Einleitung
Fetscher-1985
»Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.« Albert Schweitzer
»Der Mensch darf nicht alles, was er kann, je mehr er kann, desto größer wird seine Verantwortung. Mit den Möglichkeiten, Leben zu mehren und zu fördern, wachsen die Möglichkeiten, Leben zu schädigen und zu zerstören. Wachstum von Produktion und Konsum bedeutet nicht fraglos Wachstum der Menschlichkeit.« Aufruf der katholischen Bischofskonferenz, 1984
»Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotiven der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.« Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte
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Die Entscheidung, vor der die Menschheit - oder doch die Bevölkerung der hochindustrialisierten Länder - in absehbarer Zeit stehen wird, habe ich an anderer Stelle als die zwischen <Ökodiktatur und Alternativzivilisation> bezeichnet. Es gibt freilich auch noch eine dritte, dramatische Möglichkeit: die nukleare Vernichtung, durch die jene schmerzliche Alternative noch einmal umgangen wird, weil sie die Überlebenden um ein paar Jahrhunderte zurückwirft.
Das überraschende Bild von der Notbremse als Metapher für die Revolution leuchtet uns heute unmittelbar ein. Viele Menschen haben den Eindruck, daß die kapitalistische Industriezivilisation wie ein Expreßzug unaufhaltsam dahinbraust auf ein Ziel zu, welches Katastrophen schwer vorstellbaren Ausmaßes für das »in diesem Zuge reisende Menschengeschlecht« bereithält. Konservative Denker, die schon länger das heraufziehende Unheil beschworen haben, neigen dazu, allein noch auf eine Art göttlichen Eingriffs Hoffnung zu setzen.
Ludwig Klages meinte 1913: »Keine Lehre bringt uns zurück, was einmal verloren wurde. Zur Umkehr hülfe allein die innere Lebenswende, die zu bewirken nicht im Vermögen von Menschen liegt«. Und ganz ähnlich heißt es bei Martin Heidegger: »Uns bleibt die einzige Möglichkeit, im Denken und im Dichten eine Bereitschaft vorzubereiten für die Erscheinung des Gottes oder für die Abwesenheit des Gottes im Untergang« (<Die Technik und die Kehre>).
Solche fromme Passivität kann wie Resignation aussehen und setzt sich daher leicht der Kritik aus. Sie hat aber dem kurzsichtigen Pragmatismus der optimistischen Detail-Reformer immerhin die Einsicht voraus, daß es mit bloß technischen Korrekturen an der Industriezivilisation nicht mehr getan ist.
In der Tat scheint mir eine radikalere, tiefer ansetzende <Wende> oder Wendung nötig zu sein, und es erscheint mir verheißungsvoll, daß immer mehr Menschen aus den verschiedensten Lagern zu dieser Erkenntnis gelangen: Der Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker, der Computerwissenschaftler Joseph Weizenbaum, der ökologisch denkende Sozialdemokrat Erhard Eppler; Martin Heidegger (der vor seinem Tode das <Heidelberger Memorandum> unterzeichnete, das ein Moratorium für den Ausbau der Kernenergienutzung forderte), die Katholiken Carl Amery und Harry Hoefnagels — sie alle plädieren mit unterschiedlichen Argumenten für jenes Umdenken, das zu einer Veränderung unseres Lebensstils und unseres Verhältnisses zur Natur führen soll, ohne die Katastrophen unvermeidlich wären.
Wenn ich jene kritische Abstinenz und jene Bereitschaft zum Hinhören auf den »Zuspruch des Seins«, von dem Heidegger spricht, auch nicht als »Lösung« anerkennen kann, so erkenne ich doch in seiner — die reale Sphäre der sozioökonomischen und politischen Verhältnisse ausklammernden — Diagnose eine erstaunliche Sensibilität und Klarsicht, die ins »Realistische« übersetzbar und dann in keiner Weise irrational ist.
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Das Bild vom Expreß des blinden Fortschritts erlaubt eine weitere Explikation.
Max Adler hat einmal ausgeführt, daß die technische Entwicklung ja nichts Autonomes sei, sondern daß sie von den Gleisen des sozio-ökonomischen Systems gelenkt werde. Dieses Bild trifft zu. Es ist nicht die Technik »schlechthin«, der wir »ausgesetzt« sind, sondern eine zum »technischen System« verdinglichte Wirtschaftsordnung, deren Eigengesetzlichkeiten jetzt selbst den Managern und Computerfachleuten unheimlich zu werden beginnen.
