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II. Elemente des Chaos  

  2.9 - Seuchenalarm  

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Gestein ist ein Zeugnis der Erdgeschichte; in ihm haben die Kräfte der geologischen Entwicklung Millionen Jahre andauernde Zeitalter in Schichten gepresst, die - wenn überhaupt - nur wenige Zentimeter dick sind. Das Gleiche gilt für Eis: Auch an ihm lässt sich die Klimageschichte ablesen, aber sie ist nur eingefroren, was bedeutet, dass ein Teil davon auch wieder zum Leben erwachen kann, wenn es taut.

Tief im arktischen Eis befinden sich heute Krankheiten, die seit Millionen Jahren nicht mehr auf der Erde ausgebrochen sind - in manchen Fällen, seit dort Menschen herumlaufen, die sich damit anstecken könnten.454 Was bedeutet, dass unser Immunsystem keine Ahnung hätte, wie es sich dagegen zur Wehr zu setzen hätte, wenn diese prähistorischen Seuchen aus dem Eis auftauchen würden.

Schon heute sind in Laboren mehrere Mikroben wieder zum Leben erweckt worden: eine 32.000 Jahre alte »extremophile« Bakterie,455 die 2005 aufgetaut wurde, ein acht Millionen Jahre alter Bazillus,456 2007 wiederbelebt, sowie ein 3,5 Millionen Jahre alter, den sich ein russischer Forscher selbst injizierte, nur weil er neugierig war, was geschehen würde.457 (Er überlebte.) 2018 holten Wissenschaftler etwas Größeres wieder ins Leben zurück - einen Wurm, der 42.000 Jahre lang im Permafrostboden eingefroren gewesen war.458

In der Arktis gibt es auch furchtbare Krankheiten aus nicht ganz so vergangenen Zeiten. In Alaska haben Forscher Überreste der Grippe gefunden,459 mit der sich 1918 500 Millionen Menschen ansteckten und die 50 Millionen Opfer forderte - etwa 3 Prozent der damaligen Weltbevölkerung und fast sechsmal so viele, wie im Ersten Weltkrieg gestorben waren, hinter den die Pandemie eine Art grausamen Schlusspunkt setzte.460

Wissenschaftler gehen davon aus, dass die Pocken und die Beulenpest im sibirischen Eis verborgen liegen, neben einer Reihe weiterer Krankheiten, die wir nur noch aus Legenden kennen - eine kurze Geschichte der verheerenden Krankheiten, die wie Eiersalat der arktischen Sonne ausgeliefert ist.461

Viele der eingefrorenen Organismen würden ein Auftauen nicht überstehen; bei denjenigen, die wieder zum Leben erweckt wurden, wurde meist akribisch genau auf die richtigen Laborbedingungen geachtet. Doch 2016 starb ein Junge an einer Milzbrandinfektion, die er sich von einem toten Rentier eingefangen hatte, das mindestens 75 Jahre zuvor an der Krankheit verendet war und nun vom schwindenden Permafrostboden freigegeben wurde. 20 weitere Menschen erkrankten, und mehr als 2000 Rentiere aus der heutigen Zeit starben.(462)    wikipedia  Milzbrand

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Was den Epidemiologen mehr Sorgen bereitet als uralte Seuchen sind bestehende Krankheiten, die durch die Erwärmung an neuen Orten auftauchen, mutieren oder sich sogar neu bilden. Der erste Effekt ist ein geografischer. Vor der frühen Neuzeit diente die örtliche Begrenztheit des Menschen als Schutz gegen Seuchen - eine Krankheit konnte ein Dorf auslöschen, ein Königreich und in extremen Fällen sogar die Bevölkerung eines ganzen Kontinents, aber sie kam in den meisten Fällen kaum weiter, als ihre Opfer reisten - also nicht weit. Die Pest löschte im 14. Jahrhundert 60 Prozent der Bevölkerung in Europa aus, aber malen Sie sich als schrecklichen Gegenentwurf einmal aus, wie groß ihre Auswirkungen in einer wirklich globalisierten Welt gewesen wären.

