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II  Elemente des Chaos    Wallace-2019

 

   2.2 - Hunger 

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Trotz aller Unterschiede der klimatischen Gegebenheiten und Pflanzen gilt für die verbreiteten Getreidearten, die bei optimalen Temperaturen angebaut werden, die Faustregel: Jeder Grad Erwärmung mindert den Ertrag um 10 Prozent.(162) In manchen Schätzungen liegt die Zahl noch höher.(163)

Das bedeutet: Wenn die Erde am Ende des Jahrhunderts fünf Grad wärmer ist, stehen uns 50 Prozent weniger Getreide zur Verfügung, um damit die 50 Prozent mehr Menschen zu ernähren, die es laut Hochrechnungen dann geben wird. Oder sogar noch weniger, denn die Erträge sinken schneller, je wärmer es wird. Bei den Proteinen ist es noch schlimmer: Man braucht acht Kilo Getreide, um ein Kilo Hamburger-Fleisch zu erhalten, aus einer Kuh, die ihr Leben damit verbrachte, die Atmosphäre durch Methanrülpser zu erwärmen.(164)

Weltweit betrachtet macht Getreide etwa 40 Prozent unseres Speiseplans aus.(165) Rechnet man Sojabohnen und Mais dazu, kommt man auf zwei Drittel aller vom Menschen aufgenommenen Kalorien.166 Insgesamt, so schätzen die Vereinten Nationen, wird die Erde 2050 fast doppelt so viel Nahrung brauchen wie heute - und obwohl diese Zahl auf Spekulationen beruht, ist sie nicht schlecht.167

Optimistische Pflanzenphysiologen werden daraufhinweisen, dass die Getreidemathematik nur für die Regionen gilt, in denen bereits heute die optimale Anbautemperatur herrscht, und sie haben recht - theoretisch wird die Erderwärmung es uns erleichtern, Weizen in Grönland anzupflanzen. Doch wie ein wegweisender Aufsatz der Wissenschaftler Rosamond Naylor und David Battisti herausstellt, sind die Tropen bereits jetzt zu heiß, um dort effizient Getreide anzubauen, und die Regionen, in denen die großen Mengen produziert werden, verfügen heute über die beste Wachstumstemperatur - was bedeutet, dass schon ein kleiner Anstieg zu einer Abnahme der Erträge führen würde.168

Das Gleiche gilt, über den Daumen gepeilt, auch für Mais. Bei einer Erwärmung um vier Grad würde die Maisernte in den USA, dem größten Erzeugerland, Schätzungen zufolge fast um die Hälfte zurückgehen. Bei den drei nächstgroßen Produzenten - China, Argentinien und Brasilien - wäre der Einbruch nicht ganz so dramatisch, doch jedes dieser Länder würde mindestens ein Fünftel der Ernte verlieren.169

Vor einem Jahrzehnt hätten die Klimatologen vielleicht noch gesagt, dass die direkte Hitze zwar das Pflanzenwachstum hemmen würde, das zusätzliche Kohlendioxid in der Luft aber einen gegenteiligen Effekt hätte - es würde wie eine Art Dünger aus der Luft wirken. Doch dieser Effekt macht sich am stärksten bei Unkraut und weniger bei Getreidepflanzen bemerkbar. Und bei einer höheren CO2-Konzentration entwickeln Pflanzen dickere Blätter, was erst einmal harmlos klingt. Doch diese Blätter absorbieren weniger Kohlendioxid, was bis zum Ende des Jahrhunderts auf jährlich ganze 6,39 Gigatonnen zusätzliches CO2 in der Atmosphäre hinauslaufen würde.170

