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2  Totentanz ohne Trauer 

 Hoffnung-1       Hoffnung-2 

 

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Daß alles unrettbar verloren sei, daß wir den evolutionären Endpunkt erreicht hätten, will näher ausgeführt werden. Niemand läßt sich leichtfertig davon überzeugen; alle wissen es besser. Unter­gangs­propheten hat man schon öfter und lächelnd angehört, wohl wissend, daß es immer anders kommt. Der Unterschied zwischen den subjektiven Ergüssen der Propheten alten Schlages und den Warnungen, die sich auf objektive und evolutionäre Tendenzen gründen, wird vernach­lässigt. Die Grenze zwischen dem Geschrei der Fanatisierten und der stillen Nüchternheit — diese Grenze zieht man nicht. Aus verständlicher Angst verschließt man die Augen. Und so wird es anders kommen als jene glauben, die meinen, es werde anders kommen. Ich versuche erneut - und von einer etwas anderen Perspektive aus - eine Risikokalkulation durch­zuführen. 

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Mathematisch lassen sich die Risiken, die wir eingegangen sind, als Summe aller Gefahren überhaupt nicht berechnen. Auch Einzelbereiche entziehen sich der Mathematisierung. Man kann das Artensterben zwar mathematisch erfassen (ungefähr so und so viele Arten sterben pro Monat), nicht aber das evolutionäre Risiko, das sich für uns daraus ergibt. 

Ich nähere mich dem Problem auf andere Weise und stelle das Begriffspaar <Irreversibilität—Reversibilität> in den Vordergrund. Schließlich geht es um die Grundfrage, ob man das gegenwärtige und tödliche Super-Paradigma rückgängig machen kann. 

Streng irreversibel nenne ich Tatsachen und Problembereiche, die heute schon absolut unab­änderbar sind. Für streng irreversibel halte ich die techno­logische Komplexität, die das Resultat scheineffizienter technologisch-naturwissenschaftlicher Herrschaft ist. Die unkalku­lierbare Interaktion von in sich unkalkulierbaren Hochrisikosystemen und Hochrisiko­stoffen wächst. Herrschaft erweist sich von Jahr zu Jahr ohnmächtiger, obwohl sie sich um immer präzisere Kontrolle bemüht. Mit der zunehmenden Vergiftung der Welt und der allmählichen Weltent­waldung wohnen wir einem katastrophalen Artentod von Tier und Pflanze bei. In der gesamten Evolution gab es nichts Vergleichbares. 

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Mit dem Artensterben verschwinden die evolutionären Optionen. Langfristig gesehen schränken wir biologische Heil­möglichkeiten ein, aber noch schlimmer: Wir kippen die ökologische Balance, die in Jahr­millionen gewachsen war. 

Wir sind bereits absolut dominant und leben jetzt schon in Disharmonie, im Dominanz­ungleichgewicht mit der Mitwelt, die wir zur Umwelt degradieren. Die menschliche Dominanz wurde unwiderruflich und rücksichtslos auf Kosten aller anderen Arten durchgesetzt. Wir sind heute in das letzte Gefecht mit den Arten verwickelt. Selbstver­ständlich werden wir auch das letzte Scharmützel siegreich bestehen, da wir bereits alle Entscheidungs­schlachten gewonnen haben. 

Ohne die auf natürliche Weise sich einpendelnden evolutionären Balancen, die die evolutionären Zukunfts­optionen ermöglichen, muß es langfristig zum Ende der menschlichen Evolution kommen. Jeder kleine Fehler, den wir begehen, wird sich katastrophal auswirken, da die Natur selber nicht mehr korrigierend einzugreifen vermag. Von Fehler zu Fehler werden die Katastrophen, je nach Risikopotential, gefährlicher ausfallen, bis die Verseuchungen vom verbliebenen Gesamtorganismus der Erde nicht mehr neutralisiert werden können. Der Artenreichtum hingegen stärkt jedes Ökosystem. Mit dem Verschwinden fast aller Arten entsteht eine Welt, die extrem labil und immer noch labiler wird.

Als streng irreversibel bezeichne ich auch die CO2-Zunahme in der Atmosphäre. Mit dem steigenden Energie­verbrauch der Welt wird CO2, das bei der Verbrennung entsteht, mit Sicherheit zunehmen. Es ist ausgeschlossen, die Welt sofort auf regenerierbare Energiequellen umzustellen. 

Da CO2 zu 50 Prozent am Treibhauseffekt beteiligt ist, werden wir auf jeden Fall eine beträchtliche Aufheizung des Planeten in den nächsten einhundert Jahren erleben. Die Frage bleibt nur: Werden wir und der Planet den radikalen Klima­wechsel ertragen können? 

Nicht rückgängig zu machen bleibt die atomare Endlagerung, die sogenannte Entsorgung. Ein Wunder müßte geschehen, ließe sich in ferner Zukunft tatsächlich entsorgen. Auch hier bleibt als realistische Frage einzig: Wird der wachsende Atom­müll­berg zu einem tödlichen radioaktiven Zwischen­fall führen? 

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Als absolut irreversibel kann man mit einiger Vorsicht die Ozonschicht-Verminderung bezeichnen. Trotz aller FCKW-Verbote bis zum Jahr 2000 — die Chinesen werden ihre Kühlschränke weiterproduzieren, und die Verweildauer mancher FCKW beträgt bis zu einhundert Jahren, wobei es Jahrzehnte dauert, bis manche FCKW in der Stratosphäre ankommen. Der mit höchstem Risiko behaftete Prozeß der Ozonschicht­verminderung ist streng irreversibel, allein die Ausmaße bleiben unkalkulierbar. 

