3.13 Wirkung, Bahros Erbe, die Aktualität sozialökologischen Denkens
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Bekannt, ja weltberühmt wurde Rudolf Bahro mit seiner <Alternative>, deren Wirkung wir im Teil 1 wenigstens annähernd beschrieben haben. In der internationalen marxistischen Diskussion, die in den 60er und 70er Jahren durch französische und italienische Theoretiker, durch jugoslawische und tschechoslowakische Praxis-Philosophen, durch Bloch und Lukács sowie die von ihm inspirierte »Budapester Schule« bestimmt wurde, hat die offizielle DDR-Philosophie — ebenso wie die sowjetische — keine Rolle gespielt, und auch die wenigen abweichenden Theoretiker wie Havemann oder Harich blieben lokale Ereignisse.
Das einzige sozialphilosophische Werk aus der DDR, das weltweit rezipiert wurde, war die <Alternative>. Aus der geistigen Enge der DDR heraus hatte Bahro die ihm zugänglichen wichtigen Werke von Gramsci bis Mandel studiert und produktiv genutzt, vor allem aber den jungen Marx mit seinen Vorstellungen von den menschlichen Wesenskräften und der allgemeinen Emanzipation als unaufgebbare philosophische Position sein Leben lang ernstgenommen, das im Marxismus vergessene Programm der Versöhnung von Mensch und Natur aufgegriffen und zu einer seiner Leitvorstellungen gemacht.
Doch nach einigen Jahren war die aktuelle, nämlich die politische Wirkung im wesentlichen vorüber. Wenn es in einer Rezension der 1990 erschienenen DDR-Ausgabe hieß: »Die <Alternative> ist der Prolog, das Urbuch des Aufbruchs im Herbst«, so ist das leider genauso wenig zutreffend wie die Fortsetzung des Satzes, »daß das Buch zugleich zum Abgesang, wenn nicht Nachruf einer gescheiterten Revolution wurde«. (Steffen Schmidt: Ein Philosoph, der zwischen allen Stühlen sitzt, ND, 24.03.1990).
Mit dem Ende des Sozialismus in Osteuropa und dem damit verbundenen Niedergang des Marxismus ist es auch um die <Alternative> still geworden. Unvergleichlich geringer war die aktuelle Wirkung der <Logik der Rettung> — das ging bereits bei der Auflagengröße los. Von den späteren Büchern ganz zu schweigen. Bahro hatte in einem Interview (Junge Welt, 3.11.1990) schon mal für sich Bilanz gezogen:
»Allerdings sehe ich, daß ich mit diesem Idealismus, mit dem auch die <Alternative> geschrieben ist, nicht weitergekommen bin. Wir sind gescheitert an unseren empirischen Schranken, an denen das Prinzip, um das es gegangen ist, sich verfangen hat. [...] Aber alles, was an Begriff und Konzept da war, von denen wir annahmen, wir brauchten nur zu versuchen, die Prinzipien zu leben und zu verwirklichen, dann würde es schon werden, was wir gewollt haben — das war natürlich Illusion.«
Das Jahr 1997 war mit dem Rückblick auf den 20. Geburtstag der <Alternative> ein Anlaß, über das Buch, seine Entstehung und die Folgen in der damaligen DDR nachzudenken — eine Tagung in Schwerin, weitere Vorträge und Artikel von Guntolf Herzberg haben kurzzeitig das Interesse an diesem Werk wieder wachgerufen.
Nach Bahros Tod gab es im April 1998 im Audimax der Humboldt-Universität die erste großangelegte Veranstaltung zur Würdigung seines Lebenswerkes unter dem Titel <Auf Geist und Herz gebaut>. Einen ganzen Tag lang wurde in 17 Vorträgen das philosophische, sozialökologische und politische Denken Bahros vorgestellt. Genannt seien hier nur Michael Succows Vortrag <Rudolf Bahro und die Zukunft von Mensch und Erde>, Gregor Gysi mit <Rudolf Bahro und die Politik>, Christian Sigrists <Das Politische neu denken>, Gisela Kraft mit <Vorarbeiten für ein Goldenes Zeitalter> oder Ulrich Melle mit <Rudolf Bahro und das Menschenbild in der öko-philosophischen Diskussion>.
