Fuller-1992
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Das Ende aller Dinge. Das Ende eines kühnen Entwurfs, einer faustischen Gattung, einer grandiosen Schöpferspezies. Ein Geschlecht, das Mozarts <Cosi fan tutte>, Shakespeares <King Lear> und Caravaggios Londoner <Emmausmahl> hervorzubringen befähigt war, endet wie ein Haufen Lemminge.
Uns bleibt nur das reine Zusehen, die erzwungene Akzeptanz. Ganz gleich, was wir tun, es eilt nicht mehr. In Ruhe gehe man daran, den Mörder zu ermitteln. Die Tat ist schon geschehen, wir befinden uns in der Ermittlungsphase. Bald wird der Fall immer und ewig abgeschlossen werden.
Sogleich dringt freilich ins Bewußtsein, wie überflüssig die Suche nach dem Schuldigen ist. Niemand trägt Schuld. Das Super-Paradigma gedieh auf der Grundlage von Expansion, Produktion, Respektlosigkeit, Ausbeutung.
All dies müßte umgekehrt werden — sanfte Aneignung anstatt Produktion, Minuswachstum anstatt Expansion, Respekt und Liebe allem Lebendigen und Toten gegenüber anstatt Respektlosigkeit und Ausbeutung.
Die Unmöglichkeit der grundlegenden Konvivialität mit der Mitwelt zwingt uns in die Haltung der Akzeptanz.
Bild von detopia eingefügt. wikipedia Caravaggio (1573-1610) (um 1601) National Gallery (London)
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Das Super-Paradigma unterliegt dem von Günther Anders so genannten Harmlosigkeitsgesetz: Je größer der Effekt, desto kleiner die für dessen Verursachung erforderliche Bosheit. Alles geschieht einfach so. Und doch krankt der Gedanke der Harmlosigkeit an irgend etwas. Anders benennt die Diskrepanz zwischen Herstellung und Vorstellung als Krankheitsursache. Die Technik führt uns dazu, daß wir uns die Auswirkungen dessen, was wir herstellen, nicht mehr vorstellen können. Damit erreichen wir das Ende der Verantwortung. Etwas verantwortlich tun, fährt Anders fort, heißt aber zur Tat stehen.
Die Unmöglichkeit einer Verantwortungsethik manövriert uns noch weiter in die immer enger werdende Ecke der Akzeptanz. Auch der Staat hat versagt. Ulrich Beck weist das Versagen des Versicherungsstaats anhand von drei Kriterien nach.
Erstens sind die Schäden global. Viele sind irreparabel. Gleichgültig, welche Anstrengungen auf nationaler oder gar internationaler Ebene unternommen werden, die schlimmsten Schäden sind nicht mehr gutzumachen.
Zweitens droht uns zu jeder Zeit Vernichtung, was eine Nachsorge ausschließt. Es gibt kein Nachher und darum auch keine Nachsorge. Dem Auftrag, Leben zu beschützen und zu fördern, ist der Staat nicht nachgekommen.
Drittens hat der »Unfall« längst seine raum-zeitlichen Begrenzungen und damit seinen Sinn verloren. Der Unfall wird zum »Ereignis« mit Anfang, aber ohne Ende, wie Tschernobyl beweist.
Immerhin gibt es keine Eliten, die sich ausnehmen können. Ironischerweise erfüllt der Versicherungsstaat seinen demokratischen Auftrag erst dann ganz, wenn alle Gesellschaftsmitglieder gleichermaßen dem Exitus zustreben.
Immer mehr in die Ecke gedrängt, möchte man etwas tun.
Ich deute die alte Kantische Frage um. Da wir alles tun können und leider schon alles Vernichtende getan haben: Was dürfen wir, in einem moralischen Sinn, tun? Wenn man einmal in aller Klarsichtigkeit das evolutionäre Ende akzeptiert hat, ist für alles weitere Handeln eine Basis geschaffen. Montaignes wache Beobachtungsgabe war eine aktive Trägheit, die sich der Vereinnahmung widersetzt.