Abgesehen vom Kohlendioxid müssen sich die Nutzpflanzen durch den Klimawandel gegen mehr Insekten zur Wehr setzen - deren erhöhte Aktivität könnte die Erträge um weitere 2 bis 4 Prozent mindern - und Pilzbefall und Krankheiten widerstehen, ganz zu schweigen von Überschwemmungen. Manche Sorten, wie die Sorghumhirse, sind robuster; doch selbst in den Regionen, in denen solche Alternativen verbreitet sind, ist der Ertrag in letzter Zeit zurückgegangen, und obwohl Pflanzenzüchter hoffen, hitzeresistentere Sorten zu schaffen, sind ihre jahrzehntelangen Versuche bisher nicht von Erfolg gekrönt. Der natürliche »Weizengürtel« der Erde verschiebt sich alle zehn Jahre um rund 250 Kilometer Richtung Norden, aber man kann nicht ohne Weiteres alle Felder um ein paar Hundert Kilometer verlegen - und das nicht nur, weil es schwierig ist, die entsprechenden Flächen von den Städten, Autobahnen, Bürokomplexen und Fabrikanlagen zu befreien, die sich dort jetzt befinden. Die Erträge von Feldern in abgelegeneren Regionen von Kanada und Russland wären selbst bei einer Erderwärmung um einige Grad beschränkt, da die Bodenqualität dort schlechter ist. Es dauert mehrere Jahrhunderte, bis die Erde an einer Stelle maximal fruchtbar ist.

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Die Flächen, für die das zutrifft, sind die, die wir bereits zum Anbau nutzen, und das Klima verändert sich viel zu schnell, als dass wir abwarten könnten, bis sich die weiter nördlich gelegenen Gebiete entsprechend entwickeln. Und der Boden - es ist kaum zu glauben - verschwindet sogar: Es gibt jedes Jahr 75 Milliarden Tonnen weniger davon.171 In den Vereinigten Staaten wird zehnmal so viel Boden abgetragen wie von der Natur neu gebildet,172 in China und Indien ist es 30- bis 40-mal so viel.173

Selbst wenn wir versuchen, uns anzupassen, sind wir zu langsam. Der Wirtschaftswissenschaftler Richard Hornbeck ist ein Fachmann für die Geschichte des Dust Bowl, eines Gebiets in den USA, das in den 1930er-Jahren nach einer Dürreperiode von schweren Staubstürmen heimgesucht wurde. Er sagt, die Farmer zu der Zeit hätten sich augenscheinlich an die damaligen Klimaveränderungen anpassen können, indem sie andere Pflanzen angebaut hätten. Aber das taten sie nicht, weil ihnen die nötigen Mittel fehlten, und so waren sie unfähig, die Lethargie, die Gewohnheiten und ihre tief verwurzelte Identität abzuschütteln.174 Stattdessen starben die Pflanzen ab und lösten eine Flut von Folgen aus, die ganze Bundesstaaten der USA und alle ihre Bewohner mit sich riss.

Eine ganz ähnliche Entwicklung spielt sich gerade im Westen der USA ab.

1879 entdeckte der Forscher John Wesley Powell, der als Soldat in der Schlacht um Vicksburg seine freie Zeit damit verbrachte, das Gestein in den Schützengräben der Unionstruppen zu untersuchen, eine natürliche Trennlinie, die entlang des 100. Längengrades verlief.175 Diese Linie trennte das feuchte - und daher urbare - Land des späteren Mittleren Westens vom trockenen, eindrucksvoll geformten, aber weniger für den Anbau geeigneten Land des echten Westens.176 Sie verläuft durch Texas, Oklahoma, Kansas, Nebraska und die beiden Dakotas, erstreckt sich im Süden bis nach Mexiko und im Norden bis in die kanadische Provinz Manitoba und trennt die dichter bevölkerten Gebiete voller großer Höfe von dünner besiedelten, weiten Landschaften, die nie so richtig landwirtschaftlich genutzt wurden. Allein seit 1980 hat sich diese Grenze um ganze 225 Kilometer nach Osten verschoben, fast bis zum 98. Längengrad, und dabei Hunderttausende Quadratkilometer Ackerland vertrocknen lassen. Eine derartige Trennlinie findet sich auf der Erde nur ein weiteres Mal, zwischen der Sahara und dem Rest von Afrika.177 Auch dort hat sich die Wüste um 10 Prozent ausgedehnt; im Winter sind es sogar 18 Prozent.178

