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Die Stasi-Akte "Kammer" und  Visionen 

Käbisch-2002

 

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Es waren wiederum mutige Leute, die sich 1990 friedlich für ein Gesetz einsetzten, das als einmalig bezeichnet werden kann: das Stasi-Unterlagen-Gesetz.23) Es erlaubt, die Vorgehensweise der Stasi zu erforschen und aufzudecken. Jeder Bürger, der einen Antrag stellt, kann die Unterlagen einse-hen, die die Stasi über ihn persönlich angelegt hat. Er kann auch einen entsprechenden Antrag für die historische Aufarbeitung stellen. Nach Genehmigung können dann die Methoden, die Machenschaften, die Intrigen, die Maßnahmenpläne, die Unverfrorenheit, die Doppelbödigkeit, die Gewalt, das Unrecht der Diktatur wissenschaftlich aufgearbeitet und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.

Im Jahre 1992 habe ich einen solchen Forschungsantrag gestellt. Seitdem versuche ich das Thema „Verhältnis des MfS zur Evangelischen Kirche" aufzuarbeiten. Tatsache ist, dass es neben der offiziellen Geschichte der Kirche, die sich sehen lassen kann, noch eine inoffizielle gibt. Das ist eine peinliche Geschichte für die Amtskirche, aber sie gehört auch zur Wirklichkeit des Christseins.

23)  Gesetz über die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (Stasi-Unterlagen-Gesetz - StUG) vom 20.12.1991. Im Herbst 1990 haben Bärbel Bohley und andere Mitstreitern die ehemalige Stasizentrale in der Berliner Normannenstraße mit der Forderung besetzt, dass die Stasi-Akten geöffnet werden. Das couragierte Handeln und die Solidarisierung mit dieser Aktion haben mit dazu geführt, dass der Bundestag dieses Gesetzt verabschiedete. Vgl. Silke Schumann: Vernichten oder Offenlegen? Zur Entstehung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes. Eine Dokumentation der öffentlichen Debatte 1990/1991, BStU Berlin 1995.

Denn unser Glaube sagt, dass jeder simul justus et pecator (sowohl ein Gerechter als ein Sünder) ist. Die konspirative Geschichte bleibt gefährlich, wenn sie nicht aufgedeckt, öffentlich gemacht und zu ihr gestanden wird. Sonst geht sie weiter und richtet weitere Schäden an. Im Aufdecken besteht die Chance, derartige geheime Machenschaften zu verhindern und Vertrauen durch Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit zu schaffen. Mein Alltag als Pfarrer war überschattet von der Beeinflussung der Stasi, die nicht nur durch IM, sondern auch durch eigene Kirchenleute geschah. 

Neben meinem persönlichen OV "Kontrahent" eröffnete die Stasi am 15. Juli 1988 zusätzlich den OV "Kammer". So begann innerhalb der Domgemeinde eine weitere inoffizielle, geheime und konspirative Geschichte. Sie wurde von der Stasi planmäßig gesteuert und war auf Langzeit­wirkung angelegt. Differenzierung und Zersetzung sollten von den eigenen Leuten durchgeführt und „demokratisch" praktiziert werden. Die Stasi-Akte trägt zwar die Bezeichnung „OV" für Operativen Vorgang, sie kann aber wie ein IM-Vorgang gelesen, verstanden und ausgewertet werden.  

Der Kirchenvorstand und der Superintendent, die eine Obhuts- und Fürsorgepflicht auch gegenüber den Pfarrern haben, wurden für die Ziele der Stasi missbraucht. Die Einflussnahme geschah nicht direkt über die hauptamtlichen Stasi-Mitarbeiter, sondern verdeckt über „gesellschaftliche Kräfte" oder IM. Der OV „Kammer" bezog sich auf keine begangene oder zu erwartende Straftat nach dem Strafgesetzbuch der DDR, was an sich die Voraussetzung für die Anlage eines OV war, sondern benannte lediglich das Ziel dieses Vorganges. 