Nun sind wir frei! In den engen äußeren Grenzen gefangen, können wir mit unseren Seelen tun, was wir wollen. Wir sind frei und brauchen nicht zu definieren, was wir tun.
detopia-2014 Ulrich Beck bei detopia
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Streiten wir uns doch jetzt nicht mehr um Begriffe.
Je genauer die Denker bemüht waren, die Begriffe zu definieren und ihnen präzise Geltungsbereiche zuzuordnen, desto weniger hatten diese mit der Wirklichkeit zu tun.
Schweben wir also undefiniert, leicht, ohne Koordinaten, ohne Kalkulationsvorgaben, ohne einen Gesamtsinn zu erwarten. Ich habe akzeptiert, daß es keine Hoffnung und keine Zukunft und keinen Sinn gibt. Ich schwebe. Doch das Schweben, so wurde die heitere Hoffnungslosigkeit verstanden, war ein Schweben in den Dingen, nicht über den Dingen. Die Distanz war nicht absolut.
Akzeptanz bedeutet nicht Versöhnung.
Eine ernsthafte Versöhnung mit der Mitwelt ist ohnehin ausgeschlossen. Wie soll man sich denn, ohne diese Grundlage, mit den Mitmenschen einigen? Man darf sich nicht in eine noch schlechtere, verlogenere Gewordenheit als die gegenwärtige mit ihrer erniedrigten, ausgepowerten Natur begeben. Dem Quietismus soll das Wort nicht geredet werden, das da hieße: <Ruhe ist die erste Bürgerpflicht, Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.>
Die von mir gemeinte Akzeptanz bezieht sich allein auf unsere Psyche und schenkt uns die Grundlage, von der aus wir operieren können.
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Im Angesicht der ökologischen Katastrophe können wir tun, was wir wollen. Keine Tat ändert irgend etwas.
Es handelt sich nur noch um moralische Entscheidungen. Längst tanzen wir kurz vor dem Ausbruch auf dem Vulkan.
Entschließen wir uns zur Aktivität, verdient es den Respekt aller.
Die Aktivität vor dem Ausbruch des Vulkans ist der letzte, kleine, private Sinnsprung, bevor die Lava zu fließen beginnt. Man suche den Sinn in sich selbst, in der Tat, die vor der Selbstachtung Bestand hat.
Über Jahrtausende hin beruhte das Handeln der Spezies Mensch, wie Schopenhauer festgestellt hat, auf dem Egoismus. Um diesen zu überwinden, suchte er nach einem Handlungskriterium von moralischem Wert, nämlich der Abwesenheit aller egoistischen Motivation. Schopenhauer fand das Kriterium im Mitleid. Es überwindet den Egoismus, weil man am Leiden des anderen teilnimmt. Sobald das Mitleid rege wird, liegt mir das Wohl und Wehe des anderen unmittelbar am Herzen, ganz wie das meinige. Damit entfällt für Schopenhauer der Unterschied zwischen dem anderen und mir. Mitleid garantiert das Wohl aller. Das Unrecht besteht in der Verletzung des andern. Dehnen wir Schopenhauers Mitleidethik auf die Natur aus, hätten wir die Brücke geschlagen zwischen Mensch und Mensch und Mensch und Natur.
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Wir hätten.
Denn ich frage mich, ob eine Mitleidethik weit genug geht. Wiedergutmachen kann sie ja ohnehin nicht mehr. Die Würfel sind bereits gefallen.
Außerdem scheint mir Drewermanns Einwand stichhaltig: Auch das Mitleid ist eine Haltung, die vom Menschen ausgeht und der Natur in einem wohlwollenden Sinn Unrecht tut. Da es Schopenhauer zufolge schlecht sei zu töten, müsse die Natur »ungütig« erscheinen, denn sie tötet unablässig, was sie hervorbringt. Die Mitleidethik, schreibt Drewermann, muß angesichts des ständigen Sterbens in der Natur zwangsläufig in grenzenloser Trauer verharren und in einen metaphysischen Pessimismus münden.