 wikipedia  John_Wesley_Powell  *1834 bei New York bis 1902

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Die privilegierten Kinder des industrialisierten Westens haben lange über die Voraussagen des britischen Ökonomen Thomas Malthus gelacht, der glaubte, dass ein langfristiges Wirtschaftswachstum unmöglich sei, da jede Rekordernte oder Aufschwungphase letzten Endes mehr Kinder hervorbringe, die das Plus gleich wieder verschlängen - deshalb diene die Größe einer Bevölkerung, auch die der Erde als ganzer, immer als Gegen­gewicht zum materiellen Wohlstand.

1968 sprach der Biologe Paul R. Ehrlich in seinem weithin belächelten Werk Die Bevölkerungsbombe eine ähnliche Warnung aus, angepasst an das 21. Jahrhundert mit einer um ein Vielfaches gestiegenen Bevölkerungs­zahl. Er behauptete, dass die ökonomische und landwirtschaftliche Produktivität der Erde bereits ihre natürlichen Grenzen erreicht habe - sein Buch erschien zufällig genau zu dem Zeitpunkt, zu dem die Produktivitätszugewinne der sogenannten Grünen Revolution in den Fokus rückten. Dieser Begriff, der heute hin und wieder für Fortschritte im Bereich der sauberen Energien benutzt wird, entstand damals als Bezeichnung für den gewaltigen Anstieg der Agrarerträge, der Mitte des 20. Jahrhunderts durch Innovationen der Anbaumethoden erreicht wurde.

In dem halben Jahrhundert, das seitdem vergangen ist, hat sich nicht nur die Weltbevölkerung verdoppelt - zudem ist auch die Anzahl der Menschen, die in extremer Armut leben, auf ein Sechstel geschrumpft, von gut der Hälfte der Menschheit auf 10 Prozent. In den Entwicklungsländern ist der Anteil der Unterernährten von mehr als 30 Prozent 1970 auf etwas mehr als 10 Prozent heute zurückgegangen.179 Diese Entwicklungen geben trotz aller Umweltprobleme Anlass zur Zuversicht, und in seinem kürzlich erschienenen Buch über die Bedeutung des Agrarbooms im 20. Jahrhundert unterscheidet der Wissenschaftsautor Charles G. Mann zwischen denen, die auf die bevorstehende Herausforderung einer Ressourcenknappheit mit reflexhaftem Optimismus reagieren - er nennt sie »Zauberer« -, und denen, die die Welt immer kurz vorm Kollaps wähnen - den »Propheten«.

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Doch obwohl die Grüne Revolution fast schon zu perfekt ersonnen und durchgeführt wirkt, um Ehrlichs Panikmache zu widerlegen, ist sich Charles Mann nicht sicher, welche Lektionen sich daraus ableiten lassen.

Es mag noch zu früh sein, um Ehrlich - oder sogar seinen Vorläufer Malthus - zu verurteilen, da sich fast alle erstaunlichen Produktivitätssteigerungen des vergangenen Jahrhunderts auf einen einzigen Mann zurück­führen lassen, Norman Borlaug, der vielleicht besten Verkörperung der humanitären Tugenden des imperialen Jahrhunderts Amerikas.

 wikipedia  Norman_Borlaug  *1914 in Iowa bis 2009 

Der Sohn einer Bauernfamilie aus Iowa wurde 1914 geboren, besuchte die öffentliche Schule, fand eine Stelle beim Chemiekonzern DuPont und züchtete dann, unterstützt durch die Rockefeller-Stiftung, eine Reihe extrem ergiebiger, krankheitsresistenter Weizensorten, von denen es heute heißt, sie hätten einer Milliarde Menschen auf der Welt das Leben gerettet.180 Doch wenn diese Entwicklung ein einmaliger Schub war - größtenteils ausgelöst durch einen einzigen Mann -, wie sehr können wir dann auf zukünftige Fortschritte dieser Art bauen?