Trotz der Globalisierung und der unaufhörlichen Durchmischung der Erdbevölkerung sind unsere Ökosysteme heute größtenteils stabil, und das wirkt wie eine weitere Grenze - wir wissen, wo sich bestimmte Viren ausbreiten und wo sie keine Chance haben. (Das ist der Grund dafür, warum für manche Spielarten des Abenteuertourismus Dutzende Impfungen und die vorbeugende Einnahme von Medikamenten nötig sind, während New Yorker, die nach London reisen, nichts zu befürchten haben.)

Doch die Erderwärmung wird diese Ökosysteme aufbrechen und dadurch dazu beitragen, dass sich Krankheiten über deren Grenzen hinweg ausbreiten können, so wie es der spanische Konquistador Hernan Cortes in Südamerika bewirkte. Heute ist der Verbreitungsraum jeder von Moskitos übertragenen Erkrankung eingeschränkt, aber die Grenzen verschwinden, je weiter sich die Tropen ausdehnen - im Moment um etwa 50 Kilometer pro Jahrzehnt.

In Brasilien trat das Gelbfieber über Generationen hinweg nur im Amazonasbecken auf, wo sich die Moskitogattungen Haemagogus und Sabethes besonders wohl fühlten.463

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Daher stellte die Krankheit eine Gefahr für all diejenigen dar, die tief im Urwald lebten, arbeiteten oder unterwegs waren - aber eben nur für sie. 2016 breitete sich die Krankheit auch außerhalb der Amazonasregion aus, da immer mehr Moskitos den Regenwald verließen; 2017 hatte sie bereits die Ränder der Megalopolen des Landes, Sao Paulo und Rio de Janeiro, erreicht. Nun bedroht die Krankheit, die zwischen 3 und 8 Prozent der Infizierten das Leben kostet, mehr als 30 Millionen Menschen, von denen viele in Slums leben.464

Das Gelbfieber ist nur eine der Plagen, die Moskitos in die neuen Lebensräume mitnehmen, von denen sie sich in der immer wärmer werdenden Welt mehr und mehr erobern - eine Globalisierung der Pandemien. Allein an Malaria sterben jedes Jahr eine Million Menschen, und es infizieren sich noch viel mehr, aber darüber machen Sie sich vermutlich wenig Gedanken, wenn Sie im Norden der USA oder in Deutschland leben.465 Doch wenn sich die Tropen und mit ihnen die Moskitos immer weiter Richtung Norden ausbreiten, sollten Sie das vielleicht tun; im Verlauf des kommenden Jahrhunderts werden mehr und mehr Menschen von solchen Krankheiten bedroht sein. Vor Zika hat sich bis vor ein paar Jahren schließlich auch niemand gefürchtet.

Und da wir gerade beim Thema sind: Zika ist auch ein gutes Beispiel für eine zweite besorgniserregende Erscheinung - die Mutation von Krankheiten.466 Ein Grund dafür, dass Sie bis vor Kurzem noch nie etwas von Zika gehört hatten, ist, dass das Virus nur in Uganda und Südostasien vorkam, ein weiterer, dass es anscheinend erst seit kurzer Zeit Fehlbildungen bei ungeborenen Kindern hervorruft.467 Die Wissenschaftler verstehen bis heute, mehrere Jahre nach dem Ausbruch der weltweiten Panik vor Mikrozephalie, noch nicht, was eigentlich passiert ist oder was sie übersehen haben. Es ist möglich, dass sich die Erkrankung veränderte, als sie auf den amerikanischen Kontinent kam, infolge einer Genmutation oder weil sich das Virus an die neue Umgebung anpasste. Oder aber das Zika-Virus verursacht die schlimmen Missbildungen bei Embryos nur dann, wenn unterschwellig eine weitere Krankheit vorliegt, vielleicht eine, die in Afrika weniger weit verbreitet ist.468 Oder irgendein Umstand in der Umgebung oder der Immungeschichte Ugandas schützt Mütter und ihre ungeborenen Kinder.

Aber in manchen Punkten wissen wir ganz genau, wie das Klima Krankheiten beeinflusst. Malaria floriert beispielsweise in heißeren Regionen, was einer der Gründe dafür ist, dass laut einer Einschätzung der Weltbank im Jahr 2030 3,6 Milliarden Menschen durch die Erkrankung bedroht sein werden - 100 Millionen von ihnen infolge des Klimawandels.469

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Voraussagen wie diese basieren nicht nur auf Klimamodellen, sondern verlangen ein tief greifendes Verständnis des betroffenen Organismus - oder besser gesagt: der Organismen.