Im Grunde irreversibel - aber nicht streng irreversibel - nenne ich Prozesse oder Problem­bereiche, die sich noch nicht in einem Endstadium befinden und deren Folgen noch unkalkulier­barer erscheinen. 

Unser gesamtes Super-Paradigma seit dem Mesolithikum halte ich für im Grunde irreversibel. Das Ende ist absehbar, aber noch nicht erreicht. 

Falls Super-Paradigmen­wechsel sich überhaupt vollziehen lassen, dann auf eher langsame und schwierige Weise. Dazu steht uns die Zeit nicht mehr zur Verfügung. 

Darüber hinaus wäre ein Super-Paradigmenwechsel vom demokratischen Konsens aller Menschen abhängig, denn alle müßten auch im Alltag den Wechsel vollziehen. Der westliche Lebensstandard müßte aufgegeben, unser Leben müßte fast paläolithisch werden — was ich für nicht realisierbar halte.

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Dies hängt eng mit einem weiteren Problem zusammen, dessen grundsätzliche Irreversibilität außer Frage steht. Ich spreche von der gegenwärtigen Über­bevölkerung von 5,3 Milliarden Menschen und der unauf­haltsamen Zunahme im nächsten Jahrhundert. Ein Super-Paradigmen­wechsel mit entsprechendem Produktions­rückgang könnte diese Milliarden jetzt schon nicht ernähren. 

Nur ein Wunder könnte uns den Super-Paradigmenwechsel trotz Überbevölkerung — sie müßte sich sofort drastisch reduzieren — bescheren. 

Auf Wunder sollte man sich nicht verlassen. 

Die im Neolithikum einsetzende Tendenz der Bevölkerungs­zunahme mit Schneeballeffekt kann nicht geleugnet werden, und es gibt keinen Grund, gerade wegen unseres relativ hohen medizinischen Niveaus, weltweit auf eine Umkehrung der Tendenz zu hoffen. Das Jahr 2116 steht noch an. 

Führt man sich die gesamte Tendenz des menschlichen Super-Paradigmas vor Augen, können Entwaldung und Desertifikation als ebenso grundsätzlich gelten — sei es durch Rodung, sei es durch Versalzung oder Übersäuerung des Bodens. Heute beschleunigen wir diesen Prozeß, der Tausende von Jahren alt ist. Wir wahren Kontinuität. 

In einer übervölkerten Welt ohne Wälder läßt es sich nicht leben.

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Die Arten sind dahin, die Lungen der Welt atmen nicht mehr, die notwendige CO2-Bindung findet nicht statt, der Treibhauseffekt verstärkt sich. Wir vernichten, genau genommen, nicht die Biosphäre, sondern wir unterbrechen ökologische Kreisläufe, so daß die natürliche Regeneration nicht mehr möglich ist. Mit diesen sich häufenden Unterbrechungen, deren Tendenz im Grunde irreversibel ist, wird der Point of no return erreicht. Die großen Prozesse sind unum­kehrbar geworden. Zuerst die Ostsee, dann die Nordsee. Und danach?

Hinter dieser tendenziell noch nicht abgeschlossenen Todesdynamik steckt die im Grunde irreversible Produktions­maschinerie der chemischen Industrie. Ob sich der landwirtschaftlich durch­chemisierte Boden noch zu erholen vermag, bleibt dahingestellt. Das Grundwasser Europas, das wissen wir, beginnt mit toxischen Chlor­kohlen­wasser­stoffen verunreinigt zu werden. Bei wenigstens 48.000 chemischen Stoffen muß irgendwann eine Grund­wasser­verseuchung eintreten. 

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Theoretisch reversibel nenne ich Gefahren, die sich erst abzeichnen oder deren Auswirkungen Naturkreis­läufe nicht für immer durchbrechen oder die aufgrund bisheriger Erfahrungen auf Regenerations­fähigkeit hoffen lassen. Flüsse wurden bisher mehr oder weniger gereinigt, Deter­gentien lassen sich theoretisch entschärfen oder abschaffen.

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Insektizide und Herbizide lassen sich theoretisch weltweit entgiften oder zum Teil verbieten, wie bei uns DDT. Welche langfristigen Folgen die bisherige Saturierung der Welt mit diesen hochgiftigen Stoffen nach sich ziehen wird, bleibt Mutmaßung. Theoretisch reversibel nenne ich die atomare und chemische Kriegsgefahr ebenso wie die stets drohende GAU-Möglichkeit. Begrenzte Atomkriege, die nicht die gesamte Mensch­heit auslöschen, sind denkbar. Lokale GAUS, die eine weltweite Verseuchung nicht zur Folge haben, sind seit Tschernobyl denkbar. Außerdem ließen sich Atomkraftwerke und Atom­arsenale mit einem Minimum an Einsicht und ohne größere wirtschaftliche Einbußen abschaffen. 

Die Genetik steht ganz am Anfang. Ihr Unfallpotential ist im Augenblick größer als ihr Erfolgs­potential, mit dem sie als Neue Landwirtschaft die evolutionären Optionen zum Verschwinden bringen könnte. Allerdings: Wenn die Forschung einmal begonnen hat, erzwingt ihre Eigen­dynamik das wissen­schaftliche Fortschreiten. 

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Die Genetik kann als nur theoretisch reversibel gelten. Für alle praktischen Begriffe, in aller Nüchternheit gesehen, bleibt sie bereits heute im Grunde irreversibel. Streng genommen trifft das auch bei der atomaren und biochemischen Kriegsgefahr zu, da wir die bombengierigen Duodez-Despoten noch gar nicht erwähnt haben. Der Irak liefert dafür ein eindrucksvolles Beispiel.