Joseph Weizenbaum, der bekannte amerikanische Computerspezialist, beschreibt dieses Gefühl der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins am Beispiel der Computertechnologie:
»Diese Prozesse, sowohl in den meisten Industrie- als auch Militärbereichen, sind unumkehrbar geworden, weil sie undurchschaubar sind. Die Systeme funktionieren zwar. Sie haben ein Input-Output-Verhalten. Aber wir verlassen uns heute absolut blind auf die Richtigkeit ihrer Arbeit. Ein System fängt immer mit einem Plan an, der irgend etwas leisten und menschlichen Zwecken dienen soll. Das System entwickelt, wandelt und verselbständigt sich ... Wir verbinden uns mit irgend etwas, von dem wir am Anfang hoffen, es möge sich unsern Zwecken unterordnen. Später entdecken wir dann: Wir müssen uns anpassen. Manager oder Militärs haben die Vorstellung, ich sage die Illusion, daß sie herrschen ...« (Interview im Manager-Magazin, Juli 1980, S. 121).
In Gestalt solcher »Systeme« herrscht in der Tat kein Mensch, sondern das in der Technologie verdinglichte Kapital. Von ihm hat Marx gesagt, daß es vom Unternehmer nicht verstanden zu werden braucht, daß aber die einzelnen Produzenten notwendig Wissenschaft und Technologie als »Bestandteil« des Kapitals erfahren, unter das sie real subsumiert sind.
Wenn im älteren Konkurrenzkapitalismus der selbständige Unternehmer — um in unserem Bild zu bleiben — vielleicht noch über den Verlauf der Streckenführung (innerhalb gewisser Grenzen) entscheiden konnte, so wird offenbar heute immer stärker diese Entscheidung von einem »System« her gesteuert, das niemand mehr »in der Hand hat«. Die von den Computern erzeugte Mystifikation schlägt jetzt auch noch diejenigen in ihren Bann, die einst als Kapitaleigner »frei« zu sein wähnten.
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Was aber will der die Notbremse ziehende Revolutionär eigentlich erreichen?
Will er den Zug lediglich zum Stillstand bringen, um das drohende Unheil auf diese Weise aufzuhalten? Dann wäre auch Rousseau ein solcher — vorsichtiger — Revolutionär gewesen, denn schon in seinen beiden Diskursen von 1750 und 1755 hat er den Staatsmännern die »Verlangsamung des Fortschritts«, der uns dem sittlichen und politischen Verfall näherbringe, zur Aufgabe gemacht. Das ist zwar noch nicht eine Totalbremsung bis zum Stillstand, aber doch eine Bremsung, die der Verlangsamung der als gefährlich erkannten Fahrt gegolten hat. Über dieses begrenzte Ziel hinausführen würde die Aufgabe, eine neue Streckenführung zu entwerfen, die nicht mehr auf eine unvermeidliche Katastrophe (sagen wir den Zusammenstoß mit den ökologischen Notwendigkeiten) hinausläuft, sondern optimale Reisemöglichkeiten erschließt.
Der große Fehler der sozialistischen Fortschrittskonzeption, wie sie sich im Laufe der Verflachung des Marxismus in der Periode der Zweiten und Dritten Internationale herausgebildet hat, bestand in der Ersetzung ihrer qualitativen und konkreten durch eine nur quantitative und abstrakte Bedeutung. Wenn die Revolution die Lokomotive des Fortschritts war, die die müde gewordene kapitalistische Zugmaschine ablösen sollte, dann mußte auch der Sozialismus zu einer bloßen Verlängerung des kapitalistischen Industrialismus werden und gleichsam auf denselben Schienen weiterrollen.
Es sollte aber bei Marx nicht auf einen bloßen Wechsel der Zugmittel, sondern auf eine prinzipielle und radikale Veränderung der Fahrtrichtung ankommen. Wenn die Richtung der Fahrt entschieden verkehrt war, dann blieb schließlich - als erster Schritt - nur noch der Griff nach der Notbremse: So jedenfalls soll es nicht weitergehen.