Daß es dabei nicht nur um Laudationes ging, zeigte pars pro toto der Argrarökonom Konrad Hagedorn, wenn er in seinem Vortrag <Die Zukunft der Sozialökologie an der Fakultät> vorsichtig formuliert:
»Die Gruppe Sozialökologie wird nach meinem Eindruck nicht versuchen, Rudolf Bahro zu imitieren. Sie müßte zweifellos daran scheitern. Es wird dagegen eine der vornehmsten Aufgaben der Sozialökologie sein, Versuche der Anwendung der Thesen von Rudolf Bahro und natürlich insbesondere seines Konzepts der Rettung zu versuchen, Anwendung gerade im Bereich der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften des Landbaus. Daß dies nicht unkritisch erfolgen kann, brauche ich gar nicht zu erwähnen; Rudolf Bahro hätte dies nicht gewollt, und gerade ein so konkreter und von Problemen geschüttelter Bereich wie die Landwirtschaft gibt nicht nur Gelegenheit zur harmonischen Realisierung von vorgedachten Ideen ökologisch-institutionellen Wandels, sondern auch zu deren Falsifizierung.«*
* (d-2010:) wikipedia Falsifikation Widerlegung E.Bloch bei detopia
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Zweieinhalb Jahre nach dieser ersten Bestandsaufnahme wurde — als besondere Ehrung — im Foyer der Humboldt-Universität zum 65. Geburtstag Bahros eine Ausstellung eröffnet, dazu ein Symposium durchgeführt, auf dem Volker Braun, Dieter Klein und Maik Hosang ihre Erinnerungen an diesen ungewöhnlichen Menschen vortrugen. Der Senatssaal war bis auf den letzten Platz gefüllt, viele standen noch an den Wänden entlang.
Eine größere Dimension als das Erinnern umfaßte eine Veranstaltung im März 2001, ebenfalls in der Humboldt-Universität, bei der es in einer differenzierten Weise um das Verhältnis von Ökologie und Politik und Moral und Spiritualität, um Bahros Fundamentalismus und um seine Anregungen für Politik und Ökologie ging. Oder in den Worten des Moderators Ralf Fücks: »Was bleibt von der heißen Spur, die er in diesen 20 bewegten Jahren zwischen der Veröffentlichung der <Alternative> und seinem frühen Tod gezogen hat?«
Fast alle Teilnehmer hatten eine ambivalente Beziehung zu Bahro oder sahen zumindest in ihm einen widersprüchlichen Denker. Wenn Carl Amery noch freundlich formulierte, daß Bahro einen der seltensten Fehler hatte, die es gibt: »Er dachte immer noch viel schneller, als er selber nachkam«, dann sahen andere prinzipiellere Fehler. Etwa Günther Nenning: Bahros Grundirrtum war — »ein wunderbarer, ehrenwerter Irrtum: daß der Sozialismus weitergeht [...], daß er meinte, aus dem Sozialismus heraus könne etwas entwickelt werden. Er unterschätzte gewaltig die Übermacht des Kapitalismus.«
Der umweltpolitische Sprecher der Grünen, Reinhard Loske, zählt Bahro zu den großen ökologischen Denkern der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und kritisiert zugleich, daß alles, was den Anstrich von Reformpolitik hatte, vor dessen Augen keine Gnade fand. Und er nennt ein Beispiel für Bahros intuitive Kraft: Am <Institut für Klima, Energie und Umwelt> in Wuppertal haben »Heerscharen von Wissenschaftlern« in den 90er Jahren gerechnet und kalkuliert, »um wieviel denn der Nutzungsdruck auf die Natur durch die moderne Industriegesellschaft zu hoch sein könnte. Und nach zwei Jahren Rechenmaschine kam ungefähr heraus: Wir müssen um den Faktor zehn herunter [...] Und in der <Alternative> kommt genau diese Zahl vor.«*
Daß man mit Spiritualität keine praktische Politik machen kann, doch eine stärker wertorientierte Politik gebraucht wird, daß Spiritualität sowohl in die private Nische führen als auch eine Haltung zur allseits geforderten Nachhaltigkeit sein kann, daß sich schließlich so gut wie keines der von Bahro bedachten Probleme erledigt hat — all das spricht für seine herausfordernden und in mancher Hinsicht produktiven Ideen.