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Als völlig unkalkulierbar gefährlich und vielleicht reversibel  bezeichne ich Prozesse, auf deren lang­fristige Gefährlichkeit man nur fragend hinweisen kann, deren Gefahrenpotential sich unserer Kenntnis jedoch vollkommen entzieht. Der Grad der Verschmutzung der Ober­flächen­gewässer läßt sich nicht annähernd kalkulieren, erst recht nicht der Zeitpunkt, wann ein Weltmeer mit Katastrophen­folge biologisch umkippt. Was wissen wir schon von der phylogenetischen Wirkung erbschädigender und krebs­erregender Schwermetalle, was wissen wir von Quecksilber, von Jod-131, Strontium-90, der Radioaktivität überhaupt? Wann erreicht die Anreicherung in unseren Körpern Dosen, die planetarisch in den Massentod führen? 

Ich stelle Fragen. 
Bei manchen Prozessen lassen sich nur aberwitzige Fragen stellen. 
Wir aber wollen Antworten und Lösungen. 
Wie aber, wenn es keine Lösung gäbe?

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Genau genommen genügt bereits das plötzliche und irreversible Massensterben der tierischen und pflanzlichen Arten, um uns langfristig — in einigen hundert Jahren — das Ende unserer zerstörerischen Spezies zu bescheren. Wir haben die ökologische Balance scheinbar zu unseren Gunsten, langfristig jedoch bereits zu unseren Ungunsten gekippt. 

Ich erspare mir die nochmalige Aufzählung der Risiken. 

Streng genommen kann man ohnehin nicht mehr von Risiken sprechen. Bei der zunehmenden, sich beschleu­nigenden Durchbrechung der Naturkreis­läufe sind wir dank der Irreversibilität vieler Prozesse bereits am tendenziellen Ende angelangt. 

Im Grunde genügt es zu sagen: Wir Menschen haben uns an den Rand des Weltenbrands gebracht; allein die Wahrschein­lichkeits­rechnung sagt uns, daß wir irgendwann, irgendwo den letzten Schritt auch noch tun werden. 

Es gibt kein Risiko mehr. Wir haben ausgesorgt. Risiken bestehen nur noch in Teilbereichen oder für die nächste Zeit. Sogar die Zeit selbst wird zum Risiko, denn das Ende unserer Spezies kann als absehbar gelten. Man weiß nur nicht, wann es soweit sein wird. Zyniker schlössen Wetten ab, wäre ihnen nicht klar, daß niemand da sein wird, den Gewinn einzukassieren. Die ökologische Lage ist nicht ernst. Sie ist verzweifelt.

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Man wehrt sich gegen die Verzweiflung. 

»Alles übertrieben!« lautet der erste Einwand, der erhoben wird. Darauf antworte ich: Im Gegenteil, ich habe untertrieben. Ich habe versucht, auf der Irrever­sibilitäts­skala Abstufungen vorzunehmen. 

»Die Menschheit hat sich immer nur Probleme gestellt, die sie zu lösen vermochte!« wirft man als nächsten Einwand ein. 
Das ist schlichtweg falsch. 

Die atomare Endlagerung gilt als unlösbar; ebenso wissen wir nicht, was wir tun, wenn wir in diesem aberwitzigen Tempo das Artensterben verursachen. Auch für die Ozonschichtreduktion oder gar deren Zerstörung gibt es keine Lösung mehr. Die CO2-Zunahme wird sich nicht ändern lassen. Man kann nur hoffen, daß der Treibhauseffekt lediglich relativ lokale Katastrophen — wie etwa die Austrocknung des amerikanischen Midwest — zur Folge haben wird. 

  

 Hoffnung-1 

 

Der Gesprächspartner greift den Begriff der Hoffnung gierig auf: »Ich bin ein Mensch, und solange ich lebe, werde ich hoffen«, oder etwas banaler: »Wo Leben ist, ist Hoffnung.«  

Ein gewichtiges, das vielleicht gewichtigste Gegen­argument. 

Ich schätze das Argument hoch, da es den Kern des Menschseins berührt. Um das Hoffnungsargument gebührend zu würdigen, gehe ich nochmals zurück zu unserem Super-Paradigma und bemühe mich, die menschliche Evolution aus einer anderen Perspektive zu betrachten.

Streng evolutionstheoretisch gedacht, waren einzelne Spezies in der Lage zu überleben, weil sie fähiger als andere waren und sind, sich geschickt anzupassen und sich ökologische Nischen zu erobern. Das zog eine natürliche Auslese nach sich. Der Affe verliert, der Mensch gewinnt. Heute scheint es so, als ob sich die Auslese umkehrt, als ob sich das natürliche Prinzip gegen die dominante Spezies kehrt. Die Evolution scheint sich selbst zu wider­sprechen. 

Unsere Dominanz sichert uns nicht das bessere Überleben, sondern wir betreiben unseren eigenen Untergang. Der Stärkste führt den eigenen Tod herbei, weil er die Schwachen, ohne deren Arbeit er nicht leben kann und ohne die er den Herrenstatus nicht beanspruchen darf, tötet. Das alte Herr-Knecht-Gleichnis: Wenn der Herr den Knecht negiert, negiert er sich selbst als Herr. 

Bei dieser einzigartigen Umkehrung des evolutionären Prinzips kommt es auf die Schluß­folgerungen an, die daraus gezogen werden. 