Die Ökodiktatur, die z.B. Wolfgang Harich für die allein erfolgversprechende Lösung unserer Probleme hält, würde auf eine zwangsweise Drosselung der Fahrtgeschwindigkeit bis zum völligen Stillstand hinauslaufen. Da die Reisenden in ihrer Mehrheit jedoch an den Komfort schnellen Fahrens gewöhnt sind (und ihn wie eine Droge genießen), würde ein erhebliches Maß an Repression notwendig sein, um unter solchen Umständen eine Rebellion zu unterdrücken.
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Die »Alternativzivilisation« könnte man dann mit dem Umsteigen auf einen anderen Zug mit anderer Lokomotive und anderer Streckenführung vergleichen. Vielleicht auch mit dem Umsteigen auf eine Mehrheit unterschiedlicher Züge (oder Gefährte), die sich so durch die Natur bewegen, daß diese möglichst wenig geschädigt wird und die mit ihr verbundenen Fahrgäste sich aktiv entfalten können ...
Doch genug der Metaphorik.
Die »Wende«, von der gesprochen wird, scheint mir aus einer Vielzahl von Gründen notwendig, nicht nur aus ökologischen, wenn das auch die vielleicht zwingendsten sind. Der »Geist« der weltbeherrschenden und die Welt ausbeutenden europäisch-amerikanisch-japanischen Naturwissenschaft und Technologie ist geprägt durch den Kapitalismus, ein verflachtes Christentum und eine »idealistische« Auffassung vom Menschen als naturüberlegenes Subjekt, dem die »natürliche Welt« völlig untergeordnet und ausgeliefert wäre.
Alle diese Auffassungen sind in Frage zu stellen und zu korrigieren.
Die Aufgabe des Umdenkens wird von Theologen wie Günter Altner, von Philosophen wie Martin Heidegger und C. F. von Weizsäcker, von Naturwissenschaftlern wie Klaus Traube und Joseph Weizenbaum, von Politikern wie Erhard Eppler und Johano Strasser, Olof Palme und anderen erkannt.
Der »Geist«, der die Strukturen unserer industriekapitalistischen Welt geprägt hat und der von ihr geprägt wurde, hat nicht nur ökologische Katastrophen heraufbeschworen; er hat auch die Unterdrückung und Ausmerzung ganzer Völker verschuldet, die Vernichtung zahlreicher Tier- und Pflanzenarten, die Unterdrückung der Frau und die Stabilisierung eines skrupellosen Patriarchalismus. Er ist aber zugleich auch die tiefste Wurzel jenes irrationalen Wettrüstens, durch das die feindlichen Lager der Menschheit ihrer Angst vor ihren eigenen zerstörerischen Möglichkeiten davonzulaufen suchen, indem sie sie auf den »Feind« projizieren.
* detopia: C.Amery E.Eppler M.Heidegger L.Klages O.Palme J.Strasser
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Es kann vielleicht wie eine fixe Idee erscheinen, wenn hier so verschiedenartige Phänomene wie die koloniale Ausbeutung und der Neokolonialismus, die Unterdrückung der Frau und die Gigantomanie des nuklearen Wettrüstens auf eine einzige Wurzel: die industriekapitalistische Zivilisation und ihre grenzenlose Dynamik, zurückgeführt werden; ich bin aber sicher, daß dieser Zusammenhang nachgewiesen werden kann.
Allerdings folgt daraus noch keineswegs, daß es nur einer kleinen - formalen - Veränderung (wie z.B. der Beseitigung des »Privateigentums an den Produktionsmitteln«) bedürfte, um all jene negativen Folgen zu beseitigen. Im Gegenteil, die Länder des »real existierenden Sozialismus« demonstrieren eindringlich die Tatsache, daß der gleiche aggressive industrielle und militärische Expansionismus durchaus auch mit einem bürokratisch-elitären Staatssozialismus (oder -kapitalismus) verbunden sein kann.
Nur auf einen Zusammenhang will ich in dieser Einleitung noch näher eingehen, weil er in den folgenden Beiträgen nur kurz gestreift wird und weil er zugleich - wie mir scheint - von äußerster Wichtigkeit ist.