Der Fachausdruck für den Gegenstand dieser Diskussion ist »Tragfähigkeit«: Wie viele Organismen kann ein bestimmter Lebensraum fassen, bevor er durch Überbeanspruchung geschädigt wird oder zusammenbricht? Doch es ist eine Sache, sich zu überlegen, was der Maximalertrag einer bestimmten Landfläche ist, aber eine andere, darüber nachzudenken, wie sehr dieser Wert von den Umweltsystemen bestimmt wird - Systemen, die so groß und schwer zu durchdringen sind, dass wohl nicht einmal ein herausragender Zauberer wie Borlaug sie bewusst hätte steuern können. Die Erderwärmung ist, mit anderen Worten, mehr als ein Faktor in der Gleichung zur Ermittlung der Tragfähigkeit; sie stellt die Rahmenbedingungen dar, unter denen alle Experimente zur Verbesserung dieser Tragfähigkeit durchgeführt werden müssen.

Daher ist der Klimawandel nicht nur eine Herausforderung unter vielen, mit denen unser Planet, der bereits mit Unruhen, Krieg, furchtbarer Ungerechtigkeit und viel zu vielen weiteren unlösbaren Problemen zu kämpfen hat, konfrontiert ist, sondern die allumfassende Bühne, auf der all diese Dinge angegangen werden müssen - mit anderen Worten: die Sphäre, die buchstäblich alle zukünftigen Probleme der Welt und alle möglichen Lösungen enthält.

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Merkwürdigerweise - absurderweise - könnten Problem und Lösung ein und dasselbe sein. Die Graphen, die die jüngsten Erfolge in den Entwicklungsländern abbilden - in Bezug auf Armut, Hunger, Bildung, Kinder­sterb­lichkeit, Lebenserwartung, Gleichberechtigung etc. -, sind praktisch deckungsgleich mit den Graphen, die den drastischen Anstieg des weltweiten CO2-Ausstoßes anzeigen, der unseren Planeten an den Rand einer flächen­deckenden Katastrophe geführt hat. Das ist ein Aspekt, um den es geht, wenn der Begriff »Klimagerechtigkeit« fällt. Denn nicht nur ist es unleugbar, dass die schlimmsten Auswirkungen des Klimawandels diejenigen treffen werden, die derartigen Tragödien am wenigsten entgegenzusetzen haben, sondern es gilt auch: Das, was man als »humanitäres Wachstum« der Mittelschicht in den Schwellen- und Entwicklungsländern seit dem Kalten Krieg bezeichnen könnte, ist größtenteils auf eine durch fossile Energien befeuerte Industrialisierung zurückzuführen - das Wohlergehen des Globalen Südens ist also erkauft durch Anleihen bei der ökologischen Zukunft des Planeten.

Das ist einer der Gründe, warum das Schicksal unseres Klimas zu einem überwältigenden Anteil von den Entwicklungsverläufen in China und Indien abhängt, die mit der tragischen Last zu kämpfen haben, dass sie versuchen, Aberhunderte Millionen Menschen den Zugang zur globalen Mittelschicht zu ermöglichen, während sie gleichzeitig wissen, dass die bequemen Wege, die jene Nationen beschritten haben, die sich im 19. oder auch 20. Jahrhundert industrialisiert haben, heute ins Klimachaos führen. Was aber nicht bedeutet, dass diese Länder sie nicht trotzdem einschlagen: Es wird erwartet, dass der Milchkonsum in China sich bis 2050 verdreifachen wird, weil die aufkommende Käuferschicht ihren Geschmack an den westlichen Vorlieben ausrichtet - und allein dieser Boom eines einzelnen Produkts in einem einzelnen Land könnte den weltweiten Treibhausgasausstoß durch Milchprodukte um 35 Prozent in die Höhe treiben.(181)

