbrechen. Die Forderung nach Entscheid­ungs­teilhabe wird zwar erhoben, jedoch nicht unabweisbar energisch. Drei von acht Voraussagen treffen immerhin zu.

Professor Harrison Brown von der <National Academy of Sciences> in Washington, Mitautor eines Buches voll optimistischer Voraussagen im Bereich der technischen Entwicklung, hielt bei der Nobel-Tagung in Stockholm von 1969 dennoch mit seinem politischen Pessimismus nicht hintan. Er entwarf dreierlei verschiedene Zukunftsperspektiven: 

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1. Die reichen Nationen werden zunehmend reicher. Die Kluft zwischen ihnen und der Dritten Welt nimmt zu. Letztere wird ihrer Naturschätze beraubt. Die reichen Völker gehen in einem Atomkrieg unter. Die Dritte Welt lebt danach mehr schlecht als recht weiter.

2. Hier geschieht die Atomkatastrophe unter den reichen Völkern noch vor Aufzehrung aller Naturschätze der Dritten Welt, so daß diese sich zu einer Gesellschaft von Reichen weiterentwickeln und die Katastrophe nun ein zweites Mal herbeiführen kann.

3. Es muß ein Programm der Vernunft entwickelt werden, das geeignet ist, Ungerechtigkeit und Ungleichheit zu beseitigen und den Atomkrieg zu bannen.

Die letztgenannte Variante, gab Brown zu, sei «am wenigsten wahrscheinlich ... und in der Tat fast schon ein Wunder».

 

Der Biologe John Platt, der dem leitenden Team des <Mental Health Research Center> der Universität Michigan angehört und sich intensiv mit Zukunfts­fragen befaßt hat, gelangt zu einem nicht minder finsteren Ausblick. Er befürchtet die Heraufkunft einer Diktatur der atomaren Vernichtung, «bei der irgendein Diktator durch nukleare Erpressung die Welt im Griff hält, vielleicht, nachdem er zuvor durch Anwendung der Waffe weltweite Einschüchterung betrieb ... Heute hat die Menschheit noch keine Gegenmittel zur Ausschaltung einer solchen Möglichkeit gefunden.» 

Eine andere Möglichkeit scheint ihm eine Situation zu sein, in der im Stil von Orwells Schreckensutopie für das Jahr 1984 zwei oder drei Großmächte einen labilen Frieden wahren, der auf totalitärer Unterdrückung beruht. Dennoch hofft er auf einen «offenen Pluralismus» und glaubt, daß weltweite Fernseh­übertragungen über Satelliten sowie Computerdiagnosen organischer und sozialer Störungen diesen herbeiführen können.

Das war 1972. Drei Jahre zuvor klang's noch nicht so optimistisch. «Einen Ansturm von Krisenproblemen aus jeder Richtung» sah er da kommen, den abzuwenden «nichts Geringeres erfordert als die volle Aktivierung aller Verstandeskräfte unserer Gesellschaft». Er machte den kühnen Versuch, die Weltprobleme nach zwei Gesichtspunkten zu klassifizieren: zum einen nach der voraussichtlichen Dauer bis zur Erreichung des Krisenstadiums, zum anderen nach ihrer Gewichtigkeit, gemessen an der Zahl der betroffenen Menschen multipliziert mit dem Ausmaß der Krise. 

Er kam zu dem Schluß, daß die harmlosesten Probleme noch jene seien, die von den Wissenschaftlern als die wichtigsten angesehen würden — und umgekehrt. Ganz unten auf seiner Liste standen Fragen wie Wasserversorgung, Entwicklungs­planung, Wirtschafts­probleme und Raumnutzung, die oft allzu gründlich untersucht wurden. Ganz oben aber standen: totale Vernichtung, physikalische oder biologische Umkippreaktionen, katastrophale politische Entwicklungen; also die Probleme der Umweltzerstörung, des Hungers, der Kluft zwischen Armen und Reichen. Von ihnen befürchtete er binnen der nächsten zwanzig Jahre das Schlimmste.