Wir dürfen unsere Gefühle nicht in die Natur projizieren. Es kann nicht um weltferne Metaphysik gehen.
Auch will ich weder Trauer noch Pessimismus predigen. Es geht um Wege des inneren Überlebens, um moralische Freiheit, um die letzte Würde. Es geht um die Bewahrung eines Restfunkens von Anstand im Angesicht der Verwüstung unserer Welt.
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Man hat sich auch bemüht, das Wohl aller in der Staatslehre zu verankern. Wenn der Souverän, so heißt es bei Hobbes, den Untertan nicht länger zu beschützen vermag, erlischt das Gehorsamsgebot. Ohne Schutz kein Gehorsam. Die Verpflichtung, um der Sicherheit willen stillzuhalten, wird aufgehoben, wenn Leib und Leben des Untertans in Gefahr geraten. Locke griff einhundert Jahre später, im Jahr 1690, diesen Gedanken nochmals auf. Da die Legislative über der Exekutive steht, darf diese jederzeit vom Volk aufgelöst werden, wenn die Exekutive Macht und Vertrauen mißbraucht. Locke nennt diesen Mißbrauch »breach of trust«; er tritt dann ein, wenn Freiheit und Besitz der Individuen bedroht sind.
Siebzig Jahre später, 1762, faßt Rousseau den Sachverhalt noch radikaler. Die Exekutive ist bei ihm nichts anderes als der Diener des Volkes, den das Volk zu jeder Zeit nach Belieben absetzen kann.
Henry David Thoreau greift die Idee des Revolutionsrechts in seinem berühmten Aufsatz <On the Duty of Civil Disobedience> von 1849 auf. Im Gegensatz zu Hobbes und Locke handelt es sich bei Thoreau nicht um Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit. Thoreaus oberste Entscheidungsinstanz bleibt das Gewissen des Individuums. Man ist zuerst Mensch und erst dann Staatsbürger. Niemals soll man sein Gewissen der Legislative überlassen.
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Das Gewissen gehört allein dem Individuum, das Thoreau zur Person, zur moralischen Instanz, erhebt. Der Staat gründet im Mehrheitsrecht, und das Mehrheitsrecht drückt nichts anderes aus als das — Recht der Stärkeren. Der Staat wappnet sich nicht mit Ehrlichkeit, sondern mit überlegener Macht. Wenn nun dieser Staat einem Menschen Unrecht antut und dem Individuum befiehlt, ihn dabei zu unterstützen, dann verlangt Thoreau, daß man das Gesetz brechen soll. Auf keinen Fall soll man eine Regierung fördern, die Unrecht treibt. Ansonsten gibt man sich als Person auf.
Ziviler Ungehorsam, das ist die Forderung Thoreaus im Falle des genannten Unrechtszustandes.
Von Thoreau beeinflußt, führte Gandhi diesen Gedanken fort. Er forderte den Menschen zu einem unbeirrbaren Sich-an-die-Wahrheit-halten auf, zu Satyagraha. Welches Recht haben wir und der Staat, auch nur die kleinsten Lebewesen zu töten? Wir sind nur Himsa-Wesen, Gewalt-Wesen. Um von Himsa frei zu werden, müssen wir zur Identifikation mit allem, das da lebt, gelangen. Das ist nur möglich mittels einer Selbstläuterung, die völlig leidenschaftslos zu sein hat. Man muß sich erheben über die gegenläufigen Strömungen von Liebe und Haß, von Zuneigung und Ablehnung.