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Schon heute geht ein Drittel aller Emissionen auf die Nahrungsmittelproduktion zurück.182 Greenpeace schätzt, dass der weltweite Fleisch- und Milchproduktverzehr bis 2050 auf die Hälfte reduziert werden müsste, um einen gefährlichen Klimawandel zu verhindern, doch unsere Erfahrungen damit, was passiert, wenn der Wohlstand in einem Land steigt, deuten darauf hin, dass das nahezu unmöglich ist.183 Und der Verzicht auf Milch wäre nur ein Schritt - die Forderung, sich billigen Strom, die massenhafte Verbreitung von Autos und die proteinhaltige Ernährung zu versagen, der die Wohlhabenden der Welt frönen, um dünn zu bleiben, ist noch schwer­wiegender.

Wir hier im postindustriellen Westen bemühen uns, nicht über diese Dinge nachzudenken, die uns so enorm viel Nutzen eingebracht haben. Wenn doch, plagen uns oft Schuldgefühle - wir verspüren das, was der Kritiker Kris Bartkus so bezeichnend »Malthusianische Tragik« nennt: die Unfähigkeit, dem Alltagsleben im gut situierten Westen angesichts der Verheerungen, die unser Wohlstand in der von uns eroberten Natur angerichtet hat, und dem Leid derer, die anderswo auf der Erde im Rennen um die endlosen materiellen Annehmlichkeiten zurückbleiben - und im Grunde dafür bezahlen müssen -, auch nur einen Rest von Unschuld abzu­gewinnen.184

Diese tragische oder auch selbstmitleidige Anschauungsweise trifft natürlich nur auf einen kleinen Teil der Menschen zu. Weitaus verbreiteter als die komplette Verleugnung oder restloser Fatalismus ist eine Mischung aus Unwissenheit und Gleichgültigkeit. Diese Klimakrankheit, die letztendlich mutwillig ist, auch wenn sie oft als Machtlosigkeit posiert, ist das Thema von William T. Vollmanns großem, zweibändigem Werk Carbon Ideologies, dessen erste Sätze - nach dem vorangestellten Motto von Steinbeck: »Verbrecher sind immer die anderen« - lauten: »Irgendwann, in vielleicht nicht allzu ferner Zukunft, fragen sich die Bewohner eines Planeten, der heißer, gefährlicher und biologisch dezimierter ist als derjenige, auf dem ich lebte, vielleicht einmal, was Sie und ich uns eigentlich dabei gedacht haben, oder ob wir überhaupt gedacht haben.«

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Ein Großteil des Vorworts ist in der Vergangenheit geschrieben, aus einer fiktiven, von Verheerungen geprägten Zukunft heraus. »Natürlich haben wir es uns selbst angetan, wir waren immer schon intellektuell träge, und je weniger man uns abverlangte, desto weniger hatten wir zu sagen«, schreibt Vollmann. »Wir alle lebten für Geld, und wir starben auch dafür.« 

 wikipedia  William_T._Vollmann  *1959 in L.A.      wikipedia  John_Steinbeck  *1902 in Kalifornien bis 1968 

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Dürren könnten ein noch größeres Problem für die Nahrungsmittelproduktion darstellen als die Hitze, weil ein Teil der urbaren Flächen der Erde sich rasch in Wüsten verwandelt.

Bei einer Erwärmung um zwei Grad werden der Mittelmeerraum und weite Bereiche Indiens verdorren, und der Mais- und Hirseanbau auf der ganzen Welt wird beeinträchtigt sein, was zu Engpässen in der Nahrungs­mittel­versorgung führt.185 Bei 2,5 Grad könnte die Erde, hauptsächlich bedingt durch Dürren, ein Ernährungsdefizit erleiden - das heißt, die Menschen würden mehr Kalorien verbrauchen, als der Planet erzeugen kann. Bei drei Grad würden sich die Dürren noch weiter ausbreiten - auf Mittelamerika, Pakistan, den Westen der USA und Australien. Bei fünf Grad wären dann »zwei den Globus umspannenden Gürtel beständiger Dürre« entstanden, wie es der Umweltschützer Mark Lynas bezeichnet.186