Im Eröffnungsbericht heißt es: 

"Die Zielstellung der komplexen operativen Bearbeitung aller Kirchenvorstandsmitglieder sowie seines Vorsitzenden bestehen darin,

# eine umfassenende <Wer ist wer>-Aufklärung aller Mitglieder, aus spezifischer Sicht ihrer Stellung zu den Ereignissen am Dom, durchzuführen, um Mehrheiten für entsprechende Beschlüsse gegen das Wirken von Pfarrer Dr. Käbisch kalkulierbar zu machen, 

# entsprechend der Lage und nur in Abstimmung mit dem Leiter der Bezirksverwaltung offensive Maßnahmen einzuleiten, die es erreichen, dass Y. [Name anonymisiert] seine Position der Ablehnung der Ereignisse festigt und aktiv gegen Pfarrer Dr. Käbisch vorgeht sowie im Rahmen dieses Prozesses Superintendent Mieth, Günter ebenfalls zu konkreten Handlungen veranlasst wird."24)


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Um dieses Ziel zu erreichen, ging die Stasi folgendermaßen vor: Zuerst wurden vertrauliche Beziehungen zu einflussreichen Kirchenvorstehern hergestellt. Der Vorsitzende Pfarrer Hübler fand im Referenten für Kirchenfragen Zöphel einen Gesprächs­partner, mit dem er über alles reden konnte. Die Weltpolitik, innerkirchliche Probleme und auch private Angelegen­heit gehörten dazu. Für diese Begegnungen und Gespräche bekam der Kirchenreferent alias IME „Ludwig" von der Stasi konkrete Aufträge und Konzepte.

Die Gesprächsprotokolle musste er schriftlich für die Stasi abfassen, die dann von ihr entsprechend analysiert und ausgewertet wurden. Sie bildeten die Grundlage für weitere Maßnahmen. Von diesem Hinter­grundgeschehen hat Pfarrer Hübler nichts gewusst, aber er hätte es ahnen können, wenn er sich einem staatlichen Vertreter, der auf die Kirchen­fragen spezialisiert war, anvertraute. Er war in der damaligen Situation froh, im Referenten einen Gesprächspartner und ein offenes Ohr für alle seine Probleme zu haben. Zöphel wurde zu einem Gesprächspartner, Freund und Vertrauten.

24)  Eröffnungsbericht der MfS-Kreisdienststelle Zwickau zum OV „Kammer" vom 15.7.1988, bestätigt durch den Leiter der Bezirksverwaltung, S.1f.; BStU, ASt Chemnitz, Reg.-Nr. XIV 1640/88, Bd. 1.


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In ähnlicher Weise hat sich der Direktor der Ingenieurhochschule Zwickau, Professor Horst Aurich, um seine beiden Mitarbeiter, den Wartungsingenieur Alfred Brunner und den Oberassistenten Dr. Heinz Fritzsch, gekümmert. Sie saßen im Kirchenvorstand. Aurich wirkte als IME „Winkler" für die Stasi und setzte gewissenhaft die von ihr entworfenen Gesprächs­konzeptionen in die Realität um. Es waren stets Einzelgespräche. Der SED-Direktor zeigte plötzlich größtes Interesse am Domgeschehen und wusste über innerkirchliche Spannungen und Auseinandersetzungen Bescheid. 

Er baute auf Brunners und Fritzschs ehrliche und christliche Einstellung. Er erinnerte sie an ihr progressives Verhalten und Auftreten und appellierte an sie, das gute Staat-Kirche-Verhältnis nicht kaputt gehen zu lassen. Sie sollten keinen Missbrauch des Domes bei den A-Gottes­diensten zulassen, den Dom nicht zur „Zionskirche" werden lassen und auch die Aktivitäten des Konziliaren Prozesses zurückdrängen. Deshalb sollten sie sich im Kirchenvorstand einsetzen, derartige Dinge und Machenschaften zu unterbinden.

Über diesen Weg, bei dem zugleich eine arbeitsrechtliche Abhängigkeit bestand, wurde auf die Meinungs­bildung, die Entscheidungs­findung und das Abstimmungsverhalten der Kirchenvorsteher Einfluss genommen. Das war von Erfolg gekrönt. Bereits nach vier Monaten konnte in einem operativen Sachstandsbericht dem Leiter der Bezirksverwaltung Chemnitz, Generalleutnant Gehlert, gemeldet werden, die beiden Kirchenvorsteher hätten sich erfolgreich bemüht, Aktivitäten des Konziliaren Prozesses zu bremsen und die Absetzung der A-Gottesdienste am Dom zu betreiben. Auf Intervention des Super­intendenten sind die Gottesdienst jedoch beibehalten worden. Die freiwillige Unterrichtung des Oberbürgermeisters wegen des ersten Friedensgebetes am Dom kann ebenfalls als Erfolg angesehen werden.