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Satyagraha, betont Gandhi, ist mehr als ziviler Ungehorsam. Ein Satyagrahi gehorcht den Gesetzen und ist nur deshalb in der Lage zu beurteilen, ob Gesetze schlecht und ungerecht sind. Daraus erwächst ihm die Berechtigung, gewissen Gesetzen unter genau bestimmten Umständen zivilen Ungehorsam zu leisten. Die Gehorsamsaufkündigung darf jedoch nie gewaltsam geschehen. Das Mittel bildet Ahimsa, Nicht-Gewalt. Denn nur sie offenbart in ihrer Anwendung Wohlwollen allem Leben gegenüber. Gandhi qualifiziert Ahimsa sogar als »reine Liebe«, als »Zustand der Vollkommenheit«.
Es liegt mir fern, Gandhis Idealismus zu kritisieren und für Thoreau Partei zu ergreifen oder Thoreaus Theorie zu beanstanden und mich auf die Seite von Hobbes zu schlagen. Details spielen keine Rolle mehr.
Distanziert, wenn auch nicht geläutert, fasse ich lediglich zusammen. Stützt man sich auf Hobbes und Locke, wird klar, daß keine Regierung der Welt es verstanden hat, das Überlebensrecht unserer und anderer Spezies sicherzustellen. Kurzfristige wirtschaftliche Ziele kamen immer vor langfristigen Überlebenschancen. Der Eigentumstheoretiker in Locke wird dem Überlebenstheoretiker in ihm vorgezogen. Locke wird gegen sich selbst ausgespielt.
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Die herrschenden Mächte und Regierungen haben ihre Pflicht der Lebenserhaltung verletzt. Sie haben sich selbst, nicht ihre Bürger, am Leben erhalten. Damit haben sie ihr Recht auf Gehorsam verwirkt. Alle modernen Staaten haben es verstanden, die Menschheit an den Rand der Vernichtung zu führen.
Streiten wir uns nicht über die Gründe. Sie liegen sehr viel tiefer als in der kurzsichtigen Tagespolitik.
Die Wende pro reo natura halte ich für ausgeschlossen. Es handelt sich nicht mehr darum, Regierungen zu stürzen, um gewaltsam und mit todbringender Aktion in letzter Sekunde das Ruder herumzureißen.
Die nackte Gewalt möge für immer integraler Bestandteil unseres bisherigen, auslaufenden Super-Paradigmas bleiben. Ein drittes, endgültiges, friedliches Super-Paradigma läßt sich nicht darauf aufbauen.
Das Überleben vieler würde man mit dem Tod einiger rechtfertigen und sich so ins allzu bekannte Kielwasser aller Unrechtsrechtfertigungen begeben. Um den Wechsel geht es doch nicht mehr. Es geht nur noch darum, sich als Individuum der allgemeinen Korrumpierbarkeit zu entziehen. Es handelt sich nur noch um die Läuterung des Selbst.
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Angesichts des Sinnmangels und angesichts einer fehlenden Hoffnungsperspektive manifestieren alle moralisch-ökologischen Aktionen — gleich welcher Art — die letzte verbliebene Stärke der menschlichen Gattung.
Sie nimmt darum heldenhafte Züge an. Die scheiternde Heldin, der scheiternde Held erscheint groß im Sterben, hemingwaygleich.
Greenpeace und Robin Wood: die wahren Heiligen der letzten Tage.
Es gibt einen Unterschied zwischen Akzeptanz und Akzeptanz.
Die Kleinbürger akzeptieren aus Angst oder Gedankenlosigkeit, sie akzeptieren aus Resignation oder aus dem Gefühl der sozialen Unterlegenheit. Die heitere Hoffnungslosigkeit macht man sich hingegen aus begründeter Einsicht zu eigen. Wer die heitere Hoffnungslosigkeit verinnerlicht, erreicht einen Zustand ruhiger Wachheit. Dieser treibt in den zivilen Ungehorsam. Natürlich bleibt jeder Akt des Ungehorsams, jede Ahimsa-Aktion dezisionistisch* und darum unbegründet.