* (d-2009:) In der <Alternative> wohl nicht In <Logik der Rettung> auf den Seiten 29, 119, 134 wird Ziegler erwähnt, als Urheber der Ökozahl 10.
Vgl. W.Ziegler bei Detopia G.Nenning bei detopia
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Wir haben für dieses Buch einige Freunde Bahros gebeten, sich Gedanken über dessen tatsächliche Wirkung zu machen. Auch sie sahen darin ein Problem.
Thomas Schubert, der sich als Schüler Bahros bezeichnen kann, kommt zu folgendem Urteil:
»Schon zu seinen Lebzeiten war es um das Wirken von Rudolf Bahros Ideen schlecht bestellt. Gemeint sind nicht die Wirkungen, welche seine Schriften und Auftritte tatsächlich hatten und die sich bisweilen zu intellektuellen Schockwellen auswuchsen. Wirken in seinem Sinne, d.h. durch seine gesellschaftlichen Reformkonzepte — sei es in Gestalt einer groß angelegten Kulturrevolution oder einer kleineren Landkommune —, konnte Bahro nur bedingt und in einer für ihn nicht zufriedenstellenden Weise.«
Weiter heißt es:
»Bahros Zusammendenken von marxistischer Gesellschaftskritik und Lebensreformkonzepten mit einer der Romantik verwandten Idee von Natur und der Suche nach einem spirituellen Zugang zur Problematik der ökologischen Krise entsprang eine Weltanschauung, welche sich der Rezeption bislang versagte.«
Als Ursache sieht Schubert, daß einer wissenschaftlichen Rezeption vor allem Bahros relativ unkritischer Synkretismus entgegenstehe und das letztendliche Fehlen einer begrifflichen, die verschiedenen Versatzstücke seines Denkens integrierenden Form. Hinzu komme, daß es Bahro als Universitätslehrer nicht gelungen sei, sich eine kritische Schülerschaft heranzubilden. Auch dafür gibt er eine Erklärung:
»Bahros Gedankengänge zielten in erster Linie auf das intellektuelle und moralische Gewissen seiner Hörer oder Leser ab. In einer bestimmten politisch-gesellschaftlichen Situation sprach er die Menschen persönlich an und konfrontierte sie mit ihren eigenen, ungelebten und oft unklaren Vorstellungen von einem wahreren und freieren Leben. Sein moralischer Rigorismus ist auch heute noch in seinen Schriften sichtbar, und wer sich von bisweilen merkwürdig erscheinenden Beispielen und zwielichtigen Verweisen nicht abschrecken läßt, kann auch heute noch davon getroffen werden.«
Zwei bemerkenswerte Feststellungen von Schubert zu seinem Lehrer:
»Welche Wirkungen könnten von Bahros letztendlichem Scheitern noch ausgehen als die Einsicht, daß die typisch Bahrosche Spielart des Widerstandes gegen die kapitalistische, globalisierte Welt keinen Erfolg zeitigt?«
Und obwohl Schubert »das in Ansätzen durchaus erkennbare Gesamtkonzept« Bahros in methodischer Hinsicht als eine »wissenschaftliche Fehlleistung ersten Grades« ansieht, kommt er zu dem Ergebnis: »so zählt das Werk Bahros in seiner einzigartigen Gestalt und in seinem überaus reichen Gehalt nicht nur zum Merkwürdigsten, sondern auch zum Bedenkenswertesten in der deutschsprachigen Geistesgeschichte« — in der Tat ein genauer Befund!