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Im Mittelfeld der Aufzählung stand «weltweite Spannung bis zur Unerträglichkeit», greifbar in Problemen wie fehlender Bedürfnisdeckung, Zerstörung der Umwelt, Rassenkämpfen und dem Drängen nach Teilhabe an Entscheidungen, Informationen, Gütern und Entwicklungs­prozessen. Alle diese Fragen sind heute schon virulent.

Zu ihrer Lösung bedürfte es unter anderem auch der Methoden, die Maßstäbe an die Hand geben, wie dies etwa der Preisindex tut, der den Lebensstandard zu messen erlaubt. Ansätze in dieser Richtung berechtige zu einiger Hoffnung.

Allerdings fand Platt auch wieder zu einer optimistischeren Einschätzung, und 1973 schien ihm die Veröffentlichung einer Reihe von Büchern über die Weltprobleme ein Anzeichen dafür zu sein, daß dieses Jahr «die Entwicklung einer Bewegung für das Überleben der Welt» markiere. Die Tatsache, daß so viele Autoren sich damit befaßten, von verschiedenen Standpunkten aus ein Bild der Zukunft unseres Planeten zu gewinnen, schien ihm «erstaunlich und ermutigend». 

Wenn diese Bücher und die hinter ihnen stehenden Gruppen tatsächlich eine breite Bewegung hervorzurufen vermöchten, meinte Platt, so könnte das zu einem Kristallisationspunkt der Hoffnung werden; ein neuer Gemeinschaftssinn hätte hier seinen Ansatz, aus dem heraus die Aktivierung individueller wie gesellschaftlicher Kräfte im großen Maßstab erwachsen könne, kraft der allein Problemlösungen globaler Natur möglich würden. Es wäre dabei nicht nur der organisierte Zusammenschluß von Menschen entscheidend, sondern auch die Hereinnahme wissenschaftlicher und biologischer Perspektiven, durch die jener fatale Abwärtstrend aller Prognostik von seinen realen Anlässen her veränderbar würde.

Mir scheint jedoch, daß ein neuer Gemeinschaftssinn ebensowenig durch eine Reihe von Publikationen bewirkt werden kann wie eine Änderung in der Haltung der politisch Verantwortlichen. Ein Lichtschimmer am Ende des Tunnels mag das allerdings sein.

Aus verschiedenen Gründen scheinen mir Zukunftsprognosen, die sich nur auf isolierte Problempunkte konzentrieren und dabei ganz aus dem sozialen Kontext herausgenommen sind, der jeweils immer spezifisch durch Zeit und Umstände geprägt ist, so gut wie unbrauchbar

Unberücksichtigt bleibt da zunächst die Wechselwirkung der Problemfelder untereinander, bleibt vor allem die Tatsache, daß niemals der volle Umfang der Probleme bekannt ist. So finden wir bei den vorgenannten Autoren kein Wort über praktische Probleme wie die Verknappung von Energie und Rohstoffen oder über mögliche Rückwirkungen einer Klima­verschlechterung infolge weltweiter Abkühlung. 

Ebenso lassen sie soziale Problematik außer acht — etwa Hunger oder die Forderung nach Gleichberechtigung. Noch weniger finden bei ihnen solche vernachlässigbaren Trivialitäten wie Selbstverwirklichung oder Gestaltung des Lebens Erwähnung. 

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Auch hätte man wohl nicht ungern über eine Reihe weiterer Fragen gehört, etwa darüber, ob Irrationalismus, religiöse Bewegtheit, Aberglaube und chiliastische Heilserwartung zunehmen dürften oder nicht und in welchem Maße «anerzogene Unfähigkeit» (wie Herman Kahn sozial bedingte Erziehungs­mängel zu nennen pflegt) die Gesellschaft als Ganzes daran hindert, Probleme wahrzunehmen, sie zu lösen — also zu überleben.

 

    3  Die Optimisten   

 

In scharfem Gegensatz zu den Apokalyptikern unter den Futurologen stehen jene, die ausschließlich eine Weiterentwicklung bereits bestehender Trends sehen wollen — die Schule der Immergleich-Wachstumisten — und die sich in ihrer Haut sehr wohl fühlen.