Ich meine den Zusammenhang von Industrialismus, Patriarchat und Unterdrückung der Frau. Rosemary Radford-Ruether hat in ihrem Buch »New Women — New Earth. Sexist Ideologies and Human Liberation« (New York 1975) im letzten Kapitel diesen Zusammenhang eindrucksvoll herausgearbeitet Einleitend verweist sie auf ein Fragment von Francis Bacon, in dem die Natur gleichsam als eine zum Dienst am Manne bestimmte Frau apostrophiert wird: »I am come in very truth, leading to you Nature with all her children to bind her to your Service and make her your slave.« (The Masculine Birth of Time in The Philosophy of Francis Bacon, ed. by B. Farringten, Univ. of Chicago Press, 1966, S. 62)
Wie gegenüber der Frau verwenden ältere Naturwissenschaftler auch der Natur gegenüber Ausdrücke wie Sklaverei, Unterwerfung und Herrschaft. »Mutter Natur« ist dem »geistigen« Mann so unterworfen wie die — von ihrer »Natürlichkeit nicht zu abstrahieren fähige« — Frau. Der christliche Geist-Materie-Dualismus wird durch eine allmähliche Umbildung zur Legitimierung der Herrschaft über die Natur benützt. Bacon - so die These von Frau Radford-Ruether - hatte erkannt, daß es notwendig war, mit der kirchlichen Konzeption von Natur und mit der Magie zu brechen. Er behauptete, daß die Herrschaft des Menschen über die Natur mit Hilfe der Wissenschaft in Wahrheit die Erfüllung der alten christlichen Hoffnung auf Erlösung der Natur sei.
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»Zugleich schuf er insgesamt auch eine ganz unchristliche Spaltung zwischen der moralischen Erlösung der Seele und der Wiederherstellung der Natur. Die erste war das Gebiet der Religion und die letzte die Sphäre der Wissenschaft. Aber die beiden waren voneinander getrennt worden, so daß die zur Beherrschung durch die Vernunft wiederhergestellte Natur unter das Diktat des Menschen (d.h. der herrschenden Männer) als des Agenten Gottes fiel. Die Unterwerfung der Natur unter die menschliche Vernunft konnte so mit der Wiederherstellung der göttlichen Souveränität gleichgesetzt werden, ohne die Frage nach der moralischen Qualität des Menschen (d.h. des Mannes) zu stellen. Die Trennung von Wissenschaft und Moral ... neutralisierte die Technologie und erlaubte es, jede Ausdehnung der Macht über die Natur als wertfrei und moralisch unbedenklich anzusehen.« (S. 191)
Was hier bei Bacon begann, wurde im Positivismus fortgesetzt und bestimmt noch immer das dominierende naturwissenschaftliche Denken.
Die Herrschaft des Menschen über die Natur und die Ideologie der menschlichen Naturbeherrschung wurde aber »zum mystifizierten Code-Wort für die männliche Klassenherrschaft über andere, die sich auf entfaltete Produktivität stützt. Die Früchte der Herrschaft gehörten der herrschenden Klasse, dem herrschenden Geschlecht und der herrschenden kulturellen Gruppe, sie strukturierten die durch die Technologie neu erworbene Macht zu einem vergrößerten Werkzeug der Unterdrückung der beherrschten Gruppen. Die ökologische und technologische Krise spiegelt den Kontext sozialer Ungerechtigkeit und ungleicher Macht-Relationen, innerhalb deren sich die industrielle Revolution vollzog und die sie zu einem weltweiten Krieg der Reichen gegen die Armen um die natürlichen Ressourcen steigerte.« (S. 193)
Die Ambivalenz der frühen romantischen Auflehnung gegen die kapitalistische Industriezivilisation erblickt die Verfasserin darin, daß sie einerseits die »wachsende Entfremdung sensibler Geister gegenüber der Entmenschlichung durch die technische Ordnung«, andererseits aber auch »die Furcht vor dem Zusammenbruch der organischen und hierarchischen (älteren) Gesellschaft« ausdrückte (S. 194).
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Etwas von dieser Ambivalenz scheint mir auch noch bei zeitgenössischen konservativen Kritikern der Technik mitzuschwingen. Vor allem begehen sie häufig den Irrtum, die vorhandene Gestalt der Technik als deren »einzig mögliche« und nicht als historisch gewordenes Produkt der kapitalistischen Entwicklung aufzufassen. Immerhin hat z.B. auch Ludwig Klages erkannt: »Damit die fortschrittliche Forschung der Neuzeit einsetzen konnte, mußte der große Gesinnungswandel vollzogen sein, dessen Ausübungsweise man <Kapitalismus> nennt.« Freilich wird »Kapitalismus« hier, wie bei vielen konservativen Denkern, so gut wie ausschließlich als eine bestimmte »seelische Disposition« aufgefaßt, nicht als eine sozioökonomische Struktur (in der sich allerdings diese seelische Disposition notwendig durchsetzt).