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Kurz gesagt, man kann Hoffnungen, Wünsche, moralische Gebote in die eigene Spezies hinein­projizieren und sich an der selbstgesetzten Prämisse reiben. Bestenfalls verbleibt milde Resignation, schlimmstenfalls Nihilismus oder Menschenhaß. 

Oder aber man kann den sinnlosen Projektionen entsagen und als Anti-Projektionist urteilen. Das setzt absolute Nüchternheit und Ehrlichkeit voraus. Ich nehme das evolutionäre Ergebnis, wie es sich zeigt. Ich sage mir, daß das Überhandnehmen unseres Verstandes, unseres Großhirns natürlich ist. Unsere kraniale Kapazität mit der sich daraus ergebenden Künst­lich­keit ist eine notwendige, unausweichliche Folge der komplexen Evolution. Daß unser Großhirn vor vielen hunderttausend Jahren Bedeutung gewann, gehört zur natürlichen Entwicklung höherer Lebewesen.

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Daß wir im Neolithikum unsere aneignende biologische Basis allmählich verlassen haben, bis zur ausgeklügelten Produktion von Plastik und allen nützlichen Giften dieser Welt, das weist auf die Eigendynamik einer Entwicklung hin, die ich Aus—leben genannt habe. Der Verstand will all seine Möglichkeiten ausprobieren. Das ist so und sollte nicht gewertet werden. Wir sind weder gut noch schlecht, noch schön, noch häßlich. Wie die Natur. Wir sind ganz einfach. 

Was sich auslebt, stirbt eines Tages.

Der Naivität der Rettungsversuche ist die Natürlichkeit unserer Selbstvernichtung entgegenzusetzen. Und die Natür­lich­keit in jeglicher Form sollte akzeptiert werden. Es gibt keinen geheimen Grund, keinen göttlich verursachten Fahrplan, keine Bosheit und keine universelle Güte. Wir besitzen keine Schutzengel. Ein verborgener Sinn unserer Entropie bleibt unentdeckbar. Unser Schicksal kümmert niemanden. Wen stört es, wenn unsere Gattung ausstirbt? Wir sind allein. 

Dem Argument der Unabwendbarkeit unseres Endes ließe sich entgegnen, daß die Überwindung der Seinsschranken und die Verbesserung des menschlichen Loses ebenso natürlich ist, folglich die Zerstörungs­tendenz von einem höheren Verstandeswesen überwunden werden sollte.

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Man erinnert sich an Kants naive, aufgeklärte Interpretation der menschlichen Geschichte als eines »beständigen Fortschreitens zum Besseren«. Dagegen steht, daß der Verstand existiert und die Vernunft eine Recht­fertigungs­fiktion darstellt. Der Verstand allein reicht nie und nimmer aus, den notwendigen Großverzicht in die Wege zu leiten. 

Einzig der sofortige Super-Paradigmenwechsel könnte das Überleben der Spezies, vielleicht, garantieren. Der Planet müßte umorganisiert, der Egoismus müßte unterdrückt und alle Partikular­interessen zum Schweigen gebracht werden.  

Bei einem vernünftigen Wesen wäre dies möglich. Wir aber wurden geboren als denkende und fühlende Wesen, die ihre Selbstsucht nur ausnahms­weise hinter das globale Allgemeininteresse zurückzustellen vermögen. Gandhi war ein solcher Mensch, und Christus und Buddha und Martin Luther King. Aber wie viele Gandhis leben heute, haben jemals gelebt?  

Der aller Einsicht zum Trotz zu fordernde Super-Paradigmenwechsel widerspricht unserer geistig einfachen, pragmatischen, selbstsüchtigen, hoch­emotionalen Natur. Den Vollzug des Super-Paradigmenwechsels halte ich, wie gesagt, für unmöglich. Es scheint daher natürlicher, reformierend unterzugehen, anstatt die gesamte eigene Zivilisierungs­tendenz umzukehren.

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Da ein Ausweg verborgen bleibt, müssen wir allzu Spätgeborenen einen Lernprozeß in Gang setzen. Wir müssen lernen, unser Ende zu akzeptieren. Ein scheinbar pessimistisches Treiben.

Der gesamte bisherige Pessimismus in der Philosophie war dezisionistisch. Man hätte sich genauso gut für Gott als summum bonum oder für das ewige Leiden als summum malum entscheiden können. Und das hat man auch, wenn ich an Augustinus oder Eduard von Hartmann denke. 

Heute aber ist eine neue, objektive, empirisch leider nachweisbare Qualität entstanden, der man sich weder durch Flucht noch durch Unehrlichkeit entziehen kann. Man bleibe hier, Weglaufen ist sinnlos. Die geflügelte Zeit bringt uns den selbstzugefügten planetarischen Tod. Hoffnungs­losigkeit entsteht nicht dezisionistisch, nicht aus freier Wahl, nicht aus der Ausnahme­situation eines depressiven Subjekts oder eines Menschen­hassers wie Cioran

Ich hasse nicht. Ich stelle nur fest. Die Neue Hoffnungs­losigkeit ist eine Reaktion, eine Antwort auf das Unabwendbare. Die Neue Hoffnungslosigkeit begründet sich objektiv durch unseren gesamten kulturellen Werdegang. 

   Eduard von Hartmann        Augustinus       wikipedia  Dezisionismus  Willkür von Entscheidungen

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Im Vergleich dazu manifestieren alle bisherigen Philosopheme der Negation ihre triviale Natur. Denn ihren Folgerungen kann man ausweichen; man vermag sie mit Leichtigkeit zu relativieren und in ihrem Allgemein­anspruch sogar zu belächeln. Was für dich gilt, gilt nicht für mich. Unter anderen objektiven Umständen besäße die Neue Hoffnungslosigkeit keine Berechtigung. Nur wenn das Super-Paradigma umgekehrt würde, dürfte Hoffnung wieder aufkeimen. Die Neue Hoffnungs­losigkeit ergibt sich weder aus Misanthropie noch aus Enttäuschung. Ich bin nicht enttäuscht. Die Neue Hoffnungslosigkeit entsteht aus dem Bedauern, aus der Zuneigung zu einem Geschlecht, dessen tödlicher Fehler sich als Hybris des Verstandes ausdrückt.