Typisch für diese frisch-fröhliche, sich an bestehenden Trends orientierende Futurologie ist Burnham Beckwiths Buch <The Next 500 Years>, laut dem alles bis in die aschgraue Zukunft so wie bisher weitergehen soll. 

Beckwith zählt 31 Entwicklungstrends auf, deren Weiterführung er erwartet. Genannt seien: weitere Industrialisierung, weitere Verstädterung, weitere Spezialisierung, mehr Freizeit, mehr Forschung, mehr Ausbildung, mehr Wissen, mehr Menschen, mehr Einfluß staatlicher Organe, mehr Einfluß der Frauen, mehr Toleranz in allem, stärkere kulturelle Uniformität, stärkere Monopolisierung, höhere Einkommen. Und irgendwie soll dabei auch noch ein Zuwachs an persönlicher Freiheit herauskommen!

Mit dem Brustton der Überzeugung behauptet dieser Autor, daß all dies nicht nur fünfhundert, sondern sogar tausend Jahre so weiterginge. Zum Wohle der Menschheit, versteht sich. 

«Die Welt des Jahres 2500 wird nicht durch brutale Diktatoren regiert werden, die ihre Untertanen ausbeuten und terrorisieren, wie Orwell und Wells dies befürchteten, sondern durch wohlwollende und hochqualifizierte Verwaltungskräfte.» 

Augenscheinlich werden zumeist Frauen diese Positionen einnehmen, denn bereits im Jahr 2100 sollen 20-50% aller in der Legislative tätigen Personen weiblichen Geschlechts sein; für Großbritannien, die USA und die UdSSR sieht er bereits für das Jahr 2000 Frauen an der Spitze des Staates.

Der einzige Trend, der doch nicht so ganz ermutigend klingt, ist jener, nach dem die Vielfalt der auf dem Markt angebotenen Güter immer mehr abnehmen soll. Auch werde trotz zunehmender Permissivität (und aufblühender Pornographie) kein Land bis zum Jahr 2100 die Polygamie gestatten. Mit den Scheidungen allerdings dürfte es nach Beckwith munter bergauf gehen, so daß für Europa bis zum Jahr 2060 amerikanische Scheidungsziffern ins Haus stehen müßten. Arbeiten wird dann jeder nur noch täglich 2-3 Stunden an 200 Tagen im Jahr, wobei das Einkommen der reichsten Leute doppelt so hoch wäre wie das des schlechtestbezahlten Hilfsarbeiters.

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Ein Atomkrieg wäre - nach Ansicht dieses Autors - nur geeignet, diese Entwicklung zu beschleunigen. Bis zum Jahr 2200 gäbe es dann eine Weltregierung, die sich stark auf öffentliche Meinungsumfragen zu anstehenden Problemen stützen würde. Die Weltbevölkerung hätte dann 8,6 Milliarden erreicht — 600 Millionen Menschen lebten in den USA. Für das Jahr 2500 aber sei gar mit einer Weltbevölkerung von 11 Milliarden (1,2 Milliarden in den USA) zu rechnen.

Ich mag kein Wort davon glauben.

Solche Botschaften des Immergleichwachstumistentums erreichen uns auch aus dem <Hudson Institute>, sofern sich dies aus der vieldeutigen Darstellungs­weise Herman Kahns entnehmen läßt, die so viele Alternativen und Gegenmöglichkeiten enthält, daß es nicht immer leicht ist, das Gemeinte genau zu verstehen. 

Viel Vergnügen hat mir jedenfalls folgende seiner Prognosen bereitet: «Ein gewisses Maß an Beschleunigung, aber auch ein gewisses Maß an gleich­mäßiger Weiterführung, dazu ebenfalls eine selektive Ausfächerung gebündelter Trends (vermutlich mit zeitweiligen Umkehrtendenzen)» — da hat man nun freilich alle Möglichkeiten beisammen. Die Wellenlänge von Herman Kahn ist 1 oder 2 oder 3 oder 4 oder auch 5, wodurch er sich allerhand Freiheits­spielraum offenhält.

