Teil 3 
Von Herbert Gruhl
1975

Die Planetarische
Wende

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Es wird eine umfassende Bewegung entstehen,
und die Massen werden begreifen, daß die
Welt begrenzt ist.  Sicco Mansholt

 3.1   Das Denken von den Grenzen her

225-242

Der Raumschiff-Schock

Was die Menschheit in diesen Jahren erfährt, wird bei ihr den größten Schock hervorrufen, der ihr in der gesamten bisherigen Geschichte widerfahren ist. Nicht mehr der Mensch bestimmt den Fortgang der Geschichte, wie er bisher glaubte, sondern die Grenzen dieses Planeten Erde legen alle Bedingungen fest für das, was hier noch möglich ist. »Zum ersten Mal in ihrer millionenjährigen Geschichte stehen die Menschen in ihrer Gesamtheit vor einer Gefahr auf Leben oder Tod.«(1)  wikipe  Kopernikanische_Wende

Wir haben kein entsprechendes Ereignis zum Vergleich, es sei denn die Kopernikanische Wende. Die Analogie zu diesem Einschnitt besteht jedoch nur formal. Die Entdeckung, daß sich die Erde um die Sonne drehte, hatte zwar erkenntnis­theoretische Bedeutung und war für die Astronomie bahnbrechend. Aber für das Leben des einzelnen wie für die Gesamtheit der Menschen blieb es völlig unwichtig, ob die Erde nun um die Sonne wandert oder umgekehrt. Es gibt viele Millionen Menschen, die wissen es heute noch nicht oder glauben es einfach nicht, daß die Erde um die Sonne kreist, ohne daß dies für ihren Alltag einen Unter­schied ergäbe. 

Die Ereignisse auf der Welt liefen weiter wie eh und je. Auch jetzt konnte noch der Grundsatz gelten: Der Mensch ist das Maß aller Dinge! Der Mensch sah nach wie vor nur sich selber und um sich nur das, was für ihn verwertbar war. Die Welt schien auch weiter unendliche Möglichkeiten bereitzuhalten. Schließlich wurden erst seit Kopernikus verschiedene Grenzen des Raumes und der Zeit überwunden, das Menschenleben verlängert und eine Fülle technischer Möglichkeiten eröffnet.

»Die zur Überwindung der natürlichen Widerstände gegen die Wachstumsprozesse eingesetzten technischen Mittel haben sich als so erfolgreich erwiesen, daß sich das Prinzip des Kampfes gegen Grenzen geradezu zu einem Kulturidol entwickelt hat und die Menschen nicht erlernten, Grenzen zu erkennen und mit ihnen zu leben. Diese Haltung wurde durch die offensichtlich überwältigende Größe der Erde und ihrer Rohstoffvorräte und die relative Winzigkeit der Menschen und ihrer Unternehmungen psychologisch verstärkt.«(2)

Um so mehr kommt das jähe Begreifen der Grenzen einem Sturz aus dem Himmel der Illusionen auf den harten Boden der Tatsachen gleich. Das anthropozentrische Weltbild bricht in Stücke. Der Fixpunkt ist nun ein dem Menschen entgegengesetzter.

Die jetzige totale Wendung bedeutet, daß der Mensch nicht mehr von seinem Standpunkt aus handeln kann, sondern von den Grenzen unserer Erde ausgehend denken und handeln muß. Wir nennen diese radikale Umkehr die Planetarische Wende.

Es steht nicht im menschlichen Belieben, diese Umkehr anzunehmen oder abzulehnen. Sie wird jedem aufgezwungen. Die Planetarische Wende bleibt keine Theorie, sondern hat ganz konkrete Folgen für das Leben eines jeden: für die Versorgung mit allen lebenswichtigen Gütern, für die Gesundheit und für die Länge seines Daseins. Wenn auch die Ursachenkette nicht immer zu übersehen ist, die Folgen wird dennoch jeder am eigenen Leibe spüren und erleiden, auch derjenige, welcher die Planetarische Wende nie begreifen wird. Ja, sie wird schließlich über das Fortbestehen der Menschheit überhaupt entscheiden.

Die Erkenntnis der Endlichkeit dieses Planeten, die zugleich ein Begreifen der Ohnmacht und Hilflosigkeit des Menschen ist, muß - total erfaßt - ein tiefes Erschrecken auslösen. Etwa so, wenn die Bürger einer mittelalterlichen Stadt des Morgens erwachten und erkannten, daß sie vom Feind eingeschlossen waren — ohne jede Aussicht auf Entsatz, wenngleich die gut besetzten Mauern noch unbegrenzte Zeit standhalten würden.

226


Was taten sie? Sie stellten die Bestände all ihrer Vorräte fest. Sie rechneten aus, wie lange sie damit normalerweise reichen würden und sie errechneten, wieviel länger sie bei allersparsamstem Verbrauch reichen könnten — und dafür entschieden sie sich.