Frau Radford-Ruether sieht einen eindeutigen Zusammenhang zwischen einer säkularisierten christlichen Konzeption und der unbegrenzten Naturausbeutung (vgl. im Anhang »Zur Bedeutung des Christentums für die Einstellung des europäischen Menschen zur Natur«, S. 83 ff.):
»Der Fortschrittsbegriff des 19. Jahrhunderts vergegenständlichte den jüdisch-christlichen Gottesbegriff. Männer machten, indem sie ihr Ich mit dem transzendenten Geist (Gottes) identifizierten, die Technik zum Projekt einer fortschreitenden Inkarnation des transzendenten Geistes in die Natur. Der eschatologische Gott wurde ein historisches Programm. Man versuchte jetzt die unendliche Forderung durch einen unbegrenzten materiellen Fortschritt zu verwirklichen, indem man die Natur zu einer unbegrenzten Ausdehnung der Produktivkräfte zwang. Unendliche Forderungen, die in eine endliche Natur eingeschlossen sind, nehmen die Gestalt einer unbegrenzten Ausbeutung der Produktionsressourcen der Erde an und führen zur ökologischen Katastrophe: der raschen Aufzehrung der organischen Grundlagen unseres Lebens bei der Bemühung, den ständig wachsenden Appetit auf Waren zu stillen. Der Nährboden des Seins, der auch der des menschlichen Seins ist, wird immer rascher erschöpft. Innerhalb von zwei Jahrhunderten hat diese Denk- und Verhaltensweise die Menschheit an den Rand der Zerstörung der Erde und ihrer Umwelt gebracht.« (S. 194)
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Letztlich drückt sich in diesem Ausbeutungs- und Beherrschungskonzept ein hybrider patriarchalischer Spiritualismus aus, für den »der endliche Kosmos selbst ein Übel ist, das zerstört und durch eine neue, unendliche Welt ersetzt werden muß, die dem Bild des unendlichen (männlichen) Bewußtseins entspricht. Die patriarchalische Selbsttäuschung hinsichtlich des Ursprungs des Bewußtseins endet damit logisch in der Zerstörung der Erde.« Symbolisch und sozial drückt sich »die Struktur des patriarchalischen Bewußtseins, das die Harmonie der Natur zerstört, ... in der Unterdrückung der Frau aus« (S. 195).
Theologen erblicken in dieser Selbstvergottung des die Natur beherrschenden Menschen (Mannes) einen Ausdruck der Angst vor dem Tode, der Flucht vor der eigenen Endlichkeit. Mir scheint, das ist nur eine vorletzte Wahrheit. Es ist zwar richtig, daß sich die Subjektivität ihre eigene Endlichkeit nicht vorstellen kann. Aber Menschen sind sehr wohl imstande, ihre eigene Natürlichkeit und Endlichkeit zu begreifen und — sofern nur ihr Leben ihnen wirkliche Befriedigung verschafft — auch ihre Endlichkeit zu akzeptieren. Nicht »der Mensch« schlechthin hat also Angst vor dem Tode und wehrt sich, seine Endlichkeit zu akzeptieren, sondern nur Menschen, die keine wirkliche Befriedigung und Sinnerfüllung ihres Daseins erfahren haben.
Im Umkreis solcher Menschen — unter den Sklaven und Freigelassenen, Proletariern und Fremdvölkern im spätrömischen Weltreich — fanden jene Heilsreligionen ihren Nährboden, die ihren Gläubigen — als Kompensation für ihre Leiden im Diesseits — ein unendliches Jenseits in Aussicht stellten. An die Stelle solcher gläubigen christlichen Jenseitshoffnung ist — in den letzten Jahrhunderten in Europa und Amerika — immer mehr und immer eindeutiger das Versprechen irdischen Glücks getreten, aber eines Glücks, das schließlich nur noch in dem Versprechen eines unendlichen Wirtschaftswachstums und einer ständig wachsenden Warenmasse bestand. Die hartnäckige Weigerung, dieses »Glücksversprechen«, dieses Surrogatglück aufzugeben, entspringt letztlich der tiefen Unzufriedenheit, der schmerzlichen Frustration, über die jenes Versprechen wenigstens oberflächlich und drogenhaft hinweghilft.