Ich fordere nichts als absolute Ehrlichkeit und ein wenig Mut. 
Man nehme Abstand von der Apokalypse­blindheit. 
Man verschließe sich nicht den Fakten. 
Man streife die Haut der Angst ab. 
Danach geht es von alleine.  

 

Bei kontrollierbaren Gefahren wie dem Rauchen oder dem schnellen Autofahren neigen Menschen dazu, der Gefahr mutig zu begegnen. Aber der Mensch fühlt sich hilflos vor den unbestimmten Gefahren, den hereinbrechenden Natur­gewalten. Wer würde dafür kein Verständnis haben?

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Verständnis sei also zugestanden. Sagen wir: Wirklicher Mut wird nicht gefordert. Um die Schwellen­angst zu überwinden, denke man einen Moment lang an Montaigne und dessen Wahrhaftigkeit. Sie gilt es zunächst anzustreben. Es kommt nur darauf an, schreibt Montaigne, mit sich im Reinen zu sein. Montaigne akzeptiert sich, wie er ist, auch wenn es, wie er betont, unendlich viele bessere Menschen geben mag als ihn selbst. Man lerne sich und die Welt so anzunehmen, wie sie sich nun einmal entwickelt hat. Die Entwicklung mag schlecht sein, aber gab es eine Alternative?

Nein. 

Die Weichen wurden vor langer Zeit gestellt, nicht auf einmal, sondern nach und nach über Jahrtausende hin. Niemand hat etwas bemerkt, niemand wurde überrascht. Nur wir Spätkultur-Menschen, wir sind aufgewacht in dem Moment, da wir das Resultat sehen, den Untergang unserer Spezies, unser aller Tod. 

Verdrängen wir ihn nicht, diesen kollektiven, unabänderlichen Exitus. 
Um das Abstraktum zu konkretisieren, denke man an den eigenen unausweichlichen Tod. 

»Die Besinnung auf den Tod ist Besinnung auf die Freiheit. Wer sterben gelernt hat, der hat das Dienern verlernt.« So heißt es in Montaignes berühmtem Aufsatz <Philosophieren heißt sterben lernen>. 

Seien wir bereit.

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»Wer die Menschen das Sterben lehrte, der lehrte sie das Leben«, fährt Montaigne fort. In dem Maß, indem man nicht mehr so stark an den Gütern des Lebens hängt, betrachtet man den Tod mit weniger Entsetzen. Der Tod, schreibt Montaigne, stelle die Bedingung der Schöpfung dar. Der Tod ist Teil unserer selbst. Man fliehe nicht vor sich, man fliehe nicht vor den Fakten des evolutionären Endes. Ihr habt nun alle euer Spiel gespielt. Der eigene und der kollektive Tod tragen die Maske der Unnatürlichkeit. Reißen wir dem furchterregenden Monstrum die Maske ab und entdecken wir ohne Schrecken, aber mit Gelassenheit, was sich dahinter verbirgt. Kein Grauen, kein Zähneklappern, kein Knochen-Xylophon. Nichts versteckt sich dahinter als vollkommene Natürlichkeit. Mit Ruhe in der Seele nehme man sie wahr. Erst dann kann man leben. 

Jedes Individuum muß von neuem lernen, den Tod zu akzeptieren, damit es Frieden finde vor dem Abgang. Beim Gattungstod verhält es sich nicht anders, nur daß der Lernprozeß ein kollektiver ist. Wir haben die Verhältnisse zum Tanzen gebracht, und nun ist ausgetanzt. Wir haben evolutionär gesiegt und müssen die Lorbeeren weiterreichen an Verdientere. Wir haben gelebt und geliebt. Es naht die Stunde des Abschieds.

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Lernen wir — zu akzeptieren.  

Der westliche Mensch kämpft immerzu, agiert, nimmt nichts hin. Descartes und Bacon sind die Säulenheiligen der Ungeduldigen, Montaigne zählt zu den Besiegten. Doch wer hat in Wirklichkeit gewonnen? Schadenfreude kommt bei mir nicht auf. Man lerne, Distanz zu gewinnen. Die Stoiker nannten sie Ataraxie, ein Schweben über den Dingen, ein weltloses Wehen der Vernunft über den Aktionen. Darin drückte sich ihr welt­fremdes Ideal aus, das Ideal aller weltfremden Philosophen, nämlich sich ganz von der Welt zu trennen auf dem Wege zum Geist. 

Die moderne Akzeptanz schwebt nicht über den Dingen, sondern in den Dingen. Die Akzeptanz, zum Prinzip erhoben, entsteht nicht aus Willkür oder Weltflucht. Sie entsteht lediglich als Schluß­folgerung aus der gegenwärtigen und keiner anderen Situation. Sie ist das Brevier des Jüngsten Gerichts. 

Mit dem Begriff der Akzeptanz verbindet sich keine Moral­philosophie. Sie ist nichts anderes als eine Endzeitkrücke in gottloser Zeit. Die Janusköpfigkeit von Naturwissenschaft und Technologie brachte uns Segen und Verdruß. Nun beginnt sich der Verdruß durchzusetzen. Da ein retour à la nature sich als unmöglich erweist, müssen wir lernen, das Unabänderliche hinzunehmen.