Gewiß sind die Vorräte des Erdballs nicht so leicht zu ermitteln wie die einer mittelalterlichen Stadt. Wir haben in diesem Buch eine grobe Bilanz versucht, die von vielen noch angezweifelt werden mag. Doch ein Streit darum beträfe lediglich kleine Fristen; das lohnt nicht. Wenn sich einiges als günstiger erweisen sollte, dann ändert das wenig: letztlich ist unsere Lage aussichtslos. Der Planet kann niemals mit Entsatz rechnen, ja er kann nicht einmal - wie die Stadt - kapitulieren und auf die Gnade des Feindes hoffen.

In unserem technischen Zeitalter liegt der Vergleich mit dem Raumschiff nahe. Als erster hat ihn wohl der damalige Botschafter der USA, Adlai Stevenson, in seiner letzten Rede vor der UNO gebraucht:

»Wir alle reisen zusammen, sind Passagiere eines kleinen Raumschiffs, abhängig von seinen verletzlichen Vorräten an Luft und Boden; unsere Sicherheit ist seiner Sicherheit und seinem Frieden anvertraut; vor der Vernichtung sind wir lediglich durch die Sorgfalt, die Arbeit und, so meine ich, die Liebe geschützt, die wir unserem zerbrechlichen Fahrzeug schenken.«(3)  wikipe  Adlai_Ewing_Stevenson_junior  1900-1965

René Dubos knüpft daran die Überlegung: 

»Es wird nicht mehr lange dauern, dann sind alle Teile der Erdkugel kolonisiert und die Lieferung vieler Naturprodukte wird einen kritischen Stand erreichen. Sorgfältiges Haushalten, nicht Ausbeutung, wird dann der Schlüssel zum Überleben sein. Die Entwicklung von Stationen im Weltraum oder auf dem Meeresboden kann die Grenzen des menschlichen Lebens höchst unbedeutend verschieben. Der Mensch entstand auf der Erde, entwickelte sich unter ihrem Einfluß, wurde durch sie geformt und ist biologisch für immer an sie gebunden.«(4)

Nicolaus Sombart kommt zu dem gleichen Schluß: 

»Der Schritt von der hypothetisch-spekulativen zur effektiven Globalität war auch der Schritt aus der Welt der unbegrenzten Möglichkeiten in die endliche Welt — jenen <monde fini>, den Valéry, vielleicht als erster, mit Entsetzen signalisierte. Es gehört dazu, zu der neuen raumzeitlichen Struktur der Situation, das Gefühl, daß sie irreversibel und ohne Alternative ist. Ergriffen von dem <Prozeß>, können wir weder verharren noch zurück. Wir können aber auch nicht woanders hin. Wir sind auf Gedeih und Verderb an diesen winzigen Stern gekettet und müssen mit dieser unabänderlichen Tatsache fertig werden. Es gibt keine Ausweichmöglichkeiten, sondern nur den Willen, das Beste aus dieser fatalen Lage zu machen. — Planetarisierung heißt, daß die Menschheit total über ihren Planeten verfügt, gleichzeitig aber auch, daß sie ihm total anheimgegeben ist.«(5)

227/228

Die Erkenntnis, daß die Erde ein Raumschiff ist, hat zur Folge, daß man mit dem auskommen muß, was an Bord ist. Dieses Bild umreißt hinfort den Spielraum aller menschlichen Aktivitäten und damit das Maß an materieller Freiheit, das noch möglich ist. Die Wünsche des Menschen sind nichtig, wenn sie sich nicht innerhalb dieses Rahmens des noch Verfügbaren bewegen.

Aber alle Grundsätze, die sich die Menschen zurechtgezimmert haben, beruhen noch auf der Vorstellung der endlosen Welt, des »monde infini«. Diese Grundsätze finden wir in den Religionen, in den deklamatorischen Artikeln der Staatsverfassungen und neuerdings in den verschiedenen Menschenrechts­erklärungen der UNO.

Heute hat sich nicht nur der Erkenntnisstand, heute haben sich die Realitäten geändert. Karl Marx hatte den Philosophen vorgeworfen, daß sie sich nur bemüht hätten, die Welt verschieden zu interpretieren, daß es aber darauf ankäme, sie zu verändern.6) Inzwischen hat der Mensch die Welt tatsächlich verändert — und zwar so gründlich, daß ihm zu verändern nicht mehr viel übrigbleibt. 

Nach dem I. Weltkrieg sprach man von einer »Umwertung aller Werte«. Damals waren es nur die Werte, die verlorengegangen waren. Heute geht die Lebensgrundlage verloren. Darum ist eine radikale Bestandsaufnahme der übrig­gebliebenen Möglichkeiten die einzig wirklich dringende Aufgabe unserer Zeit. Dazu ist ein Beitrag zu leisten.

Es war klarzustellen, daß auf Dauer nur verbraucht werden kann, was jährlich wächst oder sich sonst irgendwie erneuert. Das, was fälschlicherweise »Wachstum« genannt wird, gründet sich aber auf die Art von Raubbau, die nur ein einziges Mal möglich ist. Die Verantwortung, welche die jetzige Generation trägt, ist ungeheuer. Dabei ist die Problematik bis heute längst noch nicht im vollen Umfang aufgedeckt. Es spricht für das Beharrungs­vermögen, aber nicht gerade für die Intelligenz der Menschen, daß sie erst neuerdings zu begreifen anfangen, daß die Erde endlich ist.