Die Infektion mit Malaria hängt sowohl vom Erreger als auch von den Moskitos ab; die mit Lyme-Borreliose vom Erreger und den Zecken - einer weiteren Krankheiten übertragenden Tierart, deren Lebensraum dank der Erderwärmung rasch wächst. Die Wissenschaftsjournalistin Mary Beth Pfeiffer hat ermittelt, dass die Anzahl der Lyme-Borreliose-Fälle in Japan, der Türkei und in Südkorea, wo die Erkrankung vor 2010 quasi nicht existierte, in die Höhe geschossen ist - damals gab es null Fälle, heute kommen in Korea jedes Jahr Hunderte neue hinzu.470 In den Niederlanden sind mittlerweile 54 Prozent des Landes betroffen; und insgesamt sind die Fallzahlen in Europa heute dreimal so hoch wie früher. In den Vereinigten Staaten geht man von 300.000 Neuinfektionen pro Jahr aus - und da viele der Patienten, die wegen einer solchen Borreliose behandelt werden, noch Jahre später Symptome zeigen, häuft sich die Zahl der Betroffenen mit der Zeit an.471

Allgemein hat sich die Anzahl der Erkrankungen, die durch Moskitos, Zecken und Flöhe ausgelöst werden, in den USA allein in den vergangenen 13 Jahren verdreifacht, wobei Dutzende Bezirke im ganzen Land zum ersten Mal mit Zecken zu tun hatten.472 Doch am deutlichsten treten die Auswirkungen wohl in anderen Lebewesen als dem Menschen zutage: In Minnesota trugen die Winterzecken in den 2000er-Jahren dazu bei, dass der Elchbestand innerhalb nur eines Jahrzehntes um 58 Prozent sank, und manche Umweltschützer glauben, dass die Tiere schon 2020 ganz aus dem Bundesstaat verschwunden sein könnten.473

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In Neuengland hat man tote Elchkälber gefunden, die von 90.000 aufgeblähten Zecken befallen waren, und das Opfer war oft gar nicht an Borreliose gestorben, sondern schlicht am Blutverlust, der entsteht, wenn eine solche Masse von Parasiten jeweils ein paar Milliliter Blut aus dem Elch saugt.474 Tiere, die das überleben, sind wenig widerstandsfähig; viele von ihnen haben sich so intensiv am ganzen Körper gekratzt, um die Zecken loszuwerden, dass ihr gesamtes Fell verschwunden und stattdessen eine gruselig anmutende graue Haut zu sehen ist, die ihnen den Namen »Geisterelche« eingebracht hat.

Die Lyme-Borreliose ist immer noch eine relativ neue Krankheit, die wir noch nicht sonderlich gut verstehen: Wir schreiben ihr eine etwas rätselhafte und uneinheitliche Reihe von Symptomen zu, von Gelenk­schmerzen über Erschöpfungserscheinungen und Gedächtnisverlust bis hin zu Gesichtslähmungen - vage Umschreibungen für Leiden, die wir nicht klar benennen können, bei Patienten, von denen wir wissen, dass sie von einem Überträger gebissen wurden. Zecken hingegen kennen wir, genauso gut wie Malaria - es gibt wenige Parasiten, über die wir mehr wissen. Aber es gibt viele, viele Millionen, mit denen wir weniger Erfahrung haben, was bedeutet, dass unsere Einschätzung, wie sehr sich der Klimawandel auf ihre Verbreitung oder ihre Lebensweise auswirkt, stark von einer bedrohlichen Ahnungslosigkeit getrübt ist.

 wikipedia  Lyme-Borreliose

Und dann gibt es da ja noch die Krankheiten, mit denen wir durch den Klimawandel zum allerersten Mal konfrontiert sein werden - ein ganz neues Universum von Infektionen, von denen die Menschheit nicht einmal wusste, dass sie auftreten könnten. »Neues Universum« ist keine Übertreibung. Wissenschaftler schätzen, dass die Erde mehr als eine Million unentdeckter Virusarten beherbergen könnte.475 Und da Bakterien noch heim­tückischer sind, dürfte die Zahl in ihrem Fall noch höher liegen.