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Einen mittleren Weg, einen Schleichpfad vorbei am Ozonloch, am Treibhauseffekt, an der Arten­liquidation gibt es nicht. Kein noch so fernes pazifisches Fluchtatoll verspricht Rettung. Ein leicht gebremstes Voranschreiten wird das Ende, wenn wir Glück haben, um ein bis zwei Jahrhunderte hinauszögern. Ökologisch sich verhalten heißt den Gattungstod verzögern. 

Das Annehmen des Unabänderlichen sollte unsere psychische Grundgestimmtheit bilden. Es macht das Dasein erträglicher und schenkt uns Ruhe für all die kleinen Kämpfe, die dem großen Abschlußstreit vorangehen. Das Prinzip Akzeptanz sei eine Art Ataraxie der Postmoderne. Sie sei eine aktive, lebendige Stille, eine wache Ferne von den Dingen um der Seelenruhe willen. 

Wach soll sie sein, denn sie schließt nicht die Bereitschaft ein, Diktaturen, Unmenschen, hominide Juntabestien, opportunistische konser­vative Regierungen, Atomkraft, Lebensmittelvergiftung, Ozonsterben, Amazonas­rodung und Artensterben zu akzeptieren. 

Gewiß, das Ende bleibt absehbar. Aber jeder Kampf lohnt, damit das Restdasein im Kleinen erleichtert, damit der nächsten Generation, immerhin, das Überleben ermöglicht wird. Ein kleines Geschenk an die Kinder und vielleicht noch an die Kindeskinder.

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Ein Geschenk an die Selbstachtung. Der Philosoph als Ökologe sei der sanfte Geronimo des Geistes. Hier geht es um die gesamtplanetarische Tendenz. 

Wer nach Sinn fragt, soll lernen, den Kleinen Sinn, den Sinn im verbliebenen Alltag zu suchen und zu finden. Der Große Sinn war in jedem Fall nur unsere subjektive Projektion. Wir sehnen uns so sehr nach Sinn. Nun, am Ende angelangt, halte ich Rückschau und bin nicht einmal bestürzt. Ich habe gelernt, daß das Wirkliche nicht vernünftig, sondern in gewisser Weise idiotisch war — und ist. All unser Streben — und nun das! Eine Spezies voller Sehnsucht und Verlangen und Wünsche und Drängen und Taten, und nun die Bodenlosigkeit. 

 

»Alles umsonst!« schreit der verzweifelte Gesprächspartner. Ich versuche ihn zu beruhigen. Nichts war umsonst. Man denkt lediglich, alles sei vergeblich, weil man es vom buchstäblich schmutzigen Ende her betrachtet. Das Gegenteil trifft zu. Gelungen war der große Entwurf des Verstandeswesens; es strickte sich eine ihm gemäße Welt, eine Welt, die ihm nun seine eigene Ohnmacht beizubringen beginnt.

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Die Zeit des Adieus bricht an. Gelassen, ruhig, ein wenig müde, so möchte zum letzten Tanz, dem Totentanz aufgespielt werden. Wer den Totentanz als Abschiedsfeier akzeptiert hat, trauert nicht. Wer die evolutionäre Unumkehrbarkeit hingenommen hat, steht den Konsequenzen gefaßt gegenüber: zuerst die Hybris, dann der Fall. 

Das Prinzip Akzeptanz: das ist die Ruhe des T'ai-Chi-Meisters bei der Soloform. Das Prinzip kann subjektiv erfahren werden als erträgliche Leichtigkeit des Seins. Aus der Akzeptanz gewinnen wir eine ungekannte Leichtigkeit. Wir erfahren eine neue Dimension des Lebens. Wenn schon nicht die Fröhlichkeit, dann wenigstens eine Abgeklärt­heit, die ich Heiterkeit nenne. 

Kundera zeigt, wie man heiter pessimistisch sein kann. Wer in reifer, überlegter Entscheidung die Akzeptanz gewählt hat, der erfährt das Dasein als Leichtigkeit. Der lacht wie Tomas, der Gegenpol zur tonnenschweren Teresa. Tomas lacht, Teresa weint. Warum weinen, wenn man lachen kann? Während Descartes Montaigne faktisch besiegte, überwindet Montaigne Descartes durch die innere Einstellung. An der objektiven Zukunft ändert das nichts. Denn die letzten Mohikaner sind wir. 

Gerade aus der klarsichtigen Hinnahme des Unabänderlichen entsteht die schöne, freie und leichte Heiterkeit.

detopia-2019:  wikipedia  Milan_Kundera 

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Akzeptieren wir, daß das Leben uns leihweise geschenkt wurde. Wir treten auf und dann wieder ab. Als Spezies agieren wir in einem großen Schauspiel, das ohne Applaus endet. Der Abend im Theater geht nun zu Ende. Lachen wir mit, spielen wir mit und verbringen wir angenehme letzte Minuten, bevor der Vorhang fällt. 

Ich rechte nicht mit dem Großhirn, ich hadere nicht mit unserer Gedanken­losigkeit und Grausamkeit, ich verwünsche unser Schicksal nicht. 

Ich überlasse mich der Ruhe der Resignation. 

Gewiß ein Übel, und unter anderen Umständen, zu anderen Zeiten, unangebracht wie etwa vor zweihundert Jahren, als einzig und allein dem Kritiker Rousseau das Ende in Form einer steten Verfallsgeschichte dämmerte. Zu anderen Zeiten könnte nichts dümmer sein als diese gefürchtete, noch unbequeme Ruhe. 