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Die Menschen streiten sich gegenwärtig noch darum, ob die Grenzen schon sichtbar sind oder nicht — und wer sie wegen seiner Kurzsichtigkeit nicht erkennen kann, folgert haarscharf, daß sie nicht vorhanden sind. Um es gleich zu sagen: Der größte Teil der Menschen, der hinten im Gedränge steht, wird sie niemals sehen. Der Inder, der von Tag zu Tag nur um sein nacktes Leben ringt, sieht zwar seinen Tod vor sich, aber nicht die Grenzen der Menschheit. (Soweit sein Tod ihn nicht schreckt, würden ihn allerdings auch die Grenzen nicht schrecken.) Aber wir, die wir die großen Pläne machen, wir sollten die Grenzen sehen, oder sind wir schon erblindet?

Bald wird es nicht mehr tragisch, sondern nur noch komisch erscheinen, wenn Menschen erklären, daß sie dieses und jenes haben »müssen«. Noch argumentieren sie gern, es sei »nicht menschenwürdig«, dieses und jenes entbehren zu sollen. Aber was ist das denn, »menschenwürdig«? Viele Bewohner Ostasiens betrachten ihr Leben als menschenwürdig, wenn sie täglich wenigstens eine Schale Reis haben. Für den Mitteleuropäer ist es sicherlich nur »menschenwürdig«, täglich mehrmals das zu essen, worauf er gerade Appetit hat, eine gut ausgestattete und geheizte Wohnung mit Fernseh- und anderen Geräten sowie ein Auto zu besitzen und jährlich mindestens eine Urlaubsreise zu unternehmen. Lebte demnach sein Großvater, der eine ganze Menge dieser Dinge noch nicht einmal erahnt, geschweige gesehen hatte, menschenunwürdig?

Man erkennt sehr schnell: die Menschenwürde kann niemals eine Frage des materiellen Besitzstandes sein. Der Anspruch auf Würde ist ein moralischer, der von dem Mitmenschen eine solche Behandlung erwartet, die jedem sein eigenes Dasein läßt. Dies ist auch der historische Ursprung des Wortes. Erst unsere materialistische Zeit, die alles in Geld umrechnet, hat daraus einen Anspruch auf »Lebensstandard« gemacht.

Wem gegenüber wollen die Menschen denn eigentlich einen materiellen »Anspruch« auf einen bestimmten Lebensstandard, auf eine Versorgung mit näher bezeichneten Gütern geltend machen? Wenn es die entsprechenden Natur- oder Rohstoffe auf der Erde nicht mehr gibt, dann ist der Anspruch genausoviel wert, wie es eine auf Deutsche Reichsmark lautende Banknote nach der Währungsreform von 1948 war. Wo nichts ist, hat selbst der Kaiser das Recht verloren, lautet eine alte Volksweisheit. Heute leben wir in einer Inflation der Ansprüche, die selbst die des Geldes übertrifft. Diesen Ansprüchen sehen sich heute die Regierungen aller Staaten gegenüber. Um an der Macht zu bleiben, versichern sie schleunigst, daß alle Ansprüche sehr berechtigt seien und auch erfüllt werden würden — und noch andere dazu!

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Es gibt inzwischen ganze Kataloge von Ansprüchen. Allein die UNO verspricht: 1. Das Recht auf Kinder; 2. das Recht auf Arbeit und freie Wahl des Arbeitsplatzes; 3. freie Wahl des Wohnortes. Die deutsche Bundesregierung will noch einen »Anspruch auf gesunde Umwelt« in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland aufnehmen. Wieder so ein geduldiges Papier, das ohne Deckung ausgestellt wird! Um eine Basis dafür zu schaffen, müßte zunächst einmal die »Pflicht eines jeden Bürgers, die Umwelt zu erhalten« grundgesetzlich verankert werden! Aber mit einer Pflicht könnte man ja Wähler verschrecken; mit einem Recht dagegen wird man ihnen eitel Freude bereiten.

Man muß die Befürchtung hegen, daß zwei Ideen, die größte Menschenmassen zur Gefolgschaft begeistert haben — nämlich die Lehre Christi und die des Dr. Marx — nur darum so erfolgreich waren, weil sie höchst freigebig im Verteilen von Ansprüchen waren: den Anspruch auf das Himmelreich verhießen die einen, den Anspruch auf ein friedliches Erdendasein im Überfluß versprachen die anderen.