Vielleicht am furchteinflößendsten sind die, die in unserem Inneren leben - bisher friedlich. Selbst von diesen Bakterien sind der Wissenschaft bisher über 99 Prozent unbekannt.

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Das bedeutet, dass wir fast völlig ahnungslos sind, wie sich der Klimawandel auf das Leben in unserem Körper auswirken könnte, zum Beispiel in unserem Darm: Wie viele der Bakterien, der unsichtbaren Fabrik­arbeiter, von denen der moderne Mensch so abhängig ist, weil sie unsere Nahrung verarbeiten, darüber entscheiden, wann wir Angst empfinden und vieles mehr, würden durch eine um ein paar Grad erhöhte Temperatur auf der Erde abgewandelt, dezimiert oder voll und ganz ausgelöscht?476

Der allergrößte Teil der Viren und Bakterien, die in unserem Inneren leben, ist für den Menschen natürlich ungefährlich - noch. Eine Erderwärmung um ein oder zwei Grad würde das Verhalten der meisten von ihnen vermutlich nicht dramatisch verändern - das gilt wahrscheinlich für eine große, vielleicht sogar für die überwältigende Mehrheit.

Aber denken Sie nur an die Saiga - eine hinreißende kleine Antilopenart, die in Zentralasien heimisch ist.477 Im Mai 2015 starben fast zwei Drittel des weltweiten Bestandes innerhalb weniger Tage - jede einzelne Saiga in einem Bereich von der Größe Floridas; die Gegend war plötzlich von Hundert­tausenden Saiga-Kadavern übersät, Überlebende gab es keine.478

Ein solches Ereignis wird als Massensterben bezeichnet, und dieser Fall war so frappierend und eindrucksvoll, dass sofort eine Reihe von Verschwörungstheorien aufkamen: Außerirdische, Strahlung, unauffällig entsorgter Raketentreibstoff. Aber die Wissenschaftler, die im Antilopenfriedhof herumstocherten, fanden keine Giftstoffe - weder in den Tieren selbst noch im Boden oder in den dort wachsenden Pflanzen. Der Schuldige war, wie sich herausstellte, eine simple Bakterie, Pasteurella multocida, die über viele Generationen hinweg auf den Mandeln der Saiga existiert hatte, ohne ihrem Wirt in irgendeiner Weise zu schaden. Doch plötzlich hatte sie sich rasant vermehrt, war in den Blutkreislauf eingedrungen und hatte von dort aus die Leber, die Nieren und die Milz der Tiere befallen. Warum? »Die Gebiete, in denen die Saigas im Mai 2015 starben, waren extrem heiß und feucht«, schrieb der Wissenschaftsjournalist Ed Yong in The Atlantic.

»Die Luftfeuchtigkeit war so hoch, wie es in der Gegend seit Beginn der Messungen 1948 noch nicht vorgekommen war. Ein ähnliches Muster hatte man bei zwei vorherigen, deutlich kleineren Massensterben 1981 und 1988 beobachten können. Wenn die Temperaturen stark ansteigen und die Luft sehr feucht ist, sterben die Saiga-Antilopen. Das Klima ist der Finger am Abzug, Pasteurella die Kugel.«

Das heißt allerdings nicht, dass wir nun wüssten, wie genau die Feuchtigkeit Pasteurella in eine tödliche Gefahr verwandelt oder wie viele weitere der Bakterien, die in Säugetieren wie uns leben - egal, ob sie dem einen Prozent entstammen, das wir identifizieren konnten, oder vielleicht eher den beunruhigenderen 99 Prozent, die wir in uns tragen, ohne irgendetwas darüber zu wissen -, vielleicht auf ähnliche Weise vom Klima beeinflusst werden könnten; freundliche kleine Wesen, mit denen wir in manchen Fällen seit Millionen Jahren zusammenleben, die sich plötzlich in unserem Inneren in Erreger verwandeln. Das bleibt ein Rätsel. Aber eine Beruhigung ist diese Unwissenheit nicht. Denn der Klimawandel wird uns vermutlich mit einigen von ihnen bekannt machen.

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