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So gesehen gibt es zwei Auswege aus der krisenhaften Notlage: entweder die Rückkehr zu einer religiösen Verklärung der ehrlich wieder eingestandenen realen Daseinsnot (die sich heute z. B. in der seelischen Erkrankung von ca. 15% der Bevölkerung der Industriegesellschaften ausdrückt) oder aber die bewußte Gestaltung eines Lebens - in Produktion und Muße - das allen reale Befriedigung und Sinnerfüllung erlaubt. Der erste Weg wäre — wie immer man ihn auch umschreiben mag — eine Rückkehr zu vormodernen Bewußtseinshaltungen, deren Möglichkeit mir fraglich erscheint. Der zweite würde die Stiftung einer alternativen Zivilisation bedeuten, einer Zivilisation, deren Züge sich noch immer besser negativ in bezug auf die existierende als positiv beschreiben lassen. Moderne Theologen suchen gelegentlich auch beide Auswege miteinander zu kombinieren, indem sie eine selbstkritisch erneuerte christliche Religiosität zum treibenden Motiv für die Stiftung jener Alternativzivilisation machen.
Die unterstellte Höherwertigkeit des »reinen Geistes« gegenüber der Natur liegt auch noch der Rechtfertigung jener Ausbeutung und Beherrschung zugrunde, die sich europäische Völker (im Namen des Christentums und später im Namen ihrer angeblich so viel »höheren Zivilisationsstufe«) über den »Rest der Welt« angemaßt haben. Die Gleichberechtigung der Menschen und Völker wurde zwar abstrakt zum Prinzip erhoben, in der Praxis aber wurden ganze Bevölkerungsgruppen — mit Beginn der Neuzeit und im Zusammenhang mit der Durchsetzung einer bürgerlich-rationalistischen Zivilisation — »ausgegrenzt«, hospitalisiert, interniert, faktisch rechtlos gemacht. Und wie den »Abweichlern« im eigenen Lande, so erging es den »Naturvölkern«, die bestenfalls zum Objekt kurioser Forschungsreisen gemacht, skrupellos dezimiert, aus ihren Jagd- und Weidegebieten verdrängt und deren Reste erst spät in »Reservaten« zu kollektiv-ethnischen Dauerrentnern gemacht wurden.
Die Befreiungsbewegungen der Dritten Welt hatten lange Zeit einen widerspruchsvollen Charakter, ganz ähnlich wie übrigens auch die Frauenbefreiungsbewegung. Einmal ging es den (meist stark amerikanisierten oder europäisierten) Eliten dieser Völker darum, politisch unabhängig, aber wirtschaftlich wie technisch den ehemaligen Kolonialherren-Völkern ähnlich zu werden.
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Zum anderen aber strebten sie nach Herstellung (Wieder-Herstellung) ihrer alten ethnisch-kulturellen Identität, die unter dem Ansturm der Kolonisation und des Weltmarktes tief beschädigt worden war. Beide Ziele ließen sich kaum zugleich realisieren. Nur ansatzweise finden sich heute Versuche, alternative Formen wirtschaftlicher und technischer Entwicklung zu entwerfen, die mit der Erhaltung und Wiederherstellung kulturell-ethnischer Identität vereinbar sind (vgl. hierzu den in Anmerkungen 53, S. 85, gegebenen Bericht über die Sarvodaya-Bewegung in Sri Lanka).
Auch in der Frauenbewegung gibt es einerseits Tendenzen, die letztlich nur darauf hinauslaufen, durch totale Anpassung an die herrschenden Verhaltensmaximen der patriarchalisch-bestimmten Gesellschaft die Gleichberechtigung der Frauen real durchzusetzen. Einwände, auf diesem Wege gehe das verloren, was die größere Menschlichkeit von Frauen noch immer ausmache, werden — nicht immer ohne Grund — als Manipulationsversuche der in der Verteidigung befindlichen Männer zurückgewiesen. Andererseits gibt es aber auch Tendenzen innerhalb der Frauenbefreiungsbewegung, die durch ihre radikale Kritik der von patriarchalisch-herrschaftlichen Prinzipien geprägten Industriezivilisation zugleich die Frauen wie die Völker der Dritten Welt und die mißhandelte Natur befreien wollen.