Alle diese Ansprüche sind aus der Vorstellung einer Welt ohne Grenzen entstanden. Wer heute noch der Steigerung der Ansprüche das Wort redet, der arbeitet nicht nur auf eine Katastrophe, sondern auf die größtmögliche Katastrophe hin. Ihn kann man nur als blinden Fanatiker bezeichnen, dessen Fanatismus, wie jeder Fanatismus, zum Tode führt. Seine Ratschläge laufen im Grunde darauf hinaus, daß wir uns wie Tierpopulationen verhalten sollen. Wenn eine Tierpopulation günstige Lebensbedingungen vorfindet, dann vermehrt sie sich hemmungslos und frißt bedenkenlos bis zu dem Punkt, wo die Gegenkräfte sie überwältigen und weit unter den Normalzustand dezimieren.7)

Der Mensch ist physisch genauso wie andere Lebewesen konstituiert, und dennoch hat er für sich einen besonderen Status beansprucht und geglaubt, daß ihm dieser auch eingeräumt sei. Als ein Geschöpf dieser Erde jedoch bleibt er wie alle anderen irdischen Lebewesen den Gesetzen dieser Erde und damit den Grenzen des Planeten unterworfen. Die Frage stellt sich daher ganz hart: wie lange kann man die Befriedigung solcher Ansprüche sichern, die man sich selbst genehmigt hat? Wie lange man sie sichern will, das ist letztlich eine Frage der Verantwortlichkeit gegenüber den folgenden Generationen und somit eine Sache des Gewissens — oder der Gewissenlosigkeit. Die Menschen könnten sich für die freiwillige Anpassung entscheiden oder sie wenigstens versuchen.

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    Das Generationsgewissen    

Wieweit reicht das menschliche Gewissen? Die meisten Menschen denken nur an den heutigen Tag. In Meadows' »Grenzen des Wachstums« wird der Zentral­punkt jeder menschlichen Sorge in ein Koordinatensystem eingetragen,8) das wir hier, leicht verändert, übernehmen:

 

 

»Die Sorgen der meisten Menschen konzentrieren sich in der linken unteren Ecke; dieser Teil der Menschheit hat ein schweres Leben; er hat sich fast ausschließlich darum zu bemühen, sich und seine Familie über den nächsten Tag zu bringen. Andere wieder können über den Tag hinaus denken und handeln. Sie empfinden nicht nur eigene, sondern auch Lasten der Gemeinschaft, mit der sie sich identifizieren. Ihre Handlungsziele erstrecken sich über Monate und Jahre. 

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Die räumlichen und zeitlichen Gesichts­punkte, nach denen ein Mensch handelt, sind abhängig von der Dringlichkeit der Probleme, mit denen er sich konfrontiert sieht, von seiner persönlichen Erfahrung und von seiner Bildung. Die meisten Menschen haben ihre Probleme in einem ihnen naheliegenden Bereich gemeistert, ehe sie sich entfernteren Fragen zuwenden. Je größer der mit einem Problem verknüpfte räumliche und zeitliche Bereich ist, um so weniger Menschen befassen sich mit der Lösung eines solchen Problems.«9

 

Der einzige konkrete Ansatz, der Erfolg verspricht, liegt daher in der Sorge um die Zukunft der eigenen Kinder, die ja mit der Sorge um das eigene Alter verknüpft ist. Von daher besteht Hoffnung.10  

So gesehen lautet die Frage: was geht mehr gegen die Natur des Menschen, etwas von seinem heutigen Besitzstand aufzugeben oder die Kinder dem Chaos zu überlassen?  

Bisher hat noch kein politisches System und keine wie immer geartete Bewegung zugegeben, daß sie gegen die Interessen der Nachkommen handelt. Im Gegenteil, noch jede Bewegung hat bisher behauptet, für eine bessere Zukunft, für ein sorgen­freieres Dasein insbesondere der Kinder zu arbeiten, selbst wenn es eine Lüge war. Auch jetzt geben die Verantwortlichen keineswegs zu, daß sie auf Kosten der Zukunft handeln; sie haben sogar die Stirn zu behaupten, den künftigen Generationen werde es noch besser gehen.

Es kommt also darauf an, die bewußten und die unbewußten Lügen zu entlarven. Wie ungeheuer schwierig das sein wird, darüber machen wir uns keine Illusionen. In unserer zersplitterten Welt mit der aufgesplitterten Gedankenwelt in den Köpfen der Menschen hat es nichts so schwer wie die Wahrheit. Und hier kommt eine völlig neue Wahrheit, für die noch keine am eigenen Leibe erfahrenen Erlebnisse vorliegen. Noch ist sie »nur« der Erkenntnis entsprungen; allerdings läßt sie sich auch rechnerisch darstellen (sogar ohne Computer — allein durch Kopfrechnen).