Bei Niederschlägen ist es ganz besonders schwierig, detaillierte Modelle aufzustellen, aber die Voraussagen für den späteren Teil unseres Jahrhunderts stimmen im Grunde alle überein: Es wird sowohl beispiellose Trocken­perioden als auch beispiellose Überschwemmungen auslösende Regenfälle geben. Wenn wir die Emissionen nicht drastisch reduzieren, wird Südeuropa 2080 unter einer dauerhaften extremen Dürre leiden, viel schlimmer, als es im amerikanischen Dust Bowl je der Fall war.187 Das Gleiche gilt für den Irak, Syrien und weite Teile des Nahen Ostens, für einige der am dichtesten besiedelten Bereiche Australiens, Afrikas und Südamerikas sowie für die Kornkammern Chinas.188

Keine dieser Regionen, die heute einen bedeutenden Beitrag zur weltweiten Nahrungsmittelproduktion liefern, wäre dann noch ein zuverlässiges Anbaugebiet.

Und was den ursprünglichen Dust Bowl angeht:

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Die Dürreperioden in den Inneren Ebenen und im Südwesten der USA wären nicht nur schlimmer als in den 1930er-Jahren, wie eine NASA-Studie aus dem Jahr 2015 voraussagt, sondern schlimmer als alle Dürren des letzten Jahrtausends - einschließlich derer, die zwischen 1100 und 1300 wütete, alle Flüsse östlich der Sierra Nevada austrocknen ließ und möglicherweise zum Untergang der Anasazi-Kultur führte.(189)

 wikipedia  Anasazi  

Dabei muss man sich vor Augen führen, dass wir trotz der herausragenden Errungenschaften der letzten Jahrzehnte heute nicht in einer Welt ohne Hunger leben, im Gegenteil: Die meisten Schätzungen gehen davon aus, dass weltweit 800 Millionen Menschen unterernährt sind, davon 100 Millionen aufgrund von Klimaveränderungen.190 Der sogenannte verborgene Hunger - Mangel- oder Fehlernährung - ist deutlich verbreiteter, von ihm sind mehr als eine Milliarde Menschen betroffen. Im Frühjahr 2017 erlebten Afrika und der Nahe Osten eine noch nie dagewesene, vierfache Hungersnot; die Vereinten Nationen warnten davor, dass die voneinander unabhängigen Ereignisse in Somalia, Südsudan, Nigeria und Jemen in jenem Jahr 20 Millionen Todesopfer fordern könnten. Und dabei ging es um ein einziges Jahr auf einem einzigen Kontinent, der mittlerweile eine Milliarde Menschen ernähren muss und dessen Bevölkerung sich Schätzungen zufolge im Verlauf des 21. Jahrhunderts auf vier Milliarden erhöhen, also vervierfachen wird.

Man kann nur hoffen, dass dieser Bevölkerungszuwachs weitere Borlaugs hervorbringen wird, am besten gleich eine ganze Reihe davon. Und es gibt bereits erste Hinweise auf mögliche technologische Durchbrüche: China investiert in individuell zugeschnittene Anbaumethoden, um die Produktivität zu steigern und den Einsatz von Treibhausgase freisetzenden Düngemitteln zu reduzieren;191 in Großbritannien kündigte ein »erdboden­loses Start-up« 2018 die erste »Ernte« an;192 in den USA ist schon von den Erfolgsaussichten des »vertikalen Anbaus« die Rede, bei dem Fläche eingespart wird, indem man im Inneren von Gebäuden mehrere Etagen von Pflanzen über-einandersetzt, und von im Labor gewonnenen Proteinen, die das gleiche Ziel verfolgen, indem man Fleisch in Reagenzgläsern heranzüchtet.

