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    3 - Sozialer Verfall     Taylor-1975

 

Gewalt verändert die Welt; aber die Veränderung ist mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Veränderung in eine gewaltsamere Welt.   Hannah Arendt in <On Violence>

    1 Dreipartnerverbrechen  -  2 Die neuen Terroristen       3 Lob der Gewalt       4  Das Mysterium des Nihilismus      5 Gewalt der Machthaber: Terror   

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   1  Dreipartnerverbrechen   

Der Bürgermeister des modischen Mittelmeerbades Saint-Tropez erhielt 1974 die Warnung, man werde Bomben in der Stadt legen, wenn er weiterhin das Nacktbaden erlaube. Ob dies nun eine ernst zu nehmende Drohung war oder nur ein Versuch, durch satirische Übertreibung die verbreitete Neigung zur Gewalt gegen unschuldige Dritte ins Licht der Absurdität zu stellen, war nicht zu ermitteln. Zweifellos aber haben derartige Drohungen gegen zunächst unbeteiligte Dritte in den letzten Jahren enorm zugenommen, und es spricht vieles dafür, daß sie künftig noch häufiger auftreten werden.

In Italien sind seit 1960 dreihundert Entführungen verübt worden, wobei es um Lösegeldsummen in Höhe von 30 Millionen Dollar ging — und dies nur in einem einzigen Land. Bombenanschläge gehören zum täglichen Brot der Nachrichtenmedien, bald von Arabern, bald von der IRA, bald von der Baader-Meinhof-Gruppe oder durch die Weathermen und ihre Nachfolger in den USA, die Vereinigte Rote Armee Japans und andere Terrorgruppen.

Das State Department der USA legt es Geschäftsleuten vor Südamerikareisen nahe, sich anhand einer Broschüre über Verteidigungs­möglichkeiten bei Überfällen von Terroristen zu informieren. Ein Raketenwerfer und sieben Mörser wurden auf der Bude eines Studenten (!) der East Anglia University gefunden. Das Massaker auf dem Flugplatz von Lod und bei den letzten Olympischen Spielen ist noch in Erinnerung.

Bislang sind kaum ernsthafte Versuche unternommen worden, mit dieser neuen Art von Gewalt fertig zu werden, wiewohl wir annehmen müssen, daß es damit zunehmend schlimmer wird, was bei allen Zukunfts­überlegungen zu berücksichtigen wäre. Die Regierungen der Welt sahen keine Möglichkeit, sich über eine Regelung zu einigen, kraft der Flugzeugentführer gerichtlich belangt werden könnten, obgleich sie häufig Besitzer der teuren Flugzeuge und damit unmittelbar Betroffene sind.

Von den 28 palästinensischen Terroristen, die sich 1973 verschiedenen arabischen Regierungen ergaben, ist kein einziger bestraft worden. Von rund 80 Terroristen aus fünf Jahren wurden etwa ein Dutzend gerichtlicher Aburteilung zugeführt, die meisten allerdings wieder in Freiheit gesetzt. 

Es scheint eine gewisse Bereitschaft zur Verdrängung solch unschöner Tatsachen zu bestehen — viele hoffen, daß bei Nichtbeachtung der Unannehm­lichkeiten diese von selbst verschwinden. 

Sie werden allerdings nicht von selbst verschwinden.  

Wenn ich an solche unguten Vorfälle erinnere, so deshalb, weil sie ein wichtiges Element im Gesamtbild der Auflösung sozialer Faktoren des Zusammenhalts darstellen, das hier untersucht werden soll. 

Dies mag uns warnen, daß unsere Zivilisation allgemein in Gefahr steht, und daß wir da genauer hinschauen müssen. Denn einerseits spricht sich in solchen Vorfällen eine Absage an demokratische und rationale Verfahrens­weisen allgemein aus; vor allem aber wird hier die Meinung der Mehrheit mißachtet. Gleichzeitig aber zeugen sie von mangelnder Einsicht in die Belange anderer, die nachgerade psychotisch genannt werden muß. Keine Gesellschaft kann sich ein Überhandnehmen dieser Einstellung leisten.

Das Charakteristikum derartiger Verbrechen ist nicht ihre politische Motivation — es gibt auch unpolitische Verbrechen ähnlicher Art —, sondern vielmehr der Umstand, daß drei Partner durch das Verbrechen verkettet werden: der Verbrecher selbst, dann der vom Verbrecher bedrohte Partner und schließlich der eigentliche Zielpartner, der durch das Verbrechen zu einem bestimmten Tun gezwungen werden soll. 

Ich nenne diese Art Kriminalität daher Dreipartner­verbrechen. Sie stellen moralische Erpressung verächtlichster Art dar, und die Untersuchung solcher krimineller Akte soll nichts an unserem Abscheu gegen sie ändern. 

Der Terrorist erpreßt das Gute in anderen Menschen, er setzt auf die Hemmungen gesitteter Menschen, andere sterben zu lassen. Um so höher die Gesittung seiner Widersacher ist, desto schwächer sind diese gegenüber dem Terror. In einer Diktatur kann sich eine Regierung der vorgehaltenen Pistole erwehren; in demokratischen Ländern ist dies viel schwieriger. So drängt der Terrorist die Welt geradezu in autoritäre Reaktionen hinein und treibt sie damit in jene Barbarei zurück, der die Menschheit gerade erst halb entwachsen ist.

Da er im internationalen Rahmen operiert, nützt er weiter die Gegensätze zwischen den Staaten aus.

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Gewiß hat es Entführungen mit Lösegelderpressungen auch schon früher hier und da gegeben, wenn dies auch immer Ausnahmefälle blieben; nicht ungewöhnlich war allerdings Geiselnahme im Krieg, etwa um einen Parlamentär zu sichern.  

Heutzutage aber hat die Entwicklung der Technik solchen Aktionen eine ganz andere Größenordnung verliehen, hat auch ihre Ausführung ungleich leichter gemacht. Mit Schußwaffen lassen sich unbewaffnete Bürger leichter entführen, und im Auto sind die Entführer mit ihrem Opfer davon, ehe dieses noch geschrien hat.  

Mit Sprengstoffen ist es ebenfalls leicht, eine große Anzahl von Menschen unterschiedslos in Schrecken zu setzen, wobei die Bedrohten noch nicht einmal immer gewarnt werden können, wodurch der Druck auf den Zielpartner verstärkt wird. Andererseits machen die Gegebenheiten des modernen Verkehrs wie die exakte zeitliche Abstimmung der damit verbundenen Vorgänge es dem Kriminellen leicht, Bomben ohne Risiko für seine Person zu legen. Sollte sich die Technik des Bombenlegens durch den allgemeinen technischen Fortschritt noch weiter verfeinern lassen, so wäre sie damit noch leichter handhabbar und noch zerstörungsmächtiger geworden — das Leben könnte dann leicht einen Grad von Unerträglichkeit erreichen, der jede Gesellschaft zum Auseinanderbrechen verurteilte.

Es sind indes weniger die gewöhnlichen Verbrechen, die uns auf diese Weise bedrohen, als vielmehr jene, die politische Zielsetzungen für sich in Anspruch nehmen. Wer sich intensiver mit politischen Terroristen befaßt, wird die psychopathologischen Komponenten nicht übersehen können. Der Verdacht ist so abwegig nicht, daß für viele die Politik nur als rationalisierende Entschuldigung für Aggressionsakte dient, die sie ihre Psyche ohnehin zu begehen zwingt. Bei manchen ist die treibende Kraft ein pervertierter Drang zur Selbstbestätigung. Sich vor aller Augen betätigen zu können und dadurch im Brennpunkt weltweiter Aufmerksamkeit zu stehen, ist ein gemeinsames Motiv von Flugzeugentführern wie anderer mit Mord drohender Gewalttäter. (Bezeichnend ist, daß ein arabischer Terrorist erklärte, er habe an solchen Unternehmungen teilgenommen, weil er «jemand sein wollte».) 