Das ist wieder ein Vorteil dieser Wahrheit. Sie hat aber auch den weiteren ungeheuren Nachteil, daß es noch nie eine so unangenehme Wahrheit für alle gegeben hat. Sie kommt als Forderung auf uns zu, ohne etwas zu versprechen. Sie zerstört alle bisherigen Verkündigungen und stellt uns in eine beispiellose Entscheidungs­situation. »Zum ersten Mal, seit der Mensch überhaupt existiert, wird er herausgefordert, sich gegen das vom wirtschaftlichen und technologischen Standpunkt aus Machbare zu entscheiden und sich dafür einzusetzen, was seine Moral und seine Verantwortung für alle kommenden Generationen von ihm verlangen.«11

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Die Entscheidung, die heute noch gegen die große Mehrheit getroffen werden müßte, lautet: »Wir müssen heute bereits die Möglichkeit einer gezielten Senkung des Lebensstandards in den hoch­entwickelten Industrie­gesellschaften ins Auge fassen, um damit die plötzliche Katastrophe, welche die Quittung für unseren bisherigen Raubbau an der Zukunft wäre, zu verhindern.«12 Wenn auch, wie Klaus Müller fortfährt, der Kollaps schon vor dem Ende des Jahrhunderts droht, so stößt jedes Staatswesen doch so lange auf Unverständnis, wie die unmittelbare Erfahrung der lebensgefährlichen Situation noch nicht handgreiflich zu spüren ist. Michael Lohmann fragt entsprechend: »Und wer wollte annehmen, daß eine so abstrakte Idee wie die Verhinderung einer weiter entfernten größeren Katastrophe durch eine nahe große Katastrophe je die nötige Zahl von Anhängern fände?«13

Hier tritt der schwache Punkt unserer menschlichen Systeme zutage, der »unzureichende Zeithorizont«, von dem Emil Küng spricht: »Die Kritik der späteren Generation kümmert denjenigen wenig, der nur in der Gegenwart lebt und der zu seinen eigenen Lebzeiten möglichst viel verdienen und genießen möchte. Es bedarf infolgedessen einer Instanz, welche die Interessen der kommenden Geschlechter wahrt. Der Marktmechanismus ist dazu außerstande; nur die öffentliche Hand vermag diese Aufgabe zu erfüllen — falls ihr eigenes Denken und Handeln genügend zukunftsgerichtet ist.«14

Kann ein Staat künftige Erfordernisse zur Grundlage seines heutigen Handelns machen? Und kann er das je seinen Bürgern begreiflich machen?

Die Interessengruppe, um die es hier geht, ist im parlamentarischen Staat überhaupt nicht vertreten: die »Ungeborenen«. Selbst können sie ihre Interessen nicht vertreten. Wer tut es an ihrer Stelle? Die Regierung wäre dazu verpflichtet, auch die Parteien, die Tag und Nacht von der »Zukunft« sprechen. Die Parteien insbesondere, die das »ungeborene Leben« schützen wollen; denn wenn sie verhindern möchten, daß dieses im Mutterleib getötet wird, dann werden sie es doch wohl schützen müssen, wenn es geboren ist. Doch: »Ohne eine drastische Verschlechterung unseres eigenen Standards zugunsten unserer Kinder und Enkel ist eine Lösung nicht vorstellbar.«15)

Schon für den Umweltschutz allein gilt, was Bruno Frey feststellt: »Es bestehen (dynamische) externe Effekte zwischen den Generationen, denn der in einer bestimmten Periode lebenden Bevölkerung kommt nur ein Teil des Nutzens aus der Umwelt­politik zugute. Die hieraus resultierende Tendenz einer zu starken Schädigung der Umwelt zu Lasten künftiger Generationen muß durch den Staat ausgeglichen werden, wenn er sich auch als deren Vertreter versteht.«16)

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Dies gilt um so mehr für den Rohstoff- und Energieverbrauch, hier kommt bei einer neuen Politik der heute lebenden Bevölkerung überhaupt nichts »zugute«, auch nicht teilweise; im Gegenteil, hier muß ihr etwas weggenommen werden!17

Wenngleich wir es als die Aufgabe des Staates erkannt haben, für die Zukunft zu sorgen, müssen wir doch fragen, ob er sie jemals erfüllen kann. Beweisen konnte er es bisher nicht, denn eine Aufgabe dieser Art und solchen Ausmaßes war ihm niemals gestellt. Heute ist sie nicht nur gestellt, sie fordert auch sofortige Inangriffnahme. Die Hauptschwierigkeit liegt darin, daß die »unmittelbare sinnliche Erfahrung der globalen Gefahr« gerade in den Gesellschaften fehlt, »von denen die ernsthafteste Gefahr für den Fortbestand der Spezies Mensch ausgeht. Gerade die Gesellschaften mit der größten Ausbeutungsintensität (ob sie nun rechts oder links vom Eisernen Vorhang liegen) können sich einer Prosperität nie erlebten Ausmaßes erfreuen.«18

Eine Regierung, die vorausschauend handeln wollte, würde vermutlich nicht lange im Amt bleiben. Darum muß dafür gesorgt werden, daß »zwischen den Einsichten der öffentlichen Meinung und den systemnotwendigen Erfordernissen des Überlebens der Gesamtgesellschaft auf unserem Erdball keine zu große Lücke entsteht«.19 Die schweigende Mehrheit will aber in allen Nationen die Wahrheit gar nicht wissen, weil die Konsequenzen höchst unangenehm wären.20 Darum folgert Klaus Müller

»Unter den gegenwärtigen Umständen kann Politik nur darin bestehen, entweder selbst die Augen vor den zentralen Problemen und ihrem Ausmaß zu verschließen oder aber die Augen zu öffnen und dann sehenden Blicks dem Bürger nicht die Wahrheit zu sagen.«21

Die Menschen ändern ihre Einstellung nur unter dem Druck der Ereignisse. Ein Beispiel: Was wäre wohl geschehen, wenn die deutsche Bundesregierung Ende 1973 ein Gesetz vorgelegt hätte, wonach das Steueraufkommen für 1974 um 20 Milliarden DM erhöht werden müßte? Sie wäre für wahnsinnig erklärt worden und hätte keinen Tag länger im Amt bleiben können. Genau diesen Betrag von 20 Milliarden DM zahlten aber die Bewohner der Bundesrepublik Deutschland 1974 mehr für Erdöl und Erdöl­erzeugnisse — fast ohne zu murren.