Die Situation hat sich jedoch in wenigen Jahren grundlegend gewandelt. Gewiß ein Übel, aber noch immer besser als die Unruhe eines Herzens, das noch glauben möchte. Wer das große Schauspiel von der Vogelwarte aus betrachtet, lebt in relativer innerer Harmonie. Wer das evolutionäre Ende mit Grazie hinnimmt, hört die sich steigernde Schlußkakophonie angstfrei.

Um sich von der nagenden Angst zu befreien, lasse man alle Hoffnung fahren. 

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[ Hoffnung 2 ]

 

Die Hoffnung bleibt der Hauptantrieb, etwas zu unternehmen. Man will dies, man will jenes, man hofft, es werde besser. Ernst Bloch hat die Hoffnung als anthropologische Grund­konstante eines drängenden, wünschenden, umgestalt­enden Wesens erkannt und zum Prinzip seines Denkens erhoben. 

Diese Grundbefindlichkeit soll nicht geleugnet werden. Es gibt sie und es wird sie weiterhin geben. Sogar im Sterben hofft der Mensch unsinnigerweise, das Leben gehe in einem Jenseits, an dem er aus Angst festhält, weiter. Je größer die Angst, desto heftiger und bizarrer das Festkrallen an der Hoffnung. 

Mit dem evolutionären Ende ist uns jedoch eine neue Situation erwachsen. Aufgrund der mißlichen Lage, in der wir stecken, beginnt sich Hoffnung in Hoffnungs­losigkeit zu verwandeln.  

Natürlich bleibt die Hoffnung ein unausrottbarer Motivationsfaktor. Ich wünsche ihr viel Glück, allein, der Glaube fehlt mir. 
Wer hofft, verzehrt sich, der Kampf wird ein verzweifelter. Die Gegenkräfte sind stärker. Hoffnungs­losig­keit schenkt uns Ruhe.  

Ich leugne es nicht: Die Akzeptanz entpuppt sich als Mantel des Selbstschutzes.  

detopia-2014:  Ernst Bloch

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In seinem Traktat über die Hoffnung hat Josef Pieper zwei Formen der Hoffnungslosigkeit ausfindig gemacht. Zum einen die Vermessenheit, die praesumptio. Sie trifft auf unsere Situation nicht zu, da wir uns bemühen, die Bescheidenheit wieder zu erlernen. 

Zum anderen nennt Pieper die Verzweiflung, die desperatio. Auch sie ist auf unsere Ausnahmesituation nicht anzuwenden. Verzweiflung entsteht aus dem letzten Schimmer eines Hoffnungslichts. 

Erkennt man diesen Schimmer als Illusion, tritt eine abgeklärte Akzeptanz an seine Stelle, die ich heitere Hoffnungs­losigkeit nenne. Die großen Schlachten sind geschlagen. Alle, alle führten sie zu Pyrrhussiegen. Nun naht die Zeit, wo wir der Hoffnung entsagen, damit unsere Seelen Frieden finden. Die Endzeit bricht an. Viele dachten, sie wäre bereits zwischen 1939 und 1945 angebrochen, denn Schrecklicheres hatte es noch nie gegeben. 

Es ist kein Zufall, daß jene Jahre nach der Wannseekonferenz das Stigma eines krankhaften Begriffs tragen: Endlösung. Er weist auch voraus auf ein Endstadium, in das, ohne daß sie es geahnt hätten, die Massenmörder selbst bereits getreten waren.

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Daß diese unsagbaren Verbrechen am Menschen und die unsagbaren Völkermorde an Naturvölkern gerade im letzten und vor allem in diesem Jahrhundert begangen wurden, weist auch im sozialen Feld auf das Apokalypsestadium hin, das wir erreicht haben. 

Das Fürchterlichste, das man über den Holocaust sagen kann, lautet: Er war lediglich ein Vorspiel. Die Partitur für den letzten Akt ist so gut wie komponiert.

Gegen die Akzeptanz stehen die Hoffnung und die Verantwortungsethik. 

In seiner Arbeit Das Prinzip Verantwortung hat Hans Jonas eine neue Ethik gefordert, die unserer erweiterten Macht kommensurabel sein soll. In der Antike waren die zeugenden Kräfte der Natur noch weitgehend unvermindert. Die menschlichen Eingriffe in sie blieben oberflächlich. Die Natur war das Bleibende, wechselnd waren allein die menschlichen Werke. 

Heute aber, fährt Jonas fort, kann man sich der grenzenlosen Verletzbarkeit der Natur nicht mehr verschließen, denn unsere Macht hat sich ins Unendliche gesteigert. Die gesamte Biosphäre, schreibt Jonas, wurde zu unserem Treugut, weshalb die Ethik sich nun auf sie erstrecken müsse. Bisher stand die Verantwortung nicht im Zentrum der Ethik, betont Jonas. Verantwortung ist eine Funktion von Macht und Wissen, und beide waren früher so beschränkt, daß Verantwortung keine Rolle spielte — bis heute. 

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Jonas erhebt daher die Forderung nach einer völlig neuen Ausrichtung der Ethik als Verantwortungs­ethik, die er mit einem ersten Imperativ verknüpft: »daß eine Menschheit sei«. 