Daneben mag es auch eindeutige Nihilisten oder sogar Sadisten geben. Rose Dugdale, «Freiheitskämpferin» von eigenen Gnaden, pflegte Feuerzeugbenzin über ihre Hände zu schütten und es anzuzünden, während ihre Freunde sich vor Verlegenheit wanden, und solches Verhalten mag mehrfach motiviert sein. Daß sie ihre Fingernägel bis auf die Kuppen abbeißt, ist ein geradezu klassisches Symptom gestauter Aggression. In den ausgeklügelten Strafmethoden der IRA — Zerschießen der Kniescheibe, Zerschmettern des Unterkiefers, von Schlimmerem ganz zu schweigen — steckt deutlich ein gerüttelt Maß an Sadismus. Bis zum Oktober 1974 wurde 110 Männern und Frauen die Kniescheibe zerschmettert, nicht nur mit Schüssen, sondern auch mit Elektrobohrern.

Sadismus wird gleichfalls erkennbar in terroristischen Methoden, wie sie von Freischärlern auf den Philippinen und anderswo angewandt werden. Es handelt sich dabei keineswegs um Affekthandlungen und Exzesse im Kampfgeschehen, sondern um Anweisungen, die zuvor im Druck niedergelegt worden sind. «Töte nicht nur ... mache deinen Feind zum Krüppel ... stich ihm die Augen aus ... schneide ihm die Arme ab ... und hänge ihn auf», empfiehlt die Studentenzeitschrift <Ez-Zitouna> in Tunis. Auf den Philippinen ließen Rebellen Männer durch Pferde in zwei Hälften zerreißen — von anderem zu schweigen.

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Durch ihre noch so häufig abgelegten Bekenntnisse für politische Zielsetzungen können solche Terroristen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß ihnen eine echte politische Motivation fehlt, denn die politische Erfahrung hat hinreichend gezeigt, daß unterschiedslose Akte des Terrors einer politischen Sache niemals voranhelfen. 

Vor einer Reihe von Jahren hatten die Vietcong noch wahllos Bombenanschläge unternommen, lernten jedoch bald, daß sie sich dadurch nur Feinde schufen. Derartige Aktionen wurden dann verboten, wenngleich gezielter Terror, etwa zur Sicherstellung der Gefügigkeit eines Dorfältesten, weiterhin zur Anwendung kam.

Es soll damit nicht gesagt werden, daß Terrorismus in keinem wirklichen Zusammenhang mit Politik stehe. Immerhin gibt es Regierungen, die den Terroristen das Geld zuschieben und ihnen moralisch den Rücken stärken. Und vielfach soll die Anwendung von Terror den Zusammenbruch einer Gesellschaft bewirken, damit eine neue Macht mit hartem Durchgreifen nunmehr die ihr genehme Ordnung schaffen kann.

 

   2  Die neuen Terroristen   

 

Nicht nur Geld, sondern auch Waffen und Ausbildung werden heute Terroristen auf internationaler Ebene zur Verfügung gestellt. Als Ulrich Schmücker, der 22 Jahre alte Sprengstoffsachverständige einer kleinen deutschen revolutionären Gruppe, die sich als «Bewegung 2. Juni» bezeichnet, von der Polizei festgenommen wurde, sagte er aus, die Gruppe sei ständig von arabischer Seite gegen Bezahlung mit Ausrüstung beliefert worden. (Gewehre und Granaten kosteten 5000 DM.) Doch nicht nur Waffen wurden angeliefert — die Gruppenmitglieder konnten sich auch für einige Zeit im Libanon dem möglichen Zugriff deutscher Behörden entziehen, wofür 3000 DM zu zahlen waren, oder aber für 10.000 DM an einem militärischen Ausbildungslehrgang teilnehmen. (Nach seiner Entlassung aus der Haft wurde Schmücker von Mitgliedern der Gruppe wegen Geheimnisverrats «hingerichtet».)

 wikipedia  Schmücker-Prozess  1976-1991

Es ist klar, daß die Sowjetunion manche subversiven Gruppen unterstützt, und wie von westlichen Geheimdiensten mitgeteilt wurde, haben sowohl der KGB wie sein Gegenstück für Armeeangelegenheiten, der GRU, zur Ausbildung, Ausrüstung und Finanzierung der Volksfront für die Befreiung Palästinas beigesteuert. Solche Hilfeleistungen wurden über fünf Jahre aufrechterhalten, und sie schlossen auch die Ausrüstung mit Boden-Luft-Raketen vom Typ SAM-7 ein. Juri Iwanow Startschinow, der vor drei Jahren Militärattache an der Sowjetischen Botschaft im Libanon wurde, soll hinter dieser Gruppe stehen, deren Gründung seinem Vorgänger zugeschrieben wird.

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John Barron, Redakteur von Reader's Digest, hat in seinem Buch «KGB» die Ansicht vertreten, daß der KGB beide Flügel der IRA bewaffnet und ausgebildet habe und «ziemlich offen Mittelsmänner nach Irland schicke», die mit Rat und Tat helfen. Ein Korrespondent der <Prawda>, Juri Jasnew, wird als Kontaktmann genannt, doch sei das eigentliche Ausbildungszentrum in Kuba gewesen. Gewiß ist allerdings soviel, daß von der IRA Handfeuerwaffen und Raketenwerfer sowjetischer Herkunft verwendet werden. 

Oberst Gaddafi hat sich in einem Interview 1973 in Paris gerühmt, daß seine Regierung nicht allein die palästinensischen Guerillas finanziert habe, sondern auch die IRA «und viele andere» revolutionäre Gruppen. «Die Regierung Libyens und wohl noch die eine oder andere Regierung arabischer Staaten haben die Aktionen der Palästinenser zweifellos unterstützt. Weniger bekannt ist, daß es auch Anzeichen für eine Unterstützung durch die Sowjetunion gibt», bemerkt der <Economist> und weist darauf hin, daß die Mitglieder der Baskischen Befreiungsfront bei einer Pressekonferenz Waffen tschechoslowakischer Herkunft trugen, daß die Palästinenser mit russischen Kalaschnikow-Sturmgewehren kämpfen und daß russische Luftabwehrraketen vom Typ «Strela» nach Italien und Belgien eingeschmuggelt wurden. Da es sich bei dem letztgenannten Waffensystem um eine recht neue Entwicklung handelt, ist es unwahrscheinlich, daß es von internationalen Waffenhändlern verkauft wurde. Auffallend ist auch der Umstand, daß Palästinenser verschiedentlich Ost-Berlin zum Ausgangspunkt ihrer Aktionen gemacht haben.

Extremisten erhalten natürlich nicht nur Unterstützung durch interessierte Regierungen, sondern unterstützen sich auch gegenseitig. Sie bilden eine Art internationaler Verschworenengemeinschaft. So erhielt die Volksfront für die Befreiung Palästinas Hilfe aus Japan, der Türkei, der Bundesrepublik und Amerika. Zu Beginn des Jahres 1974 knackte die Polizei in Paris eine Terroristenzelle, deren Mitglieder Türken und Palästinenser waren. Wenige Tage später wurde am Londoner Flughafen Heathrow eine Gruppe festgenommen, die aus einem Pakistani, einem Marokkaner und einer Amerikanerin bestand. Selbst Koreaner sollen in Nord-Irland schon aktiv geworden sein. Die IRA pflegt auch enge Kontakte mit der baskischen ETA und der Bretonischen Befreiungsfront. Mitglieder der verbotenen Gruppe für ein freies Quebec rühmten sich, daß sie eine Guerillaausbildung in Jordanien und Kuba erhalten hätten.

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Es ist letztlich der Stand der technologischen Entwicklung, der solche internationalen Aktionsgemeinschaften möglich macht, da schnelle Verkehrswege und Nachrichtenkanäle die ständige Fühlungnahme der Gruppen untereinander ermöglichen. In seinem 1973 erschienenen Buch «To-day's Revolutionaries» sagt Ian Greig, daß Gelder für die Black-Power-Bewegung in Großbritannien aus Moskau, Peking, Daressalam, kommunistischen Quellen in Belgien und wenigstens in einem Falle auch aus Kuba zuflossen.