Jeder Akt könnte auch nicht stattfinden. Eine objektive Begründung gibt es nicht. Und doch möchte man in dieser merkwürdigen Schwerelosigkeit, in diesem Zwischenstadium, in dieser undefinierbaren Hilflosigkeit nicht verharren. Sie ergibt sich, weil auf einmal alle Begründungen entfallen sind.
Wahrheiten haben sich in Luft aufgelöst.
Ahimsa: wikipedia Ahimsa Gewaltlosigkeit dezisionistisch: wikipedia Dezisionismus politisch und juristische Theorie
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Der Schwebezustand infiziert die Seele. Auch der distanzierte Betrachter spürt den Untergang der Natur auf schmerzliche Weise.
Jeder sterbende Baum, jede mit Plastiktüten und alten Autoreifen zugeschüttete Landschaft, jedes autobahndurchfurchte Tal schreit immer dieselbe Botschaft: Das habt ihr mir angetan.
Man ist auf der einen Seite Gefangener einer mangelnden objektiven Moral und einer allgemeinen Zukunftslosigkeit. Sie verheißen nichts Gutes. Sie lähmen. Auf der anderen Seite möchte man etwas tun, etwas unternehmen, um wenigstens den eigenen Kindern das Überleben zu ermöglichen. Diese Lage des distanzierten Zeitgenossen zeichnet sich durch Ambiguität* aus. Man will, und man will nicht. Man ist den Dingen unendlich fern und möchte doch insgeheim jede kranke Tanne retten.
Welchen Ausweg gibt es aus dem schrecklichen Dilemma der Ambiguität?
Es gibt zwei Wege. Sie sind nicht objektiv, sondern nur subjektiv begehbar. Denn der Super-Paradigmawechsel hat sich als objektiv unmöglich erwiesen. Der Wandlungs- und Handlungsspielraum wird damit dem Subjekt zugeordnet. Das Subjekt wird zur Entscheidungsinstanz, denn die Staaten haben versagt.
Ambiguität wikipedia Mehrdeutigkeit
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Der erste Ausweg:
Man kann im Schwebezustand verharren und die Distanz zu einem Absolutum erhöhen. Und wenn unsere Welt zugrundegeht? Ich habe es ja gesagt, was kümmert mich das triste Resultat. Man kann — mit anderen Worten — pharaonengleichen Status beanspruchen und sich in einem selbstgeschaffenen Entrückungszustand vor den evolutionären Verbrechen verkriechen. Aus dieser Position spricht jedoch nicht die in den Dingen schwebende Distanz. Im Grunde spricht nur die Hilflosigkeit daraus. Man vergißt dabei, daß man nicht Pharao, sondern ein ganz gewöhnlicher Sterblicher ist, ein postmodernes Würstchen.
Der zweite Ausweg:
Allen Signalen zum Trotz, den spezieseigenen Untergang vor Augen kann man sich im unendlich Kleinen für ein Weiterleben dieser Spezies auf Zeit einsetzen. Im familiären Bereich gilt es, an die eigenen Kinder zu denken, denen man ein gutes Leben wünscht. Auch sie werden Kinder haben, denen es nicht schlechter gehen soll als ihren Eltern.
Man kann auch an sich selbst denken.
Zu Lebzeiten brauchen wir den Großen Exitus nicht zu befürchten. Das Ende läßt noch auf sich warten. Wir haben, ganz individuell, ausgesorgt.
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Aber haben wir vor uns selbst ausgesorgt?
Wie stehen wir vor uns da, wenn wir bekennen müssen: ich habe nichts getan? Auge in Auge mit dem absolut sicheren Untergang verbleibt dem ehrlichen Individuum nur die Wahl der Würde. Man akzeptiere den Untergang, doch man bestehe vor sich selbst, indem man alles tut, um Natur und Mensch zu retten.