Von diesem - kritischeren und durchdachteren Standpunkt aus - geht es nicht mehr darum, den Frauen in der im übrigen unveränderten Industriezivilisation einen angemessenen »Platz an der Sonne« zu verschaffen, sondern — womöglich zusammen mit einsichtigen Männern — diese Industriezivilisation so zu verändern, daß sie keine Unterdrückung von weiblicher Humanität mehr verlangt. Rosemary Radford-Ruether gehört — wie schon deutlich geworden ist — dieser zweiten Richtung an, der sich auch Herbert Marcuse verbunden fühlte. In einem Abschnitt ihres Buches, der speziell dem Verhältnis von Women's Liberation und Ökologie gewidmet ist, schreibt sie u. a.: »Die Frauen müssen erkennen, daß es in einer Gesellschaft, deren Grundmodell der Beziehungen das der Beherrschung ist, weder für sie eine Befreiung noch eine Lösung der ökologischen Krise geben kann« (S. 204f.).
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Aus diesem Grunde »müssen sie ihre Forderungen mit denen der ökologischen Bewegungen verbinden, um eine radikale Umgestaltung der sozioökonomischen Beziehungen und der grundlegenden Werte der Gesellschaft ins Auge zu fassen, das heißt, sie müssen die Weltauffassung, die dem Herrschaftssystem zugrunde liegt, verändern und sie durch ein alternatives Wertsystem ersetzen« (S. 203). Diesen Wertwandel charakterisiert sie dann als einen, der Besitz(trieb), Eroberung und Akkumulation durch Gegenseitigkeit, Annahme (acceptance) und gegenseitige Begrenzung ablöst.
Die sieben Forderungen, die sie zur Konkretisierung dieser Wende aufstellt, können zumindest als provisorisches »Programm« — oder doch als Vorschlag zu einem Programm auf dem Weg zu einer Alternativzivilisation — angesehen werden. Ich will sie - in meinen Worten - zum Abschluß dieser Einleitung zusammenfassen, zumal ich mich in den folgenden Arbeiten derart konkreter Vorschläge meist enthalten habe.
#1. Die angestrebte Harmonie zwischen der menschlichen Gesellschaft und ihrer Technologie und dem »natürlichen System« (dem Ökosystem) hat nichts mit Anti-Intellektualismus oder prinzipieller Technikfeindschaft zu tun. Es ist aber notwendig, die Technik von »ihrer Gefangenschaft durch die Klassenherrschaft« zu befreien. Auch wenn man diese »Gefangenschaft« im Zeitalter des zum »System« verdinglichten »corporate capitalism« vielleicht etwas anders formulieren muß, halte ich diese Forderung für prinzipiell richtig.
#2. Die Entscheidungsfindung - für die Produktionsziele - muß demokratisiert (vgl. hierzu Roger Garaudys »Projet Esperance«, auf das auf S. 68 f. verwiesen wird) und die Vorteile der Technologie müssen gleichmäßig verteilt werden, während bislang eine Minderheit die Lasten der technologischen Entwicklung auf die schwächere Mehrheit abzuwälzen pflegte (vgl. dazu die Arbeiten von W. Kapp).
#3. Es müssen neue technologische Mittel entwickelt werden, die den ökologischen Bedürfnissen optimal angepaßt sind. Z. B. müßte auf dem Gebiet des Transportwesens der öffentliche Verkehr — auf Kosten des privaten — verbessert werden (Nulltarif, städtische Fahrräder, staatliche [?] Taxis usw.).
Es müßten umweltfreundliche Energiequellen (Wind, Wasserkraft, Gezeiten, geothermische Energie, Biogas usw.) erschlossen werden. Die »ökologische Technologie« verlangt die Entfaltung von wissenschaftlicher Phantasie, die auf das Gemeinwohl orientiert ist und die Soziosphäre in der Biosphäre einzuordnen erlaubt.
Planung muß möglichst stark dezentralisiert werden, damit sie von den jeweils »Betroffenen« selbst demokratisch vorgenommen werden kann.
#4. Die »Kern-Familien« müßten in Familien-Gruppen (nach dem Modell der Kibbuzim etwa) eingegliedert sein, damit bei Beschränkung der Kinderzahl auf ein bis zwei Kinder pro Familie die Kinder dennoch nicht als »Einzelkinder« aufwachsen müssen und damit die Eltern (die gemeinsam die Hausarbeit leisten) entlastet werden.