Eine höhere Gewalt kann bewirken, was die Vernunft nicht bewirken kann. Diese Gewalt wirkt aber dann sofort und rücksichtslos, ohne daß eine Ausweichmöglichkeit bleibt. Die vorausschauende Vernunft müßte eine solche Mächtigkeit entwickeln, daß sie sich in wirksame Handlungen umsetzen ließe. Aus politischer Erfahrung ist allerdings zu sagen, daß die Vernunft leider ein schwacher Bundesgenosse ist. Trotzdem werden einige es wagen, an die Verantwortung und an die Vernunft zu appellieren. Wie könnten ihre Vorschläge aussehen?

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     Das Ende des »freien« Marktes    

 

Wenn versucht werden soll, die Sicherung der Lebensmöglichkeiten wenigstens der nächsten Generationen in unser heutiges Handeln einzubeziehen, wie müßte dieses dann beschaffen sein?

In der Marktwirtschaft regeln Angebot und Nachfrage den Preis. Voraussetzung jedes Marktes ist aber, daß ein immer wieder neues Angebot und eine stets erneute Nachfrage vorhanden sind. Fällt eine der beiden Seiten weg, dann gibt es keinen Markt mehr. Nun braucht man sich um die Nachfrage wahrlich keine Sorgen zu machen, wenn die Erdbevölkerung um Milliarden zunimmt. Aber die unaufhörliche Erneuerung des Angebots ist nur bei dem Teil (mit gewissen Schwankungen) sicher, den die Natur (ohne künstliche Nachhilfe) jährlich liefert. Der Vorrat der einmaligen Bodenschätze wird dagegen immer geringer.

Auf welche Weise könnte der Verbrauch der erschöpflichen Bodenschätze stark verringert oder zunächst wenigstens der Mehrverbrauch abgestellt werden? Kann der Marktpreis schon regulierend wirksam werden, wenn die Knappheit erst Jahre später zu erwarten ist? Der Preis müßte dann den Verbrauch schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt so stark reduzieren, daß immer und immer noch etwas von dem begrenzt vorhandenen Rohstoff übrigbliebe — schon rein mathematisch ein unlösbares Problem.

Der Preismechanismus kann hier jedoch überhaupt nicht funktionieren — aus mehreren Gründen.

1. Zunächst einmal haben die Rohstoffe gar keinen Preis, wie in dem Abschnitt »Die einmaligen Bodenschätze sind umsonst« festgestellt wurde; darum kann er auch nicht steigen. Ein solcher Preis könnte aber geschaffen werden.

2. Marktpreise reagieren darauf, ob ein betreffender Stoff im Augenblick einmal knapper, einmal reichlicher angeboten oder nachgefragt wird. Ein Marktpreis entsteht jedoch nie im Hinblick darauf, wie knapp oder reichlich eine Ware in einigen Jahren sein wird.

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(Ursprünglich lag dem Marktpreis eine gute oder schlechte Ernte zugrunde.) Es gibt keine denkbare Theorie dafür, wie sich für ein Verbrauchsgut, das es später einmal nicht mehr geben wird, ein Marktpreis bilden könnte. Eine, wenn auch entfernte Analogie besteht zu den in Einzelexemplaren vorhandenen Originalkunstwerken. Ein Herrenbildnis von Frans Hals wechselte im Jahre 1969 für zwölf Millionen DM den Besitzer, um ein Beispiel zu nennen. Bedenkt man, daß es sich um ein Bild handelt, von dem eine Farbfotographie nur Pfennige kostet, kann man die Höhe des Preises als nahezu unendlich bezeichnen. Zudem muß berücksichtigt werden, daß es sich dabei weder um ein lebenswichtiges noch um ein Verbrauchsgut handelt.

Eine weitere Folgerung wäre die: Wenn nun ein Besitzer einen solchen Frans Hals besitzt und diesen gar nicht verkaufen will, dann gibt es für dieses Bild weder einen Markt noch einen Preis.

Diese Situation wird bei immer knapper werdenden Rohstoffen eintreten: sie kommen nicht mehr auf den Markt, die derzeitigen Besitzer behalten sie selbst.