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Doch diese Technologien bilden die Avantgarde; sie sind ungleich über die Erde verteilt und so teuer, dass sie für die Bedürftigsten erst einmal nicht verfügbar sind. Vor einem Jahrzehnt herrschte große Zuversicht, dass gentechnisch veränderte Nutzpflanzen für eine weitere Grüne Revolution sorgen könnten, aber diese Methode ist bis heute hauptsächlich dafür genutzt worden, um Pflanzen widerstandsfähiger gegen Pestizide zu machen, die von den gleichen Firmen hergestellt und verkauft werden, die auch die Pflanzensorten vertreiben. Und der gesellschaftliche Widerstand gegen Gentechnik ist so schnell gewachsen, dass die amerikanische Biosuper­markt­kette Whole Foods das Wasser ihrer Hausmarke jetzt als »gentechnikfreies Mineralwasser« verkauft.

Dabei ist völlig unklar, welchen Nutzen selbst diejenigen, denen diese Avantgarde-Technologien zur Verfügung stehen, daraus ziehen können. In den vergangenen 15 Jahren hat der eigenwillige Mathematiker Irakli Loladze ermittelt, dass Kohlendioxid schwerwiegende Auswirkungen auf die Ernährung des Menschen hat, die die Pfianzen-physiologen nicht vorausgesehen haben: Das Gas macht Pflanzen größer, aber die größeren Pflanzen enthalten nicht mehr Nährstoffe.

»Jedes Blatt und jeder Halm auf der Erde bilden mehr und mehr Zucker, wenn der CO2-Gehalt weiter steigt«, erzählte er der amerikanischen Zeitung Politico im Rahmen eines Artikels über seine Arbeit, der die Überschrift »Der große Nährstoffkollaps« trug. »Wir erleben gerade die größte Zufuhr von Kohlenhydraten in die Biosphäre seit Menschengedenken - [eine] Zufuhr, die den Anteil anderer Nährstoffe in unserer Lebensmittelversorgung verringert.«193

Seit 1950 ist die Konzentration der guten Inhaltsstoffe - Protein, Calzium, Eisen, Vitamin C, um nur vier davon zu nennen - in den Pflanzen, die wir anbauen, um ein Drittel zurückgegangen, zeigte eine richtungs­weisende Studie 2004. Unser Essen wird immer mehr zu Junkfood.194 Selbst der Proteingehalt von Blütenpollen ist um ein Drittel geschrumpft.195

Das Problem verschlimmert sich mit zunehmender Konzentration der Kohlenstoffverbindungen. Kürzlich schätzten Forscher, dass bis 2050 etwa 150 Millionen Menschen in den Entwicklungsländern infolge des Nähr­stoff­kollapses an Proteinmangel leiden könnten, weil viele der Armen auf der Erde ihr Protein hauptsächlich aus Getreide beziehen, nicht aus Fleisch.(196) 138 Millionen könnten zu wenig Zink zu sich nehmen, ein Spurenelement, das wichtig ist für einen gesunden Schwangerschaftsverlauf,197 und bei 1,4 Milliarden Menschen besteht die Gefahr, dass ihr Eisenverzehr deutlich zurückgeht, was eine rasante Ausbreitung der Blutarmut nach sich ziehen könnte.(198)

2018 untersuchte ein agrarwissenschaftliches Team unter der Leitung von Chunwu Zhu den Proteingehalt von 18 verschiedenen Sorten Reis, dem Grundnahrungsmittel von mehr als zwei Milliarden Menschen, und fand heraus, dass mehr Kohlendioxid in der Luft generell zu einem Rückgang des Nährstoffgehalts führt, sowohl in Bezug auf Proteine als auch auf Eisen, Zink und die Vitamine B1 B2, B5 und B9 - im Grunde allem außer Vitamin E.(199)

Insgesamt kamen die Forscher zu dem Schluss, dass der Kohlendioxidausstoß allein durch seine Auswirkungen auf diese eine Pflanze, Reis, die Gesundheit von 600 Millionen Menschen beeinträchtigen könnte. In vergangenen Jahr­hunderten bildete diese Pflanze die Grundlage von Kaiserreichen. Der Klimawandel verspricht nun das Aufkommen eines weiteren Reichs, nämlich dem des Hungers unter den Armen der Welt.

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