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Reinhard Spittler blickte durchaus kritisch auf seinen langjährigen Freund:
»Rudolf war ein Unikum, eine Spätwirkung des Prager Frühlings und ein vorweggenommener Gorbatschow. Seine besondere Tragik bestand darin, übersehen zu haben, daß sein Projekt auf der Existenz der sozialistischen Welt fußte. Er ging nicht davon aus, daß die Sowjetunion untergehen würde. Damit brachen für ihn aber die Fundamente ... weg. Für sein Unternehmen — überschüssiges Bewußtsein zu sammeln — hatten ihm die richtigen Worte und Begriffe gefehlt. Der <Fürst> sollte gemäß Machiavelli die Einheit in der Gesellschaft herstellen. Rudolf gelang es aber nicht, daß seine Idee <wie ein Blitz in den naiven Volksboden einschlägt> (so Marx). Er hat alles diesem Zweck, den <Fürsten> zu schaffen, untergeordnet. Auf seiner verzweifelten Suche nach diesem Fürsten hat er aber viel zu sehr vom Ende her gedacht. Das Apokalyptische organisiert nicht. Es ist eine Drohung, keine Erlösung.«
Johannes Heinrichs zählt Bahro zu jenen Geistern, die nicht so sehr durch große theoretische Konzeptionen gewirkt haben und weiterwirken werden, sondern die als prophetische Denker »uns Aufgaben stellen, uns durch ihre existentielle, oft aporetische Radikalität inspirieren und ermutigen«. In die Geschichte eingehen wird er als »der vielleicht sachkundigste und zugleich wehmütigste Kritiker des <real existierenden Sozialismus> [und] nicht weniger als Kritiker des real existierenden Kapitalismus«.
Die Schwierigkeiten seiner Rezeption lägen in den Antinomien und den nicht gelungenen Synthesen in dessen zweitem Hauptwerk <Logik der Rettung> — also...
»zwischen fundamentaler Bewußtseinsveränderung und konkreter <Ablaß>-Ökologie, zwischen Ganzheitsdenken und positivistischer, methodisch strenger Wissenschaft, zwischen Spiritualität und Rationalität, zwischen westlicher, insbesonderer deutscher Verwurzelung und Abkehr vom westlichen <Exterminismus>, zwischen Ansatz beim Individuum und bei den sozialen Strukturen, zwischen Verständigungsorientierung und Machtorientierung«.
Diese noch nicht gelungenen Synthesen — so der Versuch, Bahros Wirkung vorauszusagen — »dürften stärker als Stachel im Fleisch der Nachgeborenen wirken als verlogene Harmonisierungen«. Bahro sieht er als Ermutigung und als Widerspruch für ein sich herausbildendes Reformpotential, und er glaubt, daß dies seine noch lang anhaltende Wirkung sein werde.
* (d-2015:) J.Heinrichs bei detopia J.Kirchhoff bei detopia F.Nietzsche bei detopia
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Nüchterner urteilt Jochen Kirchhoff:
»Soweit ich sehen kann, war die Wirkung des Philosophen Bahro, was den zentralen Punkt seiner <Bewußtseinspolitik> anlangt, eher gering. [...] Die heutige Diskussion um die ökologische Krise und ihre Bewältigung oder Überwindung, die es ohnehin nur (noch) rudimentär gibt, greift die <Logik der Rettung> kaum auf. Zu den wenigen Ausnahmen gehöre ich selbst, wie mein Buch <Mensch, Kosmos, Tiefenökologie> von 1998 zeigt, das ich ursprünglich Bahro widmen wollte. Das Buch verdankt der <Logik der Rettung> wichtige Impulse zum Verständnis der Grundlagenkrise der Industriezivilisation. [...] In der Breite der Öffentlichkeit sind Bahros Gedanken kaum präsent. Sie sind <unzeitgemäßer> denn je.«
Das Wort »unzeitgemäß« bezieht sich wohl auf Nietzsches berühmte Texte von 1873-76, die erst nach Jahrzehnten in ihrer Tiefenschicht verstanden wurden. Auch Bahros ökologische Texte, seine Grundsatzkritik am Raubbau an der Natur und der damit implizierten Selbstausrottung bleiben — so meinen wir — vermutlich so lange weggeschoben, wie es der Mehrheit der reichen Länder noch gut oder erträglich gut geht. So blieb auch Nietzsche viel zu lange nur Außenseiter, verkürzte man sein Denken auf einige anstößige oder flotte Stellen.