 

3. Selbst wo ein Preis willkürlich festgesetzt werden könnte, weil keine Konkurrenz vorhanden ist, da würde ihn der Besitzer so festsetzen, wie das seinen heutigen Interessen entspräche. Was im Interesse künftiger Generationen liegen könnte, wird er in seine Überlegungen nie einbeziehen. Denn: »Die Vorsorge für die Zukunft tritt ..... in keiner Weise in den Kalkulationshorizont des Besitzers ein.«22 Der Einwand, er könnte doch an seine eigenen Nachkommen denken, ist nicht stichhaltig, denn für diese kann er mit dem Verkaufserlös auch anderweitig sorgen. Nur gegenwärtige Eigeninteressen sind auf dem Markt wirksam — und Adam Smith wie alle seine Nachfolger behaupten ja auch, daß dies das einzig Richtige sei.

 

Auf die Preise werden wir also nicht warten können. Wenn sich die Knappheit der Gesamtvorräte erst über den Marktpreis ankündigt, dann sind die letzten Jahre eines Rohstoffes angebrochen. Dann wird auch ein nach unendlich tendierender Preis keine Wende mehr bringen. Der Verbrauch hat dann eine Geschwindigkeit erreicht, bei der alle Bremsversuche aussichtslos bleiben. Ein Rohstoff, der bei gleichbleibendem Verbrauch ein ganzes Jahrtausend reichen würde, ist bei jährlichen Steigerungsraten von nur drei Prozent schon in 117 Jahren aufgebraucht. Wir haben jedoch im letzten Jahrzehnt den Verbrauch der Rohstoffe um 6% jährlich gesteigert. Dies führt dazu, daß die gleiche Menge nicht in 1000, sondern in 71 Jahren erschöpft ist. Beim Erdölverbrauch betrugen die Steigerungsraten der letzten Jahre (bis 1973) sogar 7-8 %.

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Von den Kräften des Marktes ist aufgrund der ihnen innewohnenden Gesetzmäßigkeiten nicht zu erwarten, daß dort Zukunfts­überlegungen jemals eine Rolle spielen werden.23 Das heißt, daß die Probleme einer planetarischen Wirtschaft mit marktwirtschaftlichen Mitteln nicht mehr zu lösen sind. Hier müssen politische Instanzen die Verantwortung und die Entscheidung übernehmen. Darum ist es kein Wunder, daß es zunächst weitblickende Regierungen waren, die beschlossen, ihren Reichtum an Erdöl langsamer auszubeuten, damit die folgenden Generationen ihrer Völker auch noch eine Lebensgrundlage hätten. Aber die Drosselung der Ölförderung über den Preis erwies sich nicht als besonders wirksam; denn die Abnehmer waren sofort bereit, auch den vierfachen Preis zu bezahlen — und der Verbrauch blieb etwa auf gleicher Höhe (allerdings unterblieb die Steigerung). Im übrigen geht in Europa alles fröhlich weiter — wie zuvor!

Dieses erste Großexperiment einer Bewertung der Rohstoffe hatte noch zwei aufschlußreiche Nebenerschein­ungen. 1. Der größte Teil der Weltöffentlichkeit glaubt den Erdölländern nicht, daß sie ihre Förderung senken, sondern lediglich, daß sie höhere Preise erzwingen wollten. (So gering ist bisher noch das Bewußtsein von der Begrenztheit unserer Rohstoff- und Energievorräte.) 2. Offensichtlich fällt es den Erdölländern nun selbst schwer, ihre Fördermengen einzuschränken, wo sie doch jetzt so verlockend hohe Preise dafür erhalten.

Dieser Vorgang zeigt, daß eine Steuerung über den Preis nur begrenzt wirksam ist. Eine Verteuerung kann sogar ein Anreiz zur verstärkten Ausbeutung der Rohstoffvorkommen sein, da nun das Geschäft für die beteiligten Unternehmen weitaus lukrativer wird! Darüber hat Roger Naill in bezug auf die Versorgung der USA mit Erdgas interessante Untersuchungsergebnisse vorgelegt.24

Wie kann aber eine Instanz, die den zukünftigen Generationen verpflichtet ist, das Problem lösen und den Verbrauch anderweitig steuern? Bisher haben die Regierungen die Ausbeutung mit allen Mitteln gefördert. Jetzt müssen sie das Gegenteil tun! Sie müssen Mittel finden, den Verbrauch zu drosseln.

Eine Möglichkeit wäre die Erhebung einer steuerähnlichen Abgabe auf die abgebauten Grundstoffmengen. Diese könnten auch zur Finanzierung des Staatshaushalts verwendet werden. Der Staat hat ja früher auch die Grundsteuer von den Landwirten erhoben und seine Aufgaben weitgehend damit finanziert. Dies erschien sogar sehr gerecht, denn der Landwirt hatte für die Steuer das Recht auf jährliche Ernten, deren Ertrag er durch eigene Arbeit verbessern konnte.