#5. Durch die Herstellung dauerhafterer Gebrauchsgegenstände und die gemeinsame Besorgung von Haushaltsaufgaben in größeren Gemeinschaften sind erhebliche Einsparungen möglich. Zugleich soll durch die Siedlungsstruktur die Verbindung von Natur und Arbeit verbessert werden.
#6. Ein »Recycling« des Abfalls soll zugleich der Erneuerung und Verbesserung der natürlichen Umwelt dienen.
#7. Durch die neue Zivilisation wird der Mann von seiner »Hyperaggressivität und seiner antagonistischen Kampfbereitschaft befreit werden, die bisher als <maskulin> galt. Er wird instand gesetzt, eine individuelle Persönlichkeit zu werden, ohne an Sexualstereotype gebunden zu sein« (S. 210). Das gleiche wird natürlich auch für die Frauen gelten. Das Bewußtsein, in Einklang mit der Erde und ihrer Erneuerung zu leben und sie kommenden Geschlechtern als Lebensgrundlage intakt zu übermitteln, wird zur Zufriedenheit und zum Glück der Menschen wesentlich beitragen.
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In einer derart befriedeten und befriedigten Welt könnte auch zwischen den Völkern und Staaten wirklicher Frieden einziehen. Die psychische Notwendigkeit, die eigene Lebensangst auf einen Feind zu projizieren und sich durch Rüstung vermeintliche Sicherheit zu verschaffen, fiele damit weg. Eliten hätten kein Motiv mehr, die latente soziale Aggressivität der Unterschichten auf den »äußeren Feind« abzulenken. Die aggressive industrielle Technologie würde nicht mehr ihre »natürliche« Verlängerung in der Waffentechnik, der »unendliche quantitative Fortschritt« nicht mehr seinen (sinnfälligsten) Ausdruck in den immer gigantischeren Zerstörungsmitteln finden.
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Wie aber soll der Übergang zu jener »alternativen Zivilisation« vollzogen werden?
Mir scheint, hier hat der holländische Jesuitenpater Harry Hoefnagels recht, wenn er betont, daß nur eine »Bewegung von unten« und durch ausreichende Mehrheiten die entscheidende »Kehrtwende« vollziehen kann.
»Maßnahmen, die der Bevölkerung von oben her auferlegt werden, anstelle einer von ihr selbst mitvollzogenen gesellschaftlichen Umorientierung ..., würden nur das Gegenteil dessen bewirken, was erreicht werden sollte...« (Die neue Solidarität. Ausweg aus der Wachstumskrise, München 1979, S. 190)
Ein erster Schritt in Richtung auf ein »gesellschaftliches Subjekt«, das die Entwicklung steuern könnte, wäre die Überwindung der Neigung zur Abkapselung, die heute die meisten »alternativen Gruppen« charakterisiert, und ihre Vereinigung zu einer »die Gesellschaft verändernden Bewegung« (S. 193).
Aber auch der bescheidene Schritt, der durch die bewußte Änderung des eigenen Lebensstils getan wird, wäre nicht wertlos: Wo immer es möglich ist, auf das Auto zu verzichten, mit Material und Energie sparsam umzugehen, Sympathie für die »alternativ Lebenden« zu entwickeln und sie nicht in eine »Randstellung« zu drängen, all das könnte helfen.
Hoefnagels räumt ein, daß unter Umständen katastrophale Ereignisse den Prozeß der Besinnung und die Bereitschaft zur »Kehrtwende« beschleunigen könnten, und verweist auf den Schock der Energiekrise von 1973/74, der nur leider viel zu rasch wieder verdrängt wurde.
Ich bin schon an anderer Stelle mehrfach dieser Frage nachgegangen. Eine bessere und bündigere Antwort als Hoefnagels konnte auch ich nicht geben. Je eher aber »die illusionäre Hoffnung, wir könnten einfach so weitermachen, endgültig zerstört ist« (Hoefnagels), um so besser, denn dann wird die Bereitschaft zur ernsthaften Befassung mit den Voraussetzungen einer »Alternativzivilisation« mit einer sanften, dezentralisierten Technik und im Einklang mit der Natur endlich groß genug sein, um jene Wende durchzusetzen.
Die folgenden Reflexionen wollen zu der Erkenntnis beitragen, daß mit der Aufgabe der Illusion der grenzenlosen Wachstumsmöglichkeit Hoffnung auf eine bessere Zukunft keineswegs begraben werden muß — im Gegenteil!
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Iring Fetscher Einleitung