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Superintendent Mieth ist häufig zu Gesprächen mit den Staatsorganen, die ebenfalls von der Stasi vorbereitet und konzipiert wurden, geladen worden und wurde dabei „abgeschöpft". Er wurde nach seiner Haltung zum Konziliaren Prozess, zur Friedensbibliothek und zu meiner Person befragt. Die angefertigten Gesprächsprotokolle wurden von der Stasi ausgewertet und zur Planung neuer Maßnahmen benutzt. Bei den Gesprächen hat sich auch der Referent für Kirchenfragen beim Bezirk, Steffen Klemm, eingeschaltet, der zugleich ein „Offizier im besonderen Einsatz" der Stasi war. Mieth hatte anfänglich Bedenken wegen der Überschreitung der bestehenden Gesprächs­ebene, hat aber dann Klemm akzeptiert.25)

Mieth besaß bestimmte Rechte, die an das alte römische Prinzip divide et impera erinnern. Er erhielt von der staatlichen Seite Informationen und Hintergründe, die er zumeist für sich behielt und selten kirchlicher-seits auswertete. Auf ihn wurde eingewirkt, gegen den Konziliaren Prozess vorzugehen und besonders die Friedens­bibliothek zu schließen. Er durfte die Härtefälle der A-Leute dem Rechtsanwalt Dr. Wetzig vortragen und wurde somit privilegiert.

Eine indirekte Beeinflussung Mieths durch die Stasi wird auch durch den methodistischen Superintendenten Walther deutlich. Walther war mit dem Leiter der MfS-Bezirksverwaltung Siegfried Gehlert befreundet. Beide besuchten sich gegenseitig und tauschten sich auch über kirchliche Belange aus. Gehlert machte aus der Freundschaft eine konspirative Beziehung zum IMB "Waldemar" (ohne Verpflichtungserklärung), sonst hätte er in seiner Stellung nicht mit einem kirchlichen Würdenträger verkehren können. Walther wurde operativ genutzt und hat sich sicherlich benutzen lassen, um auf Mieth Einfluss zu nehmen bzw. von ihm entsprechende Hintergrundsinformationen zu erhalten.

25)  Zur Gesprächsebene gehörte, dass der Pfarrer mit dem Stadtrat, der Superintendent mit dem Oberbürgermeister und das Landeskirchenamt mit dem Rat des Bezirkes sprach. Klemm versuchte Mieth eine wertvolle Kristallvase zu schenken, die Mieth nicht annahm, denn er hat sich korrekt an die kirchlichen Verordnung gehalten, keine Geschenke anzunehmen. Mieth bemühte sich, zu den Gesprächen möglichst nie allein zu gehen, und nahm sich kirchliche Begleiter mit.


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Die Stasi sah die sich zuspitzende innenpolitische Lage realistisch. Die Zwickauer Basisgruppen besaßen eine Vorreiterrolle im DDR-Maßstab und waren nicht "in den Griff zu kriegen". Die Stasi wollte Gespräche, was aber die elitäre SED-Führung ablehnte. Deshalb hat sie wahrscheinlich den Wunsch, die Kirche möge mit dem Bürgermeister der Stadt Zwickau in einen Dialog treten, über Walther an Mieth herangetragen. Es sollte ein gesteuerter Verlauf der Entwicklung vereinbart und eine Demonstration verhindert werden. Weiterhin könnte es ganz im Sinne der Stasi gewesen sein, die Friedensgebete aus den Händen der Basisgruppen zu nehmen und sie nicht nur auf den Dom zu konzentrieren. 

Im entstandenen Rotationsprinzip lag vielleicht die Absicht versteckt, dass sich die Friedensgebete verlaufen werden.26) Jedenfalls ist eine Spaltung zwischen dem kirchlichen Schirmherrn Mieth und den Basis­gruppen eingetreten. Das lag ganz im Interesse der Stasi. Die Basisgruppen waren ein unkontrollierbarer Unsicher­heits­faktor. 

26)  Vgl. Aktennotiz des Rats des Kreises vom 17.10.1989; Sächsisches Staatsarchiv Chemnitz, Nr. 19788, ohne Paginierung. In der IM-Akte „Waldemar" finden sich an vier Stellen Verweise auf den (nicht identifizierten) IM „Geier", der Informationen über die Gespräche Mieths mit seinem Amtskollegen Walther an die Stasi weitergegeben hat (BStU, ASt Chemnitz, Reg.-Nr. XIV 1866/82, Bd. 1/2, Bl. 129, und Bd. II/l, Bl. 96). 