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Die Grundsteuer sank in den Industrieländern inzwischen zur Bedeutungs­losigkeit herab, weil die Landwirt­schaft gewaltig ins Hintertreffen geriet und die Steuern zu Recht immer mehr von der übrigen Wirtschaft erhoben wurden. Hier erfolgte aber keine Besteuerung der Grundstoffe, was etwa der Grundsteuer entsprochen hätte, sondern des Umsatzes und der erzielten Betriebsgewinne sowie der Arbeitsentgelte. Der Anteil der Grundsteuer an den Gesamtsteuereinnahmen war im 19. Jahrhundert der entscheidende, er betrug im Deutschen Reich 1913 immer noch 10,8 %, 1953 in der Bundesrepublik Deutschland 3,5 % und 1973 1,47 %, aber davon entfallen nur 0,18 % auf landwirtschaftlich genutzte Grundstücke — also fast Null.

Angenommen, die Staaten würden ihre Einnahmen vorwiegend aus dem Verkauf von Rohstoffen beziehen, dann könnte dies natürlich erst recht dazu führen, daß sie deren Abbau vorantrieben, um ihre Einnahmen zu erhöhen. Dann wäre gerade der gegenteilige Effekt erzielt. Positiv wäre allerdings dabei, daß auf diese Weise jedem Staat klar würde, welche Reichtümer er wirklich beherbergt, und wie sich diese durch den Abbau vermindern. Was heute nur statistische Zahlen sind, wären dann immerhin finanzielle Richtwerte. Ferner würde die dringend notwendige Wiederverwendung (Recycling) des Altmaterials lohnend werden.

Rohstoffarme Länder hätten allerdings Schwierigkeiten, ihr Staatswesen mit den Abbaugebühren zu unterhalten. Zusätzlich hätten sie für importierte Rohstoffe einen bedeutend höheren Preis zu zahlen. Aber auch das wäre immerhin ein realistisches Kennzeichen für die prekäre Lage oder die Armut, in der sie sich in Wirklichkeit jetzt schon befinden.

Die rohstoffreichen Länder dagegen würden plötzlich über große Einnahmen verfügen, manche mehr, als sie zur Unterhaltung ihres Staatsapparats brauchten. Dann würde auch dieses neugeschöpfte Kapital Anlage­möglichkeiten suchen — mit den gleichen Folgen: einer verstärkten Ausbeutung der Erde. Dies ist die Situation, in der die Erdölländer sich bereits heute befinden.

An ihrem Beispiel werden bereits die Probleme sichtbar, die dabei entstehen. Was wird aus dem Geld, das hier aufgrund der Preisfestsetzung geschöpft wird? Diese Geldmittel müssen wieder investiert werden, was zwangsläufig zur Erhöhung der Ausbeutung der Erde an anderen Stellen führen muß. Die arabischen Erdölstaaten werden bis 1980 überschüssige Gelder in Höhe von 650 Mrd. $ und bis 1985 in Höhe von 1200 Mrd. $ zur Verfügung haben.25

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Sie müssen damit neue Industrien aufbauen oder bereits vorhandene aufkaufen, was auf das gleiche hinaus­läuft; denn dann bauen eben die bisherigen Eigentümer mit dem erhaltenen Geld neue Industrien auf.

Man sieht, selbst eine hohe finanzielle Belastung der Grundstoffe führt nicht zu dem Ziel, die Bodenschätze möglichst lange zu bewahren. Denn es sammeln sich große Beträge an, die ihrerseits nun ungewollt neue Ausbeutungswellen in Gang setzen. Dies ergibt sich auch aus dem festgestellten Sachverhalt, daß die Grundstoffe »Importe« sind, die von der Wirtschaft aus einem metaökonomischen Bereich eingeführt werden. Ihre echte Bezahlung müßte daher in einer Art Tributpflicht an den Schöpfer bestehen, damit die Kaufsummen nicht wieder in den Wirtschaftskreislauf zurückfließen. Da nun kein Schöpfer persönlich greifbar ist, der das Geld in Empfang nehmen kann, könnte man sich damit helfen, daß man diese Summen vernichtet!

Dies wäre sicher ein höchst lehrreicher Vorgang: um den Betrag des jährlich vernichteten Geldes wäre der Erdball in der Tat ärmer geworden, da dem eine Verringerung an Bodenschätzen entspräche. Abgesehen davon, daß auf diese Weise eines Tages kein Geld mehr in der Welt wäre — in unserer Wirtschaftsordnung hätte diese Vernichtung zur Folge, daß die restlichen umlaufenden Zahlungsmittel ständig im Wert entsprechend steigen würden. Damit würde die eigentliche Absicht ebenfalls zunichte gemacht; allerdings auch wieder eine positive Nebenwirkung erzielt: ein jeder wüßte, im nächsten Jahr bekomme ich mehr für mein Geld. Dies würde das Gegenteil des heutigen Verhaltens hervorrufen; statt das Geld möglichst schnell auszugeben, weil es an Wert sinkt, würde es zurückgehalten, weil es im Wert steigt.

Warum es zu einer solchen Regelung nicht kommen kann, liegt auf der Hand. Die Besitzer der Bodenschätze werden sagen: Diese gehören nicht dem Himmel, sondern uns! Oder auch: Es war eine der großen Weisheiten Allahs, daß er uns seinerzeit dieses Land gegeben hat. Jahrtausendelang war