Ich bejahe die Verantwortungsethik von ganzem Herzen, doch sie versagt dort, wo sie in der Wirklichkeit eingelöst werden müßte. Die Verantwortungs­ethik setzt einen minimalen Respekt vor der Natur voraus, denn wo sonst soll die Verantwortung verankert sein? Unser gesamtes Super-Paradigma seit dem Neolithikum zeichnet sich gerade durch mangelnden Respekt vor der Natur aus. Noch nie, seit dem Paläolithikum, noch nie war er bestimmend, außer in den heute fast ganz verschwundenen ökologischen Nischen der übrig-gebliebenen Urvölker. Im Gegenteil: Mit jeder Erfindung, die uns die Arbeit erleichtert, mit jeder Maschine, mit jeder giftigen Chemikalie und mit jedem Kunststoff haben wir uns immer weiter von der Natur und den natürlich gegebenen Kreisläufen entfremdet. 

Man kann nichts respektieren, geschweige denn die Verantwortung für etwas übernehmen, dem man völlig entfremdet wurde. 

Von der Natur ist der Spätkultur-Mensch Lichtjahre entfernt.

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Eine Verantwortungsethik erweist sich als vollkommen ohnmächtig gegenüber der Eigendynamik der Forschung — typisch dafür die unaufhaltsame Genetik —, gegenüber der Unumkehr­barkeit technologischer Prozesse und gegenüber freigesetzten Giften. 

Jonas kritisiert die Krux der traditionellen Ethik wegen der Kluft zwischen Sein und Sollen, die durch ein fiat überbrückt werden soll. Die Kritik trifft den Urheber. Dem Sollen der Verantwortungsethik ergeht es wie allen berechtigten ethischen Forderungen. Die Wirklichkeit richtet sich nicht danach. Ansätze zu einer Verantwortungsethik sind nirgends auszumachen. Oder hält jemand unsere bescheidenen ökologischen Notprogramme für ernsthafte Ansätze? Nicht einmal die wunder­vollen Wale vermögen wir zu beschützen. 

<Schützt die Nordsee>, prangt auf deutschen Briefmarken — aber etwa die Nordseekonferenz von 1990 beweist schlagend, daß von einem Verant­wortungs­ansatz keine Rede sein kann. Die Konferenz war ein Fiasko. Deutschland wird weiterhin Nitrate in die Nordsee leiten und Großbritannien alle Gifte dieser Welt, die sich in die Meere einleiten oder dort verklappen lassen. 

Auch der Umweltgipfel von 1992 in Rio de Janeiro endete mit einer Enttäuschung. Die antiökologische Haltung der USA sabotierte jeden Ansatz zu einer ernstzunehmenden Umkehr.

 

detopia-2014:

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Wir sind nicht einmal in der Lage, den Menschen auch nur annähernd verantwortungsvoll zu behüten. Unser Super-Paradigma basiert geradezu auf Verantwortungs­losigkeit. Sie als unser Leitstern (ohne daß wir uns dessen bewußt gewesen wären) macht unseren Überfall auf die Natur erst möglich. Je größer die Verfügungsgewalt ist, desto tiefer müßte die Verantwortungsethik verankert sein. Doch das war niemals der Fall. Denn unsere immense Macht gründet in der Sorglosigkeit, in der Unhemmbarkeit. 

Jedes Hochrisiko­system, und jährlich kommen neue hinzu, bleibt ein Ausdruck unserer globalen Verfügungsgewalt, deren Charakter grundsätzlich verant­wortungslos ist. Es ist naiv, inmitten des wildesten Getümmels die Friedenspfeife rauchen zu wollen, naiv, in die schwärzeste Nacht hineinzuschreien, es möge augenblicklich Tag werden. 

Außer der Hoffnung und der Verantwortungsethik steht noch anderes gegen die Bereitschaft, das evolutionäre Ende zu akzeptieren. Alle sterblichen Wesen werden von Angst beherrscht. Hinter angstgeleiteten Entscheidungen steckt immer die Existenz­angst. Angst überwindet man durch Wahrhaftig­keit, die einen über die Schwelle trägt.

Auf der anderen Seite der Schwelle steht man Auge in Auge dem Ausmaß unserer Zerstörung gegenüber. Dieses entsetzliche Ausmaß gilt es auszuhalten auf dem Weg zu einer neuen inneren Freiheit. Wer das Unabwendbare in freiwilliger und einsichtiger Entscheidung hingenommen und verinnerlicht hat, eröffnet sich neue Dimensionen der Selbstbestimmung. Man reagiert nicht länger blind, ängstlich, kurzsichtig, sondern gelassen und den Umständen entsprechend ohne die Fremdbestimmung, die die Ängstlichen als Über-Ich-Schutz benötigen. 

Wer sich selbst entscheidet, stärkt das Ich. Wer heiter die Akzeptanz wählt, begibt sich in ein neues, in das letzte Reich der Freiheit, befreit sich von der Trauer. Wer selbstgewählte Heiterkeit an den Tag legt, braucht nachts nicht zu weinen. 

Unser persönliches Leben bleibt untrennbar vom Leben der Gattung Mensch, zugleich aber ist es durch die Unverwechselbarkeit der Individualität davon getrennt. Während die Spezies in diesem massen- und natur­mordenden Jahrhundert ihre moralische Korruption längst bewiesen hat, vermögen Individuen durchaus den Weg einer moralischen Läuterung einzuschlagen. 

Wer die heitere Akzeptanz findet, beweist innere Freiheit, Freiheit zur Distanz von den ökologischen und humanitären Verbrechen der Allgemeinheit. Frustrationen werden abgebaut: Frustrationen über die Gewordenheit. Sie können leicht in Aggressionen umschlagen. 

Wer die Evolution als gewordene, praktisch schon gewesene hinnimmt, ist nicht mehr enttäuscht darüber, daß es auch anders und besser hätte kommen können. Wie sinnlos, sich von Hypothesen frustrieren zu lassen.

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 Fuller  1993 Das Ende