Haben sich terroristische Techniken erst einmal in einem Land als erfolgreich erwiesen, so finden sie in anderen Ländern schnell Nachahmung. Nachdem brasilianische und guatemaltekische Kidnapper ausländische Diplomaten entführt hatten, griffen sich auch argentinische Guerillas Geschäftsleute. Ihr Beispiel fand dann in Belfast Nachahmung, wo ein deutscher Industrieller entführt wurde. In ähnlicher Weise haben die Araber die Technik der Flugzeugentführungen von Abenteurern gelernt, die auf diese Weise aus den USA nach Kuba gelangten. Sprengsätze am Auto, gelegentlich von der Mafia der Vereinigten Staaten verwendet, wurden von der IRA und später auch von der baskischen Terroristengruppe ETA in Nordspanien angewendet.

Andererseits werden nun wiederum terroristische Techniken von gewöhnlichen Kriminellen übernommen. Bankräuber nehmen Geiseln, und Kidnapper haben erkannt, welche Gelegenheit die Entführung prominenter Geschäftsleute bietet, da sich mit solchen Geiseln leicht Geld von den reichen Firmen erpressen läßt, in deren Dienst die Entführten arbeiten. Für die Freilassung des Ölmanagers Willkie zogen Gangster nach Schätzungen 1 Million Dollar aus den Tresoren der Amoco an Land, während zu Anfang des Jahres 1974 für einen Manager der französischen Autofirma Peugeot, M. Boisset, 3 Millionen Dollar gezahlt worden sein sollen. Allein in Argentinien wurden im Jahr 1973 vierhundert Fälle von Personenraub registriert.

Viele dieser Entführungen gingen auf Kosten der ERP, der Volksrevolutionäre, die auf diese Weise über 30 Millionen Dollar zusammenbekommen haben sollen, einschließlich des Rekordlösegeldes von 14,2 Millionen Dollar, welches von der Erdölfirma Exxon für den Generalbevollmächtigten der Campana-Raffinerie Samuelson gezahlt wurde. In anderen Fällen ging es offenbar weniger um die Beschaffung von Geld als um blinde Rache: Internationale Post- und Telegrafenämter waren in Nürnberg, Berlin, New York, Rom und Paris das Ziel von Sprengstoffanschlägen, hinter denen die deutsche Gruppe «Schwarze Hilfe» und eine französische Gruppe mit dem programmatischen Namen «Wir müssen handeln» standen, nachdem in einem Buch über ihre politischen Aktivitäten berichtet worden war. Palästinensische Gruppen wie die Volksfront für die Befreiung Palästinas richteten Angriffe gegen prominente jüdische Geschäftsleute. Nicht mehr als eine Drohung scheint jedoch nach Ansicht des <Economist> hinter einer angeblichen Gruppe zu stehen, die sich «Freunde der Vereinten Nationen» nennt und Maßnahmen gegen Firmen mit Geschäftsinteressen in Südafrika ankündigt.

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Doch auch die bloße Drohung mit Sabotage kann wirksam sein, und es wird behauptet, daß die Volksfront für die Befreiung Palästinas von vier Luftfahrt­gesellschaften, die den Flugplatz von Lod anfliegen, ein Schutzgeld erhalte. «Es spricht manches dafür, daß künftige Erscheinungsformen ... Sabotage­androhungen gegen besonders verletzliche und leicht zu zerstörende Einrichtungen wie Ölleitungen, Ölraffinerien und Computeranlagen einschließen werden», meint der <Economist>.

Die Rücksichtslosigkeit und Abgefeimtheit, mit der solche Gruppen ihr Ziel verfolgen, wird augenfällig in den Anweisungen eines während der Entführung von Patty Hearst durch die Black Liberation Army Kaliforniens herausgegebenen Handbuchs: «1. Beträgt die bis zur Übergabe des Lösegeldes gesetzte Frist eine Woche oder weniger, so sollte die Geisel unterirdisch in Gewahrsam gehalten werden, mit soviel Nahrungsmitteln und Wasser versorgt, daß sie durchkommt. Die Terroristen können dann entweder den Aufenthalt der Geisel bekanntgeben, ohne daß sie sich ihr noch einmal nähern müssen, oder sie aber bei nicht erfolgter Zahlung eines Lösegeldes verhungern lassen. 2. Ist nur eine Frist von 24 Stunden gesetzt, so sollte das Opfer betäubt werden und im Kofferraum eines Wagens liegen bleiben. Bei Nichtauszahlung des Lösegelds kann es dann von einem vorüberfahrenden Wagen aus mit Vollmantelgeschossen durchsiebt werden.»

Der <Economist>, der diese Anweisungen im Auszug bringt, schließt folgenden Kommentar an:

«Es werden auch zunehmend Terroristen, die in ihrem eigenen Land keinen Erfolg hatten, im Ausland leichtere Ziele suchen. Einige der ausgewiesenen südamerikanischen Revolutionäre dürften als erste in dieser Richtung aktiv werden. Zu kaum weniger Besorgnis gibt die Entstehung einer Möchtegern-Guerilla unter Minderheiten in Westeuropa Anlaß. Die Aktivitäten solcher Gruppen bilden eines der Alltagsrisiken, mit denen Firmen wie Regierungen zu rechnen haben.»

Das größte terroristische Potential dürfte gegenwärtig in der arabischen Welt konzentriert sein. Nimmt man zusammen Al Fatah, die Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP), die Demokratische Volksfront für die Befreiung Palästinas (PDFLP), AI Sa'iqa (den syrischen Ba'athisten nahestehend, dazu den «Schwarzen September», so ergibt sich für das Jahr 1972 eine Gesamtzahl von etwa 14.000 Mitgliedern von terroristischen Organisationen, wenn man die Angaben des Institute for the Study of Conflict zugrunde legt. Eine japanische Gruppe, die mit arabischen Terroristen zusammengearbeitet hat, die Vereinigte Rote Armee, wird auf 300 Anhänger in Japan geschätzt, wo sie allerdings nicht sehr in Erscheinung trat.

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Frauen sind unter den Terroristen mehrmals spektakulär hervorgetreten, und ein Sicherheitsexperte namens Peter Hamilton meint, daß in jeder Terroristen­gruppe zumindest der stellvertretende Führer eine Frau sei. Er weiß auch, daß in der Schweiz eine Schule betrieben wird, in der «anti-men women» in Guerillatechnik unterwiesen werden.

Bisher ist wenig unternommen worden, um die Motive zu erhellen, die Menschen dazu bringen können, andere Menschen bereitwillig aus der Welt zu schaffen. Jene Männer, die das Blutbad bei der Münchener Olympiade auslösten, wurden als junge, gut erzogene Leute beschrieben, die sich auf französisch, deutsch und englisch auszudrücken verstanden. Die Mitglieder der Vereinigten Roten Armee Japans kamen aus Kreisen des mittleren Bürgertums. Die Anfangsführer dieser Gruppe waren der Sohn eines Hotelbesitzers und die Tochter eines Geschäftsmannes.

Als die japanische Polizei Mitglieder dieser Vereinigten Roten Armee In einer abgelegenen Berggegend nördlich von Tokio verfolgte, stieß sie auf eine Reihe von Leichen, alles ehemalige Mitglieder dieser Bewegung, die wegen «Abweichlertum» gefoltert und erwürgt worden waren. Wie sich herausstellte, waren einige wegen mangelnder revolutionärer Entschlossenheit für schuldig befunden worden, andere wegen «bourgeoiser Neigungen» (so wegen einer Liebesgeschichte zwischen einem der Jungen und einem Mädchen). Ein anderes Mädchen war getötet worden, weil sie schwanger wurde. Eine Frau hatten sie zur Tötung ihres Mannes gezwungen, zwei Jungen zur Tötung ihres Bruders. Der Schauer, der einem beim Lesen solcher Tatbestände überfällt, resultiert wie bei den Morden Mansons und seiner «Familie» in Kalifornien aus der Abartigkeit der Motivation.

 wikipedia  Rote_Armee_Fraktion_(Japan)

In eklatanter Weise stellen politische Dreipartnerverbrechen eine Abkehr von demokratischer Entscheidungsbildung dar. Wer sie begeht, hat alle Hoffnung aufgegeben, seine Ziele auf dem üblichen Wege zu verwirklichen, weshalb er zur Gewalt greift.