Mit Superintendent Mieth habe ich gesprochen und ihn gebeten, mir konkrete Auskunft über die Ereignisse, Gespräche und Vereinbarungen der Tage im Umfeld des 1. Friedensgebetes zu geben, um diese einmalige Zeit für die Nachwelt zu dokumentieren. Er verweigerte mir jegliche Auskunft, sodass ich die Ereignisse nur aus meiner Sicht schildern und aus den schriftlichen Dokumenten zitieren kann, die aber sehr lückenhaft sind. Ein Grund für die spärliche schriftliche Überlieferung liegt wohl daran, dass es damals den Staats- und Stasi-Organen an Zeit und Ruhe fehlte, weil sich die Ereignisse überschlugen. In den geführten Gesprächen mit dem Leiter der MfS-Bezirksverwaltung Gehlert wurde meine Sichtweise bestätigt.  


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Dagegen war die Kirche mit ihren Würdenträgern kalkulier- und berechenbar. In ihr gab es Pfarrer, die von der Stasi als „progressiv" eingeschätzt wurden.27) Mieths Wunsch, umgehend mit den Gruppen des Konziliaren Prozesses Gespräche zu führen, kam durch die sich überschlagenden Ereignisse nicht mehr zustande.

27)  SED und Stasi teilten die Pfarrer in drei Gruppen ein: Progressiv, loyal und feindlich-negativ. Diese Einteilung gehörte zu den Differenz­ierungs­maßnahmen, um Basisgruppen und Personen besser zersetzen und paralysieren zu können.

 

Gott sei Dank kam der Herbst 1989, denn bis dahin hatte die Stasi ihre konspirative Einflussmöglichkeiten ausgebaut und perfektioniert. Die Konzeption der Maßnahmenpläne begann zu greifen und erreichte die erwünschte Wirkung. Die Geschehnisse am Dom konnten über „demokratische Beschlüsse" der Kirchengremien dirigiert und beeinflusst werden. Auch das Landes­kirchenamt in Dresden ist in diesem Prozess der Einflussnahme mit eingeschaltet gewesen. Das wahre Ausmaß bedarf noch einer eingehenden Untersuchung. An dieser Stelle möchte ich besonders Pfarrer Hübler erwähnen und seine christliche Haltung hervorheben. Er ist die einzige Person, die sich im Prozess der Aufarbeitung für sein damaliges Verhalten öffentlich entschuldigt hat. Das lässt hoffen und sollte zur Nachahmung anspornen.

 

Der Titel und Inhalt des Buches von Dorothee Sölle <Ein Volk ohne Visionen geht zugrunde> haben mich nicht nur vor 1989 fasziniert.
So wage ich auch sieben Visionen auszusprechen: 
 
  [ Sölle bei detopia ] 

  1. Es ist die Vision der Wahrheit, die öffentlich über Verstrickung, Verrat und Verletzung spricht. In diesem Geschehen kann ausgesprochene Schuld vergeben werden. Das führt zur Heilung der Gesellschaft!

  2. Es ist die Vision der Gerechtigkeit, die Verletzungen von menschlichen Werten und christlichen Tugenden empfindet und ausspricht. Das führt zu einer neuen Qualität der DDR-Aufarbeitung!

  1. Es ist die Vision der Zivilcourage, die aus dem protestantischen Glauben lebt und Nachteile nicht scheut, wenn es um die Grundrechte und Freiheiten der Menschen geht. Es gibt viel zu tun!

  2. Es ist die Vision der Solidarität, die mit der Dynamik rechnet, wenn einer für den anderen eintritt. Das Verlangen nach Solidarität ist groß!

  3. Es ist die Vision des Daseins für andere, in der die Kirche beginnt aufzuhören, sich nur mit sich selbst zu beschäftigen. So entsteht Hoffnung bei den Suchenden!

  4. Es ist die Vision des aufrechten Ganges, bei der jeder seine Rede und sein Leben nach den Worten Jesu ausrichtet: „Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel." Aufrichtigkeit tut not!

  5. Es ist die Vision des Vertrauens. Vertrauen ist und bleibt die Wurzel des friedlichen Miteinanders. Jeder sehnt sich danach!

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Literaturhinweise zum Käbischbeitrag

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 www.detopia.de       ^^^^  

Käbisch 2002 mit Gestattung für detopia