Daß die Menschheit — sofern große Teile nicht schon »mitten drin« sind — in eine Überlebenskrise hineinmarschiert (-fährt, -fliegt), in der die heutige Lebensweise, die Werte und anderes sich nicht mehr aufrechterhalten lassen, ist keine sehr gewagte Aussage. Spätestens an diesem Punkt wird man sich an die großen Mahner und Warner zurückliegender Zeiten erinnern. Und man wird betrübt feststellen: Wir hätten es wissen müssen; Bahro hat das seit 1987 mit immer stärkerer Eindringlichkeit gesagt. Damals fanden wir es — nach einem kurzen Schauer — jedoch langweilig oder störend; jetzt hilft es uns auch nicht mehr — weil es zu spät ist.
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Rudolf Bahro hat kein in sich abgeschlossenes Werk hinterlassen, dessen Wirkungen wir hier minutiös nachzeichnen könnten. Es ist weder eine Schule noch eine Gemeinschaft um ihn herum entstanden, die sein Erbe weitertragen würde. Gewiß: Bahro wollte gehört werden, doch er sorgte sich offenbar nicht groß darum, was nach dem Tod aus seiner denkerischen Arbeit werden würde.
In früheren Jahren war er noch vom Wunsch erfüllt, dank seinem Werk so etwas wie »Unsterblichkeit« zu erlangen — und mit der <Alternative> war er nahe daran. Gegen Ende seines Lebens kam er immer mehr zur Einsicht, daß gerade diese Flucht vor der Endlichkeit die eigene Verstrickung ins Projekt der Moderne zum Ausdruck bringt.
Ein Schlüssel zum Verständnis von Bahros Wirken und möglichen Nachwirkungen seines Denkens ist die Bedeutung, die er in seinen letzten Interviews dem <Warten> beigemessen hat.
Auf die Frage des TAZ-Journalisten Manfred Kriener, ob er denn zumindest »Signale für eine Zeitenwende« sehe — es gehe »doch eher in die andere Richtung« —, antwortete Bahro: Er kenne sehr viele Leute, »die sich vom Status quo nicht verbrauchen lassen«.
Es gebe »ein Potential unbesetzter Territorien des Geistes und der Seele. Und es mag der Augenblick kommen, in dem größere Teile der Menschen, die noch denken und fühlen, etwas zusammenschießen lassen. Es grummelt gewissermaßen unter der Erde.«
Darauf der fragende Journalist: Dann bleibe »nur das Warten auf diesen <Zusammenfluß der Energien>«. Dazu Bahro: »Das <Warten> ist für mich das eigentlich Spannende. Die Funktion des Wartens ist ja selbst schon ein Entwurf, wie die Menschheit leben könnte. Ohne Kampf, versöhnt.«
Vor dem Hintergrund der ökologischen Krise könne das Zuwarten »womöglich katastrophale Folgen haben«, insistierte Kriener. Bahro entgegnete in kühler Schonungslosigkeit, er sehe keine »strukturimmanente Möglichkeit mehr« zum Gegensteuern. Die Strategie der Ökomodernisierung bringe »bestenfalls ein wenig Zeitgewinn«. Doch: »Mehr als Bremsen ist das nicht.«
Eine trostlose Perspektive? Ja — und nein. Wenn die Zeit des Wartens genutzt wird, um sich auf eine mögliche »Zeitenwende« vorzubereiten, dann ist sie nicht vertan.
Er gab noch einen Rat mit auf den Weg: »Wichtig ist, daß unser Bewußtsein nicht verbraucht wird, während wir funktionieren müssen.« (TAZ, 13.12.97)
An dieser angeratenen Sammlung von überschüssigem Bewußtsein arbeiten manche — mit und ohne expliziten Bezug auf Bahros Gedanken und Konzepte.
Mehr als impressionistische Beschreibungen solcher Ansätze sind allerdings kaum möglich, weil solche Arbeit nur in seltenen Fällen bereits eine organisatorisch faßbare Gestalt angenommen hat.
Die drei Veranstaltungen in der Humboldt-Universität haben beispielsweise deutlich gemacht, daß es inner- und außerhalb der Universität Menschen gibt, für die Bahros Leben und Werk immer noch von Bedeutung ist.