Hier befinden wir uns bereits auf der langen, abschüssigen Bahn, die schließlich zur Diktatur der rücksichtslosesten Kräfte führen muß. 

Wie aber kann dies vermieden werden? Sicherlich müssen wir Unterscheidungen machen. Es gibt ja Fälle, in denen Regierungen sich völlig über Erwartungen und Bedürfnisse eines Volkes hinwegsetzen und deren Artikulierung brutal unterdrücken — Gewaltanwendung gegen die Regierung wird dann von der Zustimmung breiter Bevölkerungsschichten getragen. Entweder muß eine solche Regierung nachgeben, oder sie riskiert ihren Sturz. Ziemlich häufig aber werden gewaltsame Aktivitäten gegen den Staat von kleinen Gruppen einer Minderheit getragen, die sich keineswegs auf die Zustimmung des ganzen Volkes berufen können — so etwa in Nord-Irland, wo Befragungen wiederholt ergeben haben, daß die Mehrheit der Bürger ein Verbleiben im Vereinigten Königreich wünscht. Ähnlich liegen die Dinge bei faschistischen Gruppen in Italien und extremen Linksgruppen in Großbritannien sowie bei Gruppen beider Richtungen in Frankreich. 

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In an diesen Fällen ist die einzige radikale Lösung — und radikal bedeutet: «an der Wurzel ansetzend» —, daß untersucht wird, aus welchen Ursachen diese Extremisten in Gegensatz zur Gesellschaft geraten sind. Es ist also zu fragen, warum sie eine so feste Überzeugung von der Rechtmäßigkeit ihres Vorgehens entwickeln können, daß sie dieses selbst gegen den klaren Erweis des Gegenteils verteidigen. Eine solche Haltung erinnert an die Unüberzeugbarkeit von Vertretern der Hohlwelttheorie oder an die starren Glaubenssätze mittelalterlicher Häretiker.

 wikipedia  Hohlwelttheorie

Man hat die Neurose als Abwehrhaltung definiert, die zwar an sich ganz natürlich, aber durch Erstarrung und den Überschlag ins Extreme gekennzeichnet sei. So ist es vernünftig, sich die Hände zu waschen, aber der Neurotiker wäscht sie hundertmal am Tag. So gesehen entpuppen sich die meisten Extremisten als Neurotiker. Gegenwärtig verfügt die Gesellschaft noch nicht über sehr viele Möglichkeiten, ihnen zu helfen. Gewiß, durch Koagulation bestimmter Gehirnzentren lassen sich neurotische Impulse ausschalten — aber daß von Staats wegen ein Recht bestehen soll, Eingriffe im Gehirn politischer Gegner vorzunehmen, liegt außerhalb des Wünschenswerten. 

Immerhin gibt es therapeutische Betreuung, und Betreuung von Menschen, die mit der Gesellschaft im Konflikt stehen, ist gängige Praxis. Allerdings zeigt das Beispiel Rußlands, wo Regimegegner durch therapeutische Maßnahmen an öffentlicher Kritik gehindert werden, daß auch hier Mißbrauchmöglichkeiten gegeben sind. Auf lange Sicht bleibt also nur, die sozialen Bedingungen der Neurose — und es sind nicht zuletzt auch Familienbedingungen — so weit wie möglich auszuschalten. Dies wäre allerdings ein Weg, der viel Zeit erfordert.

Nun besteht aber eine weitverbreitete Tendenz, Haltungen, die sich gegen die Gesellschaft richten, nicht als negativ zu bewerten, sondern sie zumindest in Teilbereichen zu akzeptieren.

 

   3  Lob der Gewalt    

  

Eine auffällige Erscheinung der gegenwärtigen Entwicklung sind die durchdachten Rechtfertigungen der Gewalt, die man wohl nur mit etwas Sympathie­vorgabe als «Philosophie» bezeichnen möchte. Vorgebracht von Intellektuellen extrem linker Position, fanden sie bereitwillige Aufnahme in der jüngeren Generation, ungeachtet der enthaltenen Irrationalismen.

Deutsche wie französische Autoren, vor allem Nietzsche und Sorel, können als Begründer dieser Denkrichtung angesehen werden. Stets ist das Lob der Gewalt verbunden mit der symbolischen Auflehnung gegen die Autorität des Vaters, wobei die «Söhne» diese Autorität ihrerseits durch ein Mehr an Autorität zu übertrumpfen suchen.

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Frantz Fanon, aus Martinique stammender schwarzer Psychiater, ist während der vergangenen Jahre ein wichtiger Wortführer dieser Richtung gewesen, und sein Erfolg dürfte gerade aus der mystischen, ratiofernen Haltung seiner Schriften zu erklären sein. Denn für Fanon ist Gewalt nicht etwa nur eine bedauerliche Notwendigkeit, sondern vielmehr ein Wunschziel. Die «reinigende Flamme der Gewalt» lasse die Verdammten zur Wiedergeburt gelangen, mache sie schön und heilige sie, schrieb er in seinem Buch «Die Verdammten dieser Erde». Auch die Frau habe ein Recht auf Gewaltanwendung: «indem sie zur Gewalt greift, wird sie ein ganzer Mensch».

Während des Zweiten Weltkrieges waren Tausende von französischen Seeleuten, die sowohl vor Hitler wie vor den Engländern geflohen waren, nach Martinique eingeströmt. Als gebürtiger Martiniquais war Fanon völlig in der französischen Kultur groß geworden, war er seinem Selbstverständnis nach Franzose und mußte nun mit anhören, wie seine Landsleute von der Insel durch die vermeintlichen Landsleute aus dem Mutterland als «Schwarze Affen» verhöhnt wurden. So wurde er zu einem erbitterten Wortführer der antikolonialen Erhebung. Eine Kolonie, die sich durch Gewalt befreit habe, reinige sich dadurch selbst von allem Übel, lautete seine These. Durch Gewalt stelle sich ein Gemeinschaftsgefühl her; der Akt der Befreiung werde «geheiligt durch Blut». 

Er lebte lange genug, um noch zu sehen, was Gewalt wirklich eintrug: schwache, korrupte und unfähige Verwaltungen, die sich nur wieder durch Gewalt, Unrecht und Terror halten konnten.

Fanons Schriften sind nicht nur weithin im Irrationalen verankert, sondern stehen einfach auch im Widerspruch zu den Fakten. «Kolonialherrschaft kann immer nur durch Gewalt abgeschüttelt werden», erklärt Fanon ungeachtet gegenteiliger Beispiele. «Die bäuerliche Bevölkerung ist allein revolutionär», und die Bauern akzeptierten die moderne Medizin als eine revolutionäre Waffe, meinte er an anderer Stelle. 

Sexuelle Abartigkeit sei bei Negern nicht zu finden; allein der Europäer, der seine Sexualität zugunsten des beruflichen Fortkommens unterdrücken müsse, werde dadurch pervertiert — Anleihen beim Freudschen Modell mit dem Ziel einer kollektiven Absolution von der Neurose zugunsten der schwarzen Rasse. 

Nach der Revolution, so meint er weiter, müsse man alle Institutionen der Weißen zerstören, da sie Gift für die neu entstehende Welt seien. (Welche Institutionen freilich an die Stelle der von Europa übernommenen treten sollen, sagt Fanon nicht.)

In Frankreich war es Jean-Paul Sartre, der zunächst seit dem Verebben der existentialistischen Welle etwas in den Hintergrund getreten war, dann aber als Befürworter der Gewalt erneut Einfluß gewann. Zwar lehnte er Sorels «Reflexions sur la Violence» als «faschistisches Geschwätz» ab, doch entwickelte er selbst ein Konzept der Gewaltanwendung, wobei er zwischen reaktionärer und revolutionärer Gewalt unterschied, erstere als verwerflich, letztere aber als wünschenswert darstellend. 

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Zwei seiner Theaterstücke («Die schmutzigen Hände» und «Der Teufel und der liebe Gott») führen vor Augen, daß sich in der Politik nicht viel erreichen lasse, ohne daß man seine Hände durch Gewalt und Terror schmutzig mache. «Das essentielle Problem», so meinte er gegenüber einem Interviewer, sei die Überwindung der Vorstellung, daß die Linke auf Gewalt nicht mit Gewalt antworten solle. 

Im Jahr 1966 sprach er über den Einsatz sowjetischer nuklearer Raketen gegen amerikanische Stützpunkte in Fernost und bezog selbst die Möglichkeit eines dritten Weltkriegs in seine Überlegungen ein.

 

Der deutsche Autor Herbert Marcuse sollte schließlich das Buch schreiben, das zur Bibel einer ganzen Bewegung wurde. Als deutscher Jude, der aus der Unterdrückung in eine Demokratie floh, wo er frei seine Meinung äußern konnte und hierbei sogar Förderung erfuhr, hätte er darin vielleicht etwas Positives sehen können. Er tat dies jedoch nicht. Für ihn ist Demokratie nichts als Betrug, und ihre Meinungsfreiheit scheint ihm illusorisch. In der Toleranz der Demokratie sieht er nur eine besonders subtile Form der Repression, weil sie den Menschen erlaube, Dampf abzulassen, wodurch die Herrschaft um so leichter aufrechterhalten werde. Der Protest allein diene nur der «Stärkung repressiver Herrschaft». Anstelle der Toleranz scheint ihm befremdlicherweise Intoleranz ein angemesseneres Mittel zur Lösung der Probleme, wobei diese Intoleranz natürlich von links her auszuüben wäre. Da sich die Gesellschaft in einem Ausnahmezustand befinde, seien die Rechte der freien Rede und der ungehinderten Versammlung ohnehin zu suspendieren, und dies je früher, desto besser. 

«Intoleranz selbst gegen Gedanken, Meinungen und Worte» sei zu fordern, weil die Demokratie «die Basis universaler Toleranz zerstört hat». Marcuse, der Kritiker des Stalinismus, fordert nicht nur Gewalt, sondern deren Herrschaft.

Gewiß hatte Marcuses Wirkung bei der jüngeren Generation nicht zuletzt in seinen Sexualtheorien ihren Grund, die vielfach in einer Umkehrung Freudscher Einsichten bestanden. Wo immer etwas falsch war mit der Gesellschaft, führte Marcuse dies auf sexuelle Repression zurück. Auch sei die angebliche sexuelle Permissivität der modernen Gesellschaft nur ein weiterer Fall von Vorspiegelung. Was not tue, sei «die Erotisierung der ganzen Persönlichkeit». Die Arbeit müsse «erotisiert» werden. Für Marcuse stellt sich eine ganz klare Analogie zwischen sexueller und politischer Repression her, und vielleicht fällt aus diesem Zusammenhang Licht auf sein intensives Verharren bei dieser Problematik.

Bedenklicher als derartige Gelehrsamkeiten ist seine Forderung, daß der Voreingenommenheit mit Voreingenommenheiten begegnet werden müsse. So erst sei Freiheit zu gewinnen! Wie der Londoner Politologe Maurice Cranston in einem erhellenden Essay schreibt, ist Marcuses Haltung zur heutigen Welt oft kaum von der eines ältlichen Stehkragenideologen oder Junkers zu unterscheiden.

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«Das Ausmaß, in dem es der Bevölkerung erlaubt wird, friedliches Leben dort zu stören, wo noch immer Friede und Stille herrscht, sich häßlich zu geben und Dinge zu verhäßlichen, in familiäre und private Sphären einzudringen, gegen die gute Form zu verstoßen, ist erschreckend.» 

So beklagt sich Marcuse und fügt hinzu, es sei höchst unangenehm, «teilnehmen zu müssen an ihren Geräuschen, ihrem Anblick, ihren Gerüchen». Wie Cranston zu Recht bemerkt, zeige Marcuse, der dem Begriff der «Entfremdung» so viel Raum gebe, selber Merkmale der Entfremdung.  «Marcuse hat den Magen eines Ästheten der Oberklasse: übersensibel, wählerisch und menschenfeindlich.»*

* Es entbehrt nicht der komischen Akzente, die realitätsferne Betrachtungsweisen sich oft einhandeln, wenn Marcuse den Stil des <Time Magazine> kritisiert und ihn ausgerechnet mit dem des <Kommunistischen Manifest> vergleicht. Wenn er Marxens Sprache der Ausdrucksweise von <Time> vorzieht, indem er auf dessen klare Durchsichtigkeit verweist, so mag man dies gegen Marcuses eigenen Stil sehen, der oft genug voll Zweideutigkeiten und krausen Verschnörkelungen ist.

Eine vollständige Darstellung der Philosophie der Gewalt müßte auch die beiden englischen Psychiater R. D. Laing und David Cooper einbeziehen, doch würde uns die Thematik der «Entmystifizierung der Gewalt» tiefer in die Kontroversen der Psychiatrie hineinführen, als den meisten Lesern lieb sein dürfte.

Außergewöhnlicher ist ohnehin wohl die Tendenz mancher katholischer Priester und Theologen, sich auf den Flirt mit der Gewalt einzulassen, was denn auch Jacques Ellul in seinem Buch über die Gewalt moniert.

Pater Cardonnel, ein französischer Ordensmann, ist repräsentativ für diese «Theologen der Revolution». Er stellt die Frage nach der zeitgemäßen Form des Fastens und gibt gleich die Antwort: «Durch einen wohlgeplanten Generalstreik. Dies ist die Gott wohlgefällige Art des Fastens, die Osterliturgie unserer Zeit.» In seinem Enthusiasmus für die Revolution wird er allerdings von einem Franziskaner, dem Frater Maillard, übertroffen, der erklärte: «Wenn ich sähe, daß mein Glaube mich nur um ein weniges von den anderen Menschen trennte und meine revolutionäre Entschlossenheit beeinträchtigte, so würde ich nicht zögern, meinen Glauben zu opfern.» 

Die Revolution wird so zu einem Ziel von nahezu endzwecklicher Bestimmtheit, ist nicht mehr bloßes Mittel zum Zweck, eine Sicht, die auch der amerikanische Religionsphilosoph Richard Shaull vertritt. Wie Jacques Ellul zu bedenken gibt, sei diese Einstellung zur Revolution unsinnig, da hierdurch die Revolution zu einem absoluten Wert gemacht würde. Shaull vertritt in der Tat die Auffassung, daß Christen an allen Revolutionen teilnehmen sollten, und zwar gleichgültig, ob von rechts oder von links, von Nationalisten, Faschisten oder welchen Gruppen auch immer.

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Die für das Christentum doch zentrale Idee der Nächstenliebe wird einfach zur Seite geschoben. Frater Maillard sagt hierzu: 

«Wir dürfen die weltweite Revolution unserer Brüder nicht durch unsere eigenen Skrupel behindern. Wir stehen vor einer wahrhaftigen Wahl. Liebe in der Form von Großherzigkeit muß als zu idyllisch abgelehnt werden; die wahre Liebe ergibt sich aus politischen, ökonomischen und soziologischen Studien.»

Doch Ellul weist darauf hin, daß diese revolutionären Christen sich nicht in gleicher Weise aller unterdrückten Völker annehmen. Sie unterscheiden zwischen den «interessanten Armen» — amerikanischen Negern, Nordvietnamesen, Palästinensern und den Armen Südamerikas — und den «uninteressanten Armen», um die es sich nicht gleichermaßen lohnt, Sorge zu haben: «die von den Bundestruppen Nigerias massakrierten Biafraner; die monarchistischen Jemeniten, die im Napalm und in den Bomben der ägyptischen Luftwaffe während der Jahre 1964 bis 1967 untergingen; die Südsudanesen, die von den Nordsudanesen in Massen umgebracht wurden; die von den Chinesen unterdrückten und nach China deportierten Tibetaner; die Kurden, von denen zwischen 1968 und heute wohl eine halbe Million Menschen in Irak und in Iran massakriert worden sind.» Auch die Ausrottung der Patacho-Indianer durch das Brasilianische Indianerbüro, so läßt sich hinzufügen, hat keinen Aufschrei unter den Christen ausgelöst.

«Die interessanten Armen», meint Ellul, «sind jene, für die einzutreten gleichzeitig ein Schlag gegen Europa, gegen den Kapitalismus, gegen die USA ist.» Die uninteressanten Armen sind jene, die nur für ihr Überleben als Volk oder für ihre Kultur kämpfen. Mit Liebe zu den Armen hat eine solche christliche Stellungnahme also nichts zu tun, wohl eher schon mit dem Haß auf die Reichen. Wie sich die Forderung nach Abschaffung der Armut im christlichen Kontext glaubwürdig stellen läßt — nachdem Christus selbst die Armut gepredigt hat —, bleibt ohnehin fraglich.

 

Allerdings geht es nicht an, solche Rationalisierungen der Gewalt als belanglos abzutun, nur weil die Apologeten rationale Argumentation verlassen oder zweideutig bleiben. Das Bedürfnis nach derlei Gedankengut wächst, weil die Situation der Welt in eine Art Pattstellung geraten ist. Wie soll man mit einem sich festkrallenden Regime verfahren, nachdem alle Wege der Gewaltlosigkeit ohne Erfolg versucht worden sind? Die mittelalterliche Moraltheologie kannte den Begriff des «gerechten Krieges». Und angesichts faschistischer Unterdrückung fühlen sich nicht wenige sonst friedfertige Menschen berechtigt, wenn nicht gar verpflichtet, gewaltsam einzuschreiten. 

Die mittelalterliche Kirche war bestrebt, Kriegsmöglichkeiten einzugrenzen, weshalb sie darauf drang, erst alle anderen Handhaben auszuschöpfen, ehe man den Krieg wählte. Was man den Befürwortern der Gewalt vorwerfen muß, ist, daß sie die Tendenz zeigen, die Gewalt um ihrer selbst willen zu glorifizieren. Das ist eine Perversion, die eigentlich mehr des Zensors bedürfte als die Pornographie, über die sich in unserer Gesellschaft immer noch so viele ereifern, die selbst in dieser Hinsicht etwas zu kurz kommen.

Wenn also schon die Seelsorger für Gewaltanwendung eintreten, kann es kaum wundernehmen, daß Elridge Cleaver, ein Führer der Black-Power-Bewegung, von sich selber sagt, er sei ein «ehemaliger Sträfling, Vergewaltiger, Befürworter der Gewalt», und erklärt: «Die Nigger werden in die Villenvororte der Weißen gehen und aus den Villenvororten der Weißen Schießplätze machen.» Cleaver nannte Fanons «Die Verdammten dieser Erde» die «Bibel» der Befreiungsbewegung der Schwarzen in Amerika.

3  Gewalt   61-62


   4  Das Mysterium des Nihilismus   

  

«So werden wir Unruhe stiften, und Verwüstung wird sich ausbreiten — Verwüstung, wie sie die Welt zuvor nicht erlebt hat.» Das sind die Worte Petr Verchowenskis in Dostojewskis Roman <Die Dämonen>, einer Gestalt, deren größter Ehrgeiz es war, «ein solches Durcheinander anzurichten, daß alles zur Hölle geht», weil «dieser Gedanke aus irgendeinem Grunde etwas so Verlockendes an sich hat». 

Worin aber liegt das Verlockende? 

Bei D. H. Lawrence finden wir den gleichen Gedanken noch etwas weiter vorangetrieben: «Es wäre ein Spaß, den Spieß umzudrehen. Machen wir eine Revolution zum Spaß.» Warum ist dieser Gedanke allgemeiner Zerstörung für manche Menschen verlockend? Tatsächlich haben viele der Extremisten von heute mehr auf das Niederreißen ihr Denken gerichtet als darauf, wie sich etwas besser machen ließe, um unsere zweifellos recht unvollkommene Gesellschaft zu ersetzen — und gerade das muß bedenklich stimmen.

Bei den modernen Extremisten finden wir genau den Widerhall der oben skizzierten Ideen. <Revolution for the Fun of It> heißt etwa ein Buch Abby Hoffmans. Der Herausgeber einer obskuren Protest-Publikation, der <Loving Couch Press>, ein gewisser Steve Jones aus dem kanadischen Manitoba, dürfte ziemlich sicher seine illustre geistige Vorfahrenschaft nicht gekannt haben, als er seine Funktion als Herausgeber mit diesen Sätzen umschrieb: «Mein persönliches Ziel ist es, zu zerstören. Meine Leser für 25 Cents zusammenzuficken.»

Der Herausgeber der Zeitschrift <Oz>, Richard Neville, hat zur Erklärung solcher Haltungen beigesteuert, als er die Provos der 1960er Jahre als Menschen begriff, die es auf öffentliche Gegenmaßnahmen abgesehen hatten, damit sie etwas zu protestieren hätten, «da sonst kein Anlaß zu Beschwerden gegeben war». Aber meist ist es doch mehr als nur der Wunsch nach Protest, mehr auch als nur der Spaß am Untergang. 

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Es gibt eine bösartig nagende Zerstörungswut, wie sie etwa ein Lehrbeauftragter der Vincennes University zum Ausdruck brachte. «Es ist harte Arbeit, aber wir machen Fortschritte», sagte er zu einem britischen Journalisten, der sich nach den Zielen der militanten Studentenschaft erkundigte, «mit einigem Glück wird hier bald keine Universität mehr existieren, in die man nach den Herbstferien zurückkehren könnte.»

Nicht ohne unfreiwillige Komik hat Carl Ogleby, der ehemalige Vorsitzende der militanten amerikanischen Organisation Students for a Democratic Society (SDS), sein nihilistisches Glaubensbekenntnis umrissen: «Der Rebell ist ein unverbesserlicher Absolutist, der an die Stelle der <Probleme> das <falsche System) setzt. Er erhebt den großen Anspruch, daß wegen der Falschheit des ganzen Systems auch die Änderung eine totale zu sein habe, und statt eines Bündels von Krankheitsdiagnosen stellt er gleich den Totenschein aus.» Doch bald darauf wird deutlich, daß es ihm weniger um totale Veränderung als um den Sturz von Autorität geht: «... totale Veränderung bedeutet nichts anderes, als daß jene, die heute noch alle Macht haben, sie dann nicht länger mehr haben werden, und daß jene, die heute noch machtlos sind, dann über alle Macht verfügen.» Die Söhne wollen an die Stelle der Väter.

Aus alldem folgt, daß jedes Konzept einer stufenweisen Reform «überholt» ist. Verfechter einer Verbesserung durch kleine Schritte werden erbitterter bekämpft als selbst der Reaktionär. «Wir müssen uns alle Illusionen über (friedliche) und (gesetzliche) Wege der Veränderung aus dem Kopf schlagen», sagt Tom Hayden in «Rebellion and Repression». «Wir werden ein Amerika schaffen, wo sich die Regierung gezwungen sehen wird, hinter Stacheldraht zu amtieren, wo der Präsident nur noch auf Militärbasen eine Rede zu halten wagt und wo es schließlich notwendig sein wird, zurückzuschlagen.»

Wie alarmierend dies alles auch klingen mag — ich glaube doch, daß dahinter letztlich der Wunsch vieler junger Leute nach einer erfüllenden Aufgabe steht, deren Bewältigung verbunden ist mit dem Reiz körperlicher Anstrengung, mit Gefahr und dem Entwerfen von Plänen. Wirkliche Gefahren drohen aus anderer Richtung. Gleichwohl bleibt die Zunahme nihilistischer und blind verabsolutierender revolutionärer Strömungen doch ein Trend, dem bei der Beurteilung zukünftiger Entwicklungen einiges Gewicht zukommt.

Der nihilistische Drang erreicht seine extremste Ausdrucksform in der Selbstzerstörung. Jene Japaner, die auf dem Flughafen von Lod ein Massaker veranstalteten, erklärten danach, daß sie die Todesstrafe für ihr Verbrechen nicht scheuten, da sie dann «wie Sterne am Himmel» zusammen mit ihren Opfern strahlten. Man wird dies nicht psychisch gesund nennen wollen. Übrigens scheinen Japaner für selbstmörderische Anwandlungen besonders anfällig zu sein, wie die Kamikaze-Piloten des letzten Krieges zeigten. 

4  Nihilismus  63


Als Samson den Tempel sich über dem Kopf zusammenriß, tat er dies, weil er sonst keine Hoffnung mehr hatte und weil das einzige, was er noch tun konnte, eben dieser Racheakt war. Es geht den Nihilisten von heute ähnlich; auch sie haben keine Hoffnung mehr, auch sie sind aufs äußerste verbittert. Wenn wir ihre Handlungen auch verurteilen müssen, so wollen wir doch — und sei es auch nur im eigenen Interesse — diese Handlungen von ihrer Motivation her zu verstehen suchen, um Mittel gegen Hoffnungslosigkeit und Erbitterung zu finden.

Wenngleich Extremisten stets bereit sind, die Übel der Gesellschaft zu attackieren und ihr Engagement für Benachteiligte in anderen Ländern zu betonen, so fällt andererseits doch auf, daß sie nur selten versuchen, den Benachteiligten unmittelbar zu helfen — etwa indem sie in ein unentwickeltes Land gehen, um dort bessere Anbaumethoden zu lehren.

Sie versuchen den Neger als Symbol der Unterdrückung herauszustellen. Menschen der gelben Rasse sind dafür weniger geeignet, da hier der Gegensatz von Schwarz und Weiß mitsamt seiner eingängigen Farbsymbolik nicht ins Feld geführt werden kann. Tatsächlich ist die Motivation ihres Handelns nicht in der Liebe für ihre Mitmenschen zu suchen, auch nicht im Mitleiden mit ihrer Misere, sondern im Haß. Che Guevara hat dies unverblümt ausgesprochen: «Haß ist ein Element des Kampfes — rückhaltloser Haß gegen den Feind, der ihn [den Revolutionär] über die natürliche Beschränktheit des Menschen hinaus­hebt und aus ihm eine wirksame, zerstörerische, kühl wägende und kalt tötende Maschine macht.»

Was die Persönlichkeit des Extremisten trägt, ist natürlich die ins Extrem getriebene Verneinung jeglicher Autorität. Daher erklärt sich, warum für diesen Typus des Revolutionärs «flammender Kampf wichtiger ist als das Dogma ... Wenn es überhaupt ein Dogma gibt, so jenes von der Konfrontation.»

Das heißt: Die Revolution wird zu einem Selbstzweck, denn in ihr versichert man sich der eigenen Ungebundenheit, die das einzige Ziel ist. Aus diesem Grunde kommen von den Revolutionären auch kaum Ideen zum Aufbau der neuen Welt, die sie an die Stelle der zerstörten setzen wollen. Und hieraus erklärt sich auch, warum sie den Liberalismus so geringschätzen und Toleranz und Rationalität so scharf angreifen. Deshalb schreien sie Redner nieder, die nicht ihrer Meinung sind. Deshalb versuchen sie, Leute mit einem gewissen Ansehen niederzuziehen, ihnen etwas anzuhängen, sie anzuschwärzen. Ob das Angehängte der Realität entspricht oder nicht, ist dabei gleich; es kommt nur darauf an, ein Idol zu demontieren.

4  Nihilismus   64


Gossensprache wird als Mittel benutzt, Menschen der älteren Generation in einer Art Nervenkrieg weichzumachen. Wie Professor Marcuse großartig sagt, sei Gossensprache «eine methodische Unterwanderung der sprachlichen Welt des Establishments». Dadurch wird sie natürlich höchst respektabel! Wenn einer den Präsidenten als «Sau» bezeichnet — so führt er ernsthaft aus — oder während einer Vorlesung tierische Geräusche hervorbringt, dazu obszöne Redensarten schwingt, dann sei dies «der große Entwurf einer Desublimierung der Kultur, die für die Radikalen ein zentraler Aspekt der Befreiung ist».

Daß es vor allem Studenten sind, die solche extremen Standpunkte übernehmen, läßt sich durch ihr Alter erklären sowie durch den Umstand, daß sie zum erstenmal in ihrem Leben als Erwachsene behandelt werden, wobei noch hinzukommen dürfte, daß viele von denen, die heute auf, die Universität gehen, im Grunde von ihren Voraussetzungen her durch den akademischen Betrieb überfordert werden, da sie gar nicht von Natur aus für theoretisch-wissenschaftliches Arbeiten angelegt sind, sondern sich durch die Tat bewähren wollen. 

Dies ist wohl eine Folge der Befürwortung einer sozial möglichst breit gestreuten akademischen Ausbildung, die man nicht vorausgesehen hat. Viele der rebellischen Studenten kommen nach ein oder zwei Jahren in ruhigere Bahnen. Es ist daher fraglich, inwieweit die studentische Unruhe eine langfristig wirksame Gefährdung der Gesellschaft darstellen kann. Ein gewisses Maß an Radikalisierung wird insgesamt wohl erfolgen, denn selbst jene Studenten, die nicht unmittelbar selbst Akteure sind, werden doch gezwungen, einige der angeschnittenen Fragen wahrzunehmen — und ich kann einen dadurch geschärften Sinn für wirkliche soziale Probleme nur als Gewinn betrachten. Bloß die ganz Extremen, vor allem wenn sie durch starke Ressentiments aufgeheizt sind, werden sich weiter politisch betätigen. Diese Restgruppe stellt eine ernste Gefahr dar.

 

   5  Gewalt der Machthaber: Terror   

  

Wortführer der Gewaltanwendung weisen gewöhnlich darauf hin, daß der Staat Gewaltmethoden anwende und daß daher Gegengewalt legitim sei.  

Das ist Wortklauberei. 

Alle Gesellschaften, selbst die allerurtümlichsten, sehen den bemessenen Gebrauch von Gewalt ausdrücklich vor. Richtet sie sich gegen Personen, die eine Gefahr für die Gesellschaft darstellen, so wird sie durch Gesetz oder Herkommen scharf eingegrenzt und bedarf eines Rückhalts in der öffentlichen Meinung. Erlaubt ist auch die Anwendung von einem Mindestmaß nötiger Gewalt im Falle der Selbstverteidigung. Solche Regulationen rechtfertigen jedoch in keiner Weise die unbegrenzte Anwendung von Gewalt gegen Unbeteiligte und ohne jegliche Zustimmung breitester Schichten der Öffentlichkeit; das wäre nicht legitime, sondern illegitime Gewalt.

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Gleichwohl ist es eine traurige Wahrheit, daß immer mehr Regierungen zu illegitimer Gewalt greifen und daß genau in dem Maße, wie die Gesellschaft ihr Gefüge verliert, die führenden Schichten immer mehr in Versuchung geraten, durch Gewaltanwendung die Ordnung aufrechtzuerhalten und ihre eigene Existenz zu sichern. 

Es gibt offenbar eine weltweite Tendenz zur Anwendung der Folter, des politischen Mords, der geheimdienstlichen Überwachung und suversiver Methoden, die einst von den großen Diktaturen ausgingen — die schon stets skrupellos im Umgang mit Gewalt und Terror waren —, sich dann auf die Militärdiktaturen übertrugen, die früher noch gewisse Spielregeln einhielten, jetzt aber bereits beginnen, auf die USA, Frankreich und andere Demokratien überzugreifen. Terror hat es nicht nur in Rußland und China gegeben, sondern auch in Rhodesien und Korea. Pragmatische Erwägungen fegen die Prinzipien vom Tisch, und alle Methoden scheinen schließlich annehmbar, vorausgesetzt, sie zeitigen Erfolg und kommen nicht ans Licht der Öffentlichkeit.

Regime, die sich nur durch derartige extreme Methoden behaupten können, verfügen offenbar über keine anderen Kräfte des Zusammenhalts.

Wie Amnesty International mitteilt, verlassen sich immer mehr Regierungen auf die Folter zur Aufrechterhaltung ihrer Macht, und haben zuerst nur Polizisten gefoltert, so werden bald auch Soldaten herangezogen. In einem ausführlichen Bericht, den diese in London ansässige Organisation im November 1973 herausgab, stand zu lesen, daß «die Praxis der Folter sich gegenwärtig international ausbreitet. Experten und ihre Ausbildungsmethoden wie auch ihre einschlägige Ausrüstung werden von einer Regierung an die andere weitergereicht, um im Ausland zum Einsatz zu kommen.» Der Bericht zählt 60 Länder auf, von denen die Anwendung der Folter zu politischen Zwecken bekannt wurde, darunter die Sowjetunion, Argentinien, Brasilien und Portugal. Die Foltermethoden schlössen Vergewaltigung, Erstickung, Entzug jeglicher Außenreize und audiovisuelle Techniken ein.

Die Regierungen sind bemüht, solche Praktiken geheimzuhalten, doch wurde 1972 bekannt, daß der pakistanische Militärattache Vorrichtungen für Folter und Gehirnwäsche in den USA eingekauft hat. Die pakistanische Regierung stritt ab, davon gewußt zu haben, und ließ eine Debatte dieses Falles in der Nationalversammlung zu.

Selbst in Großbritannien mit seiner starken, wenngleich nicht allzu alten Tradition, die das Foltern als politische Waffe ächtet, gestattet man sich die Anwendung der neueren psychologischen Techniken, die körperliche Folter bereits altmodisch erscheinen lassen. In Rußland ist man mit der Anwendung von Haloperidol in Neuland vorgedrungen, einer Droge, die von Russen als «chemische Zwangsjacke» bezeichnet wurde; nach erzwungener Injektion lähmt sie die seelische Widerstandskraft des Betroffenen. 

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«Die regellose und sinnlose Verabfolgung großer Dosen von Haloperidol führte zu einer drastischen Verschlechterung seiner Gesundheit, zu schweren Erschöpfungszuständen und ständigem Zittern, allgemeiner Schwäche, Schwellungen, Krämpfen und Appetitverlust», beanstandete eine Eingabe des russischen Akademiemitglieds Dr. Andrei Sacharow, mitunterzeichnet von seiner Frau und anderen. «Plyusch ist nicht mehr imstande, zu lesen, Briefe zu schreiben oder die einstündige Sportstunde wahrzunehmen, die den Gefangenen gestattet ist.» Schrecklicher noch ist die Anwendung von Succinylchlorid, das alle Muskeln entspannt und dazu führen kann, daß das Opfer in die Gefahr des Erstickungstods gerät.

Wir müssen leider damit rechnen, daß sich die Anwendung der Folter noch weiter ausbreiten wird, zunehmend in ihrer verfeinerten Form. Zu befürchten ist auch ihre Ausdehnung auf Kinder, da Kinder neuerdings systematisch von Terroristen herangezogen werden, um Nachrichten, ja selbst Bomben zu überbringen, auch den Gebrauch von Waffen lernen und Instruktionen erhalten, wie man Polizei oder Militär behindert. Die Anwendung von Gewaltmethoden durch die Regierungen selbst desavouiert natürlich deren Aufrufe zu friedlichem Wohlverhalten an der Heimatfront.

Ein weiterer kennzeichnender Trend ist die zunehmende Bereitschaft der Regierungen, subversive Aktionen in anderen Ländern zu unterstützen oder sogar in die Wege zu leiten und Gewaltandrohung statt rationaler Überredung ins Spiel zu bringen. Führend waren hierin die USA, die hinter einer Reihe von Rechtsputschen in südamerikanischen Staaten standen. Jüngst erfuhr man, daß die CIA (Central Intelligence Agency) in Thailand ihre Finger in der Politik habe, wo sie in der Amerikanischen Botschaft allein ein ganzes Stockwerk für sich in Anspruch nimmt. Jedermann erinnert sich auch ihrer Rolle bei dem mißglückten Schweinebucht-Unternehmen zur Beseitigung Fidel Castros auf Kuba, ebenso ihrer Rolle bei der Absetzung des Präsidenten Jagan von Guyana. Auch die 1974 gestürzte griechische Militärdiktatur wurde mit amerikanischer Hilfe in den Sattel gehoben; sie hatte sich einen infamen Ruf durch ihre sadistischen Foltermethoden erworben — sadistisch deshalb, weil mit dieser Art Folter kein bestimmtes Ziel, etwa die Beschaffung von Informationen, verbunden war, sondern weil sie einzig und allein um des Terrors willen ausgeübt wurde.

Agenten der CIA fungierten auch als Ausbilder südamerikanischer Polizeikräfte, die sie nach verläßlichen Angaben mit Foltergerät belieferten, vor allem mit Vorrichtungen für die Erteilung von Elektroschocks an den Hoden.

Der nächste Schritt in dieser Richtung ist dann die von der Regierung geförderte Ermordung unliebsamer Politiker. Dem Senat der USA lagen Beweis­materialien vor, daß mindestens ein Mördertrupp der CIA nach Kuba entsandt worden war, wahrscheinlich zur Ermordung Fidel Castros — und wie Salvador Allende starb, ist zwar nicht ganz geklärt, aber der Anteil des amerikanischen Geheimdienstes am Putsch der Militärs ist erwiesen. Auch Israel hat sich des politischen Mordes bedient, vielleicht in Befolgung der alttestamentlichen Regel des «Auge um Auge, Zahn um Zahn».

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Wird irgendwo der Polizei ein Freibrief für die Ausmerzung subversiver Organisationen oder Individuen erteilt, so finden sich immer Typen, die diese Gelegenheit für straflose Gewaltausübung nur allzugern wahrnehmen, und oft ist die Polizei von sich aus bestrebt, solche Sadisten und Schlächter in ihre Reihen zu ziehen. 

Diese Entwicklung dürfte gegenwärtig in Brasilien am weitesten vorangeschritten sein. In der Mitte des Jahres 1973 waren nach vorsichtiger Schätzung etwa 1300 Menschen stillschweigend beseitigt worden.

Eine solche Anwendung von illegalen, jeder Kultur hohnsprechenden Mitteln wird von Regimegegnern unvermeidlich zur Rechtfertigung eigener Terrormaßnahmen gleichen Kalibers ausgeschlachtet.

Bedrückend ist nicht nur das Auftreten von Gewalt überhaupt, sondern, daß in einem Moment der allgemeinen Menschheits­entwicklung, da Hoffnung auf Überwindung der Barbarei bestand, die Menschheit schon wieder im Begriff steht, in jenen Sumpf hinabzugleiten, dem sie gerade zur Hälfte glücklich entronnen schien. 

Der Umstand, daß ein zivilisiertes Land wie die Vereinigten Staaten mit alter Demokratie und traditioneller Freiheit der Meinungsäußerung so unbedenklich Gewaltanwendung unterstützt, läßt für die Zukunft anderer, als zivilisiert geltender Völker nichts Gutes vermuten.

Das Beispiel von Nord-Irlands Hauptstadt Belfast zeigt, daß selbst in Lagen mit erhöhtem Risiko das Leben wie gewöhnlich weitergeht. Ähnlich wie im Krieg versuchen die Menschen wenigstens den Anschein der Normalität zu wahren. So werden wir auch künftig mit Flugzeugen fliegen, unsere Post öffnen, ins Kino und in Warenhäuser gehen. 

Aber je weiter die Technik voranschreitet, desto schwerer wird es auch werden, der unverhofft jähen Konfrontation mit dem Tod auszuweichen. Die Bomben werden bald nur noch so klein sein wie ein Heft flacher Abreißzündhölzer oder eine Aspirintablette. Die Ausfälle der öffentlichen Dienste werden zunehmen und länger dauern. Es wird zu unvorhergesehenen Großpannen kommen — so etwa, wenn sich Terroristen eines Computerprogramms bemächtigen.

Bisher allerdings haben sich die Terroristen hauptsächlich auf die Einschüchterung anderer Menschen verlegt. Einige Versuche wurden unternommen, wertvollen Besitz zu zerstören, etwa berühmte Gemälde. Der nächste Schritt mag sein, daß es nun an historische Statuen und Bauwerke, an Museumsstücke und ähnlichen Allgemeinbesitz geht. Eines Tages wird dann nur noch hinreichend ausgewiesenen Personen der Zutritt zu Museen und Sammlungen gestattet sein. 

Schwerwiegender aber wäre es, wenn Extremisten mit gezielterer politischer Stoßrichtung Aktionen gegen die technischen Grundlagen der Gesellschaft unternähmen.

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Gordon Rattray Taylor   Zukunftsbewältigung  1975