Sieht man nun einmal von derlei Einschätzungen und sonstiger Mehrdeutigkeit ab, so bleibt doch, daß er weiteres Bevölk­erungs­wachstum, zunehmende Verstädterung und Industrialisierung sowie wachsende Machtkonzentration für die Zukunft annimmt.

«Auf lange Sicht sehe ich eine Zukunft, in der die Bessergestellten zwei oder drei Häuser besitzen werden, in der jeder Erwachsene Besitzer eines Autos ist, jedermann die Möglichkeit zu Flugreisen hat — und vielleicht sogar über eigene Hubschrauber verfügt —, zwei Boote sein eigen nennt, ein Unterseeboot ... und ich beginne mich zu fragen, ob das wirklich so gut ist.»

Amerikanische Maßstäbe und Lebensformen werden, so Kahn, weltweit verbreitet sein, und die ganze Erde sei dann «verwestlicht» — was zu heißen scheint: pragmatischer, philiströser, anarchischer und weltlichen Zerstreuungen mehr zugetan. (Eigentümlicherweise scheint Kahn zu glauben, eine solche Welt sei dann der hellenistischen Spätantike vergleichbar — mir hingegen kommt kaum etwas der hellenistischen Lebensform unähnlicher vor als jene, die er entwirft.)

Anarchisch wird Kahns Zukunftswelt also sein, aber auch wiederum ziemlich gut geordnet und einheitlich, wiewohl um das Jahr 1980 illegitime Gewalt ein ernstes Problem zu werden verspricht. (Was bei diesen widersprüchlichen Aussagen herauskommt, macht jede Logik kopfscheu: «Ich habe recht und die anderen auch.») Und plötzlich soll dann den westlichen Nationen die Wahl zwischen Anarchie und Zwang gestellt sein.

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Ziemlich präzise wird Kahn allerdings, wenn er das Karibische Meer als Gefahrenzone anpeilt: «In nahezu jeder Nation um das Karibische Meer liegt ein starkes Potential für ein irrationales, von wildem Haß erfülltes, den Weißen wie allen Fremden überhaupt feindlich gesinntes antikapitalistisches und revolutionäres Regime ... Die Auswirkungen solcher Regime auf die Wirtschaft der Länder wäre verheerend, doch wären sie imstande, den Stolz der Massen zu wecken.»

Aber Kahn hat keinen Blick dafür, daß vielleicht auch der Hunger zur Weltproblematik beitragen könnte, denn nach ihm wird die Politik der USA so geführt, daß wir «voll Zutrauen für die Mitte der 1970er Jahre eher einen Überhang in der Lebens­mittel­produktion annehmen dürfen als eine Verknappung» — das schrieb er 1972. Heute, nur drei Jahre später, ist Hunger in vielen Ländern ein Alltagsproblem.

Die größte Gefahr in Herman Kahns Augen wird 1985 fällig, wenn nach seiner Erwartung die Industrie mehr produzieren wird, als die Nachfrage aufzunehmen vermag, weshalb die Produktion dann auch etwas beschnitten werden müsse. Er nennt das eine «technologische Krisis»; andere würden wohl eher von «wirtschaftlicher Krise» sprechen.

Davon nun abgesehen, und ungerechnet ein bißchen Gewalt in Südamerika, die andere Länder nicht beunruhigen müsse, pinselt Kahn eine rosige Zukunfts­perspektive aus. Wir können der Zukunft «mit positiven Reaktionen» entgegensehen, denn Schreckensbilder wie ein Atomkrieg, die Ökokatastrophe oder die Wandalen mitten unter uns seien ohnehin nicht vor 1985 zu befürchten.

Wie für andere bereits genannte Zukunftsdesigner ist es auch für Kahn eine ausgemachte Sache, daß Veränderungen in den Wertmaßstäben der Gesellschaft in naher Zukunft nicht zu erwarten sind. Die Anti-Kultur der Jugend habe ihren Höhepunkt bereits überschritten; eine weitere Verbreitung der von ihr propagierten Werte werde nicht erfolgen. Ohne Sachkenntnis und voll Hysterie, könnten ihre Führer keinen Einfluß auf das politische Geschehen gewinnen. Vielleicht stehe noch eine Art religiöser Gegenreformation bevor, wahrscheinlich aber würden sich die Wertmaßstäbe des amerikanischen Mittelstandes durchsetzen.

 

   4   Die Reformer     ^^^^  

 

Eine weitere Art, Zukunftsfragen zu behandeln — häufiger in Europa als in den USA —, ist jene Blickführung, die zunächst sich ein Bild von der Welt macht, wie man sie gerne haben möchte, und nach diesem Bild dann versucht, die Realität umzuformen, um eine möglichst große Annäherung an dieses Bild zu gewinnen. Futurologie vermischt sich hier mit Politik. 

Es ist dies die einzige Art von Futurologie, die hinter dem Eisernen Vorhang sich entfalten kann, da hier ja das Zukunftsziel — die Diktatur des Proletariats — vorweg bestimmt ist und es allein darum gehen soll, den dorthin führenden Prozeß zu beschleunigen.

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Die Zukunftsentwürfe dieser Art Futurologie weichen voneinander oft ab, sind aber kraß verschieden von jenen der Immergleich-Wachstumisten und den Perspektiven aus dem Hudson Institute. In jedem Fall erwartet diese europäische Richtung der Futurologie tiefgreifende soziale Umwälzungen.

Ein sehr sorgfältiger Versuch, Zukunftsdenken dieser Art auf Schwerpunkte anzusetzen, wurde vor etwa einem Jahr unter der Schirmherrschaft der <Europäischen Kulturstiftung> unternommen, und zwar im Zusammenhang mit einem Projekt, das unter dem Namen <Europa 2000> lief. Bereits 1971 hatte man vorbereitende Schritte unternommen, um Pläne für die Entwicklung von Landwirtschaft, Städten, Erziehungswesen und Industrie zu gewinnen. Die Mitgliederländer begründeten Arbeitsgemeinschaften, durch die Menschen ganz unterschiedlichen sozialen Hintergrunds über ihre Zukunftswünsche befragt wurden, wobei sie gleichzeitig die nach ihrer Meinung bestehenden Hindernisse und notwendigen Änderungen nennen sollten. Bei einem Treffen der Vertreter aller beteiligten nationalen Gruppen wurden dann diese Gedanken verwendet, um verschiedene Alternativbilder der Zukunft zu entwerfen.

Es ergaben sich dabei vier Grundmuster, deren Beschreibung ich hier kurz versuchen will, wobei ich mich meiner eigenen Ausdrucksweise bediene:

1. Eigenentwicklung im Wettbewerb: Das Wirtschaftssystem wird bestimmt vom freien Unternehmertum, wobei sich die Rolle des Staates auf seine Aufsichtsfunktion beschränkt. Das Privateigentum ist garantiert, und die Einkommen orientieren sich an der Leistung. Dies führt zu wachsendem Wohlstand, Bevölkerungsanstieg, mehr Freizeit und einer gewissen Dezentralisierung. Im großen und ganzen handelt es sich um die Weiterführung der gegenwärtig in den Industriestaaten Europas herrschenden Trends.

2. Lebensqualität: Sie wird erreicht durch planvolle Nutzung der zur Verfügung stehenden Kapazitäten. Die Idee einer ökologischen Abstimmung steht im Vordergrund, weshalb dem Wettlauf nach den Naturschätzen eine planmäßige Eindämmung der Überflußgesellschaft regulierend entgegengesetzt wird. Der Landwirtschaft ist nicht nur die Lebensmittelproduktion als Aufgabe gestellt, sondern auch die vernünftige Nutzung des Bodens und des Grundwassers. Die Wissenschaft hat sich um die Erhaltung der Rohstoffquellen der Erde zu kümmern. Die Erziehung der Kinder zielt auf Zusammenarbeit; regionale Autonomie der Verwaltung ist in Grenzen möglich.

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3. Selbstverwirklichung: Hier liegt der Schwerpunkt bei der menschlichen Individualität und ihrer Würde. Obenan in der Wertskala stehen schöpferische Freiheit und soziale Verantwortlichkeit. Es besteht die Tendenz zu einer Angleichung der Einkommen; Mindest­einkommen sollen garantiert werden. An der Entscheidungsbildung haben alle teil, Bürokratie und staatlicher Zwang werden abgebaut. Der einzelne ist frei, sein Leben nach Gutdünken zu gestalten. Die Kluft zwischen dem Leben in der Stadt und dem Leben in der ländlichen Provinz verschwindet, ebenso jene zwischen körperlicher und geistiger Tätigkeit. Arbeit soll sowohl Pflicht als auch persönliche Erfüllung sein. Genossenschaftliche Wirtschaftsweise in der Landwirtschaft und Zusammenschlüsse größerer Personengruppen zwecks gemeinsamer Lebensgestaltung werden verwirklicht.

4. Kommunismus: Die völlige Veränderung der Klassengesellschaft schafft eine Gesellschaft egalitären Typs. Privates Eigentum an Produktions­mitteln gibt es nicht mehr, und es wird nach gesellschaftlichen Gesichtspunkten entschieden, welche Güter produziert und welche Dienstleistungen erbracht werden. Die Landwirtschaft gewinnt an Selbständigkeit gegenüber der Industrie. Arbeit ist ein moralischer Ansporn, ein Recht, aber auch eine Pflicht. Jeder einzelne muß nach Maßgabe seiner Fähigkeiten seinen Beitrag leisten und wird entsprechend dafür entlohnt. Langfristige ökonomische Planung soll das Geld nicht zu einem Instrument kurzfristiger Machtentfaltung werden lassen. Oberste Werte sind Solidarität und Einfügung in die Gruppe.

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Es wäre zu wünschen, daß dieses Material in eine Form gebracht würde, die herauszufinden erlaubt, zu welchen Anteilen die Menschen in den verschiedenen Ländern Vorliebe für dieses oder jenes Konzept entwickelt haben. Es ist ein Zeichen unserer Rückständigkeit, daß derart grundsätzliche Fragen nie mit wissen­schaftlichen Methoden an die Menschen herangetragen worden sind.

Interessant ist, daß in allen hier skizzierten Konzeptionen sich eine Zielsetzung erkennen läßt, die das Auseinanderklaffen von Industrie und Landwirtschaft rückgängig machen möchte. Tatsächlich besteht auf der einen Seite eine gewisse Gemeinsamkeit zwischen den Selbstverwirklichern und den Wortführern der Lebensqualität, und sie unterscheiden sich grundsätzlich in ihrer harmonistischen, in die Natur sich einstimmenden, Gleichklang mit anderen Menschen suchenden Haltung von dem puritanischen Hintanstellen selbstbezogener Regungen, wie sie die kommunistische Sicht verlangt und wie sie in anderer Weise auch vom Konkurrenzkampf im Kapitalismus gefordert wird.

Nun scheint es doch leider so zu sein, daß in einer Welt, die sich an politischer und militärischer Macht orientiert, die idealistisch-schwärmerischen Vorstellungen weniger Verwirklichungschancen haben als solche, die der Realität des Bestehenden Rechnung tragen.

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    5    Läßt sich Zukünftiges voraussagen?   

 

Es ist gesagt worden, daß die Zukunft entweder nach irgendeinem göttlichen Plan determiniert sei — was Voraussagen möglich, Änderungen aber unmöglich mache — oder daß die Zukunft offen sei, was Änderungen zuließe, Voraussagen aber ausschließen müsse.

Zum Glück ist die Wirklichkeit nicht derart nach Entweder-Oder-Ausschließlichkeiten modelliert, wie dieses Paradoxon uns glauben machen will. Die Zukunft ist zwar nicht determiniert, sie ist andererseits aber auch nicht gänzlich offen; sie wird schon dadurch in Grenzen gehalten, daß sie sich ja nur aus dem Vorgegebenen der Gegenwart entwickeln kann. Der historische Prozeß hat sein eigenes Schwergewicht. Wir können daher Zukunft mit einiger Zuversicht voraussagen, wobei diese Zuversicht allerdings in dem Maße abnehmen muß, in dem wir in entferntere Zukunft zu blicken versuchen. 

Tatsache ist auch, daß Zukunftsprognosen Kräfte mobilisieren können, die einen Entwicklungstrend verändern und ihn gleichsam Lügen strafen, wodurch Voraussagen immer ein wenig Lotteriespiel bleiben. Um es deutlicher zu sagen: Wir sollten Warnungen von Prognosen unterscheiden. Wenn einer «Feuer!» schreit, dann will er damit nicht das Niederbrennen des Hauses als unvermeidbar voraussagen; er versucht vielmehr, ebendies zu verhindern, indem er auf Folgen hinweist, falls keine Gegenmaßnahmen ergriffen werden.

Die Futurologen neigen jedoch dazu, Entwicklungstrends einfach zu extrapolieren, ohne sich zu fragen, wieweit Gegenreaktionen zu erwarten sind. Der französischen Futurologengruppe Credoc war dies bewußt, als sie ein Bild der totalen Verstädterung Frankreichs bei gleichzeitiger Entvölkerung des flachen Landes entwarf und die vorläufige Natur einer solchen Projektion unterstrich, indem sie von einer «Durchspielung des Unannehmbaren» sprach.

Aber noch aus einem anderen Grund ist die Verlängerung von Trends in die Zukunft keine geeignete Methode. 

Jedermann, der im 19. Jahrhundert Zukunfts­perspektiven für den Pferdedroschkenverkehr entworfen hätte, dürfte ein enormes Anwachsen bis in unsere Tage vorausgesagt haben. Aber durch die Entwicklung des Automobils hatte die Pferdedroschke keine Zukunft mehr. Eine Veränderung wirtschaftlicher Bedingungen kann Entwicklungen umkehren; so nahm während des 19. Jahrhunderts die Beschäftigung von Dienstpersonal zu, während sie in den letzten Jahrzehnten im Abnehmen begriffen ist.

Jene Art von Zukunftsprognosen, über die wir uns einen Überblick verschafft haben, sind selbst dann von begrenzter Brauch­barkeit, wenn sie sich als richtig erweisen. Denn auf lange Sicht gesehen bedeutet es wenig, zu erfahren, daß Atomkraft ein Viertel unseres Strombedarfs decken wird oder daß in der Geschäftswelt Kandidaten mit geisteswissenschaftlicher Vorbildung mehr Chancen haben werden als Naturwissenschaftler.

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Die Feststellung, daß seit der Renaissance sich die Menschheit um ein neues Selbstverständnis bemühe, trifft einen Aspekt unserer Gesellschaft wesentlich genauer, der den Futurologen entgeht. Was das Leben wirklich von Grund auf zu ändern vermag, sind neue Wege des Denkens, neue Wünsche und Erwartungen, neue Verhaltensweisen gegenüber der Gesellschaft und von Mensch zu Mensch. Das interessanteste Faktum, das ein mittelalterlicher Futurologe hätte voraussagen können, wäre doch das Aufbrechen des mittelalterlichen Weltbildes und die Heraufkunft des Rationalismus gewesen. Nützlich und interessant hätte ebenso eine Prognose im Jahr 1950 sein können, welche die Entwicklung einer permissiven Gesellschaft in allen ihren Details vorausgesehen hätte: die Nachlässigkeit der Kleidung wie die sexuelle Freiheit, die Gleichgültigkeit wie das Verschwinden äußerlicher Unterscheidungs­merkmale zwischen den Geschlechtern. Solche Voraussagen sind jedoch nicht gemacht worden. Damals, nach dem Weltkrieg, hätte man eher auf eine Wiedererstehung des Nationalsozialismus getippt.

Nimmt in der Welt das Maß der Ungerechtigkeit ab? Nimmt die Gewalt zu? Wird es zu einer Wiederbelebung im Bereich des Religiösen kommen? Oder steht eine neue Form von Totalitarismus bevor? Sind die Tage der Kunst gezählt? Wird der Menschheit mehr Glück zuteil werden? 

Das sind Fragen, auf die wir gern Antworten hätten - aber da schweigen unsere Führer in die Zukunft.

Falls die Futurologie tatsächlich eine brauchbare Disziplin werden soll, muß sie sich mit der Dynamik sozialen Wandels befassen und ihre Vorhersagen durch eine Theorie absichern, welche die Umverteilung von Machtverhältnissen zwischen sozialen Gruppen und Veränderungen im menschlichen Streben wie in den Grenzen des Duldenkönnens in Rechnung stellt.

Wir brauchen offenbar eine Methode, die soziale Veränderung als Ganzes behandelt. Ebenso, wie wir Wachstums- und Entwicklungsvorgänge in der Biologie mittels ganzheitlicher Terminologien beschreiben (»die Knospe entfaltete sich zur Blume»), so müssen wir auch soziale Entwicklungsvorgänge ganzheitlich beschreiben. Dies vorausgesetzt, läßt sich das Ganze in Teilprozesse aufspalten, die dann weiterer Analyse unterzogen werden. Wir können nicht vom Detail zum Ganzen gelangen ohne umfassende Kenntnis von der Natur und den Möglichkeiten jedes einzelnen Elements. Wir verfügen aber über eine solch detaillierte Kenntnis nicht einmal für biologische Systeme, um so weniger aber für soziale.

Voraussagen anhand bestehender Trends werden auch leicht durch unerwartete Ereignisse widerlegt, die günstiger oder ungünstiger Natur sein mögen.

Die Pest hat die Entwicklung des mittelalterlichen Europa verändert, indem sie menschliche Arbeitskraft rar werden ließ, wodurch die Kornpreise anstiegen, was wiederum kriegerische Auseinandersetzungen nach sich zog. Auch die Erfindung der Dampfmaschine hat den Gang der Geschichte verändert, vielleicht zu ihrem Guten. Allerdings dauert es bei den günstigen Ereignissen oft lange, bis sie zu Buche schlagen, während die Katastrophen in aller Schärfe wirken - aus dem gleichen Grund, warum die Herstellung einer Sache länger dauert als ihre Zerstörung.

Was aber könnte in den nächsten Jahrzehnten eintreffen, das geeignet wäre, allen Voraussagen in positiver Weise entgegenzuwirken?  

Vielleicht die Erfindung einer leichten und raumsparenden Vorrichtung zur Speicherung von elektrischem Strom; oder künstliche Photosynthese, wodurch wir wie die Pflanzen Energie aus Sonnenlicht gewinnen könnten. Uns stünde dann sowohl eine billige Energiequelle als auch ein praktischer Energiespeicher zur Verfügung. Die Ernährungsfrage könnte sich ganz anders stellen, sofern es gelänge, stickstoffbildende Bakterien, die sich an Pflanzen aus der Ordnung der Hülsenfrüchte ansiedeln, auch an Pflanzen anderer Gattungen kultivieren, da hierdurch die Pflanzen selbst den Boden düngen könnten. Mittel zur Steigerung menschlicher Intelligenz wären noch nützlicher.

Allerdings müßte man bis zur Anwendung solcher Neuerungen mit Jahrzehnten rechnen. Der Verbrennungs­motor war bereits im 19. Jahrhundert erfunden worden, hat aber fünfzig Jahre lang das Leben kaum verändert. Zwar entwickeln sich heute die Dinge meist schneller, doch müßte man wohl immer noch mit einer Generation rechnen, bis neuartige Stromspeicher oder stickstoff­bildende Bakterien als Dünger allgemein im Gebrauch wären. Da müssen Fabriken gebaut werden, da sind Fehler rückgängig zu machen, vor allem aber müssen die Leute zum Mitmachen überredet werden. 

Es sind also nicht die positiven Entwicklungen, sondern die Katastrophen, die für den Zeitraum der nächsten fünfundzwanzig Jahre alle Prognosen durch­kreuzen könnten. Es sei daher versucht, katastrophale Möglichkeiten in Betracht zu ziehen.

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Gordon Rattray Taylor  1975  Zukunftsbewältigung