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Ein anderes Beispiel ist <dynamik 5> — das Anfang des Jahres 2000 in Basel gegründete europäische Projekt einer <spirituell-politischen Bewegung>. Das Ziel dieser Bewegung, die gegenwärtig rund 500 Mitglieder in der Schweiz, Deutschland, Österreich und Italien zählt, besteht darin, zu »einem tiefen Wertewandel in der westlichen Gesellschaft, einer kulturellen Transformation hin zur menschlichen Solidarität, zur Achtung der Natur und zur undogmatischen Spiritualität« beizutragen. Ihr Programm heißt: »Abkehr vom Materialismus, vom Konkurrenz- und Kampfdenken, von der kapitalistischen Wachstumsgesellschaft« (zitiert nach <Neue Wege. Zeitschrift des religiösen Sozialismus>, Nr. 4, April 2002, 111).
Bahros Ansatz spielt hier insofern eine Rolle, als sich einige seiner einstigen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen dieser Bewegung angeschlossen haben. Maik Hosang berichtet auch, in den USA gebe es innerhalb der um das <Journal of Integral Studies> entstehenden Bewegung für integrale Entwicklung ein spürbares Interesse am Denken Rudolf Bahros.
Auf Hosangs Initiative fand vom 21. bis 23. Juni 2002 in Berlin ein Symposium anläßlich des 25jährigen Erscheinens der <Alternative> statt — unter Beteiligung von Franz Alt, Johan Galtung, Christian Sigrist, Thomas Schubert, Claudia von Werlhof und anderen. Dort ging es — leider nicht sehr streitbar — von der Entstehung der <Alternative> (Herzberg) über die sozial-ökologische Selbst-Steuerung der Gesellschaft (Wilpert) und Galtungs eindrucksvollen Modellen der globalen Ökonomie bis zu Kirchhoffs Thesen zu einer spirituellen Ökologie.
Auf dieser Veranstaltung stellte Franz Alt den Band <Wege zur ökologischen Zeitenwende> vor, der mehrere Interviews, Vorlesungen und einen Aufsatz von Bahro, ein Interview von 50 Seiten (!) mit Franz Alt und von Marko Ferst ein <Plädoyer für ein zukunftsfähiges Kultursystem> enthält.
Eine Wirkung, die sich an Jubiläen festmachen muß, ist keine überzeugende Wirkung. Wer dagegen Wirkung mit Auflagenhöhen und Medienpräsenz gleichsetzt, verkennt die Logik, wie sich neue Gedanken oder gar ein Bewußtseinswandel entfalten.
Andererseits verkennen wir nicht, daß das international übliche wissenschaftliche »Erfolgsmaß« — die Häufigkeit zitiert zu werden (Zitationsindex) — eher gegen Bahro spricht. Trotzdem: Wir hätten seine Biographie nicht geschrieben, wenn wir in ihm nur eine politisch interessante Person gesehen hätten. Die <Alternative> zum real existierenden Sozialismus und die <Logik der Rettung> einer sich selbstzerstörenden Menschheit waren und sind unverlierbare Denkmodelle unserer sozialphilosophischen Tradition.
Damit ist unsere Biographie Rudolf Bahros — so wie wir sie in der Kürze von zwei Jahren geben können — am Ende. Wir hoffen (nein: wir glauben), daß sie in der Erforschung und Erfassung der Tatsachen der wissenschaftlichen Kritik standhält. Doch Bahro ist ein zu umfassender Denker, als daß wir seine geistigen Fragestellungen und Perspektiven mit diesem Text ausloten könnten.
Wir empfinden es daher nicht als Konkurrenz, sondern als notwendige Weiterarbeit, wenn in den nächsten Büchern der Philosoph, Sozialökologe und Mystiker Rudolf Bahro weiter, genauer und tiefer erfaßt wird. Wir werden dann zu den ersten dankbaren Lesern gehören.
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Ende
* (d-2009) neuewege.ch + wikipedia Bund_der_religiösen_Sozialisten_Deutschlands
Von Seifert und Herzberg 2002 # (www.detopia.de https://detopia.de )