Es gibt nicht mehr viel zu erledigen. Die großen Dinge sind getan. Die Rettung eines kleinen Feuchtbiotops, die Abwehr einer geplanten Autobahn, das Pflanzen eines Baumes — diese Bescheidenheit wird von uns nicht verlangt, sie ergibt sich zwangsläufig, wenn man sich und die Natur achtet.
Illusionen gebe man sich nicht hin. Die Situation, in der man agiert, bleibt grundlegend absurd.
Camus kommt zu neuen Ehren, Sartres Rationalismus hat ausgespielt. Einen eigentlichen Ausweg gibt es nicht. Das letzte verbliebene Quentchen Moral fordert vom Subjekt nicht ein Sollen, sondern erlaubt dem Menschen, sich selbst ein wenig zu wählen.
Vielleicht muß man die Nüchternheit im Angesicht des Unabänderlichen noch radikaler fassen. Es geht gar nicht mehr um die Natur, es geht lediglich um die nackte Selbstachtung.
Jonas hat sich um sie bemüht und ein Minimalprogramm aufgestellt: daß eine Menschheit sei. Er ist meiner Meinung nach gescheitert, weil auch dieses Minimum von uns nicht mehr eingelöst werden kann. Wir befinden uns in der unglücklichen Situation, sogar dieses Minimalprogramm reduzieren zu müssen.
Wir brauchen eine weltumspannende Moral. Mit den Weltreligionen schien sie in Reichweite gerückt. Was aus den Weltreligionen geworden ist, weiß man hinlänglich. Allein die vielen völkermordenden Exzesse etwa des Katholizismus oder des Islam genügen, um der Religion jede Glaubwürdigkeit abzusprechen. Eine philosophisch begründete Kritik erübrigt sich.
Das Ideal einer intersubjektiven Moral entschwindet auf Nimmerwiedersehn. Es gibt kein Recht mehr. Das Subjekt wird ganz auf sich selbst zurückgeworfen. Allein die individuelle, absurde Restmoral der Selbstachtung erlaubt uns, aus der erstarrten Untätigkeit auszubrechen und zu handeln. Diese armselige Restmoral kann man auch Heldenmoral nennen, da sie widersinnig Minimalakte vollbringt. Ebenso wäre der Begriff der Idiotenmoral angebracht.
Der in heiterer Gelassenheit handelnde Idiot wird zum Sinnbild einer - kurzlebigen - Zukunft. Sind nur noch Idioten fähig, heitere Hoffnungslosigkeit zu verinnerlichen und auszutragen?
Die Menschheit hat als Spezies vor allen anderen Spezies versagt. Wir haben uns in unserer todbringenden Dominanz so weit gebracht, daß aufrechten Individuen nur noch eines bleibt.
Ohne Illusionen zapfe man das letzte Kraftreservoir an, das Reservoir der Selbstachtung. Bald wird auch dieses Rinnsal versiegen.
Es ist bereits aller Tage Abend.
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Ende
detopia-2005:
Trost fällt mir auf die Schnelle auch nicht ein. Der Autor versucht es ja selbst, denn genau das ist das erklärte Ziel des Buches, schon im Titel. Man kann mit Christoph Lauterburg (1998) weiter-ver-arbeiten. Der bemüht sich ebenfalls um die gerechte Verarbeitung. Hoimar von Ditfurth, Ulrich Horstmann, Theo Löbsack und andere auch noch. "Aber jeder Kampf lohnt, damit das Restdasein im Kleinen erleichtert, damit der nächsten Generation, immerhin, das Überleben ermöglicht wird. Ein kleines Geschenk an die Kinder und vielleicht noch an die Kindeskinder." (S.97) "Man kann auch an sich selbst denken. Zu Lebzeiten brauchen wir den Großen Exitus nicht zu befürchten. Das Ende läßt noch auf sich warten. Wir haben, ganz individuell, ausgesorgt." (S.123)
Mein detopischer Dank an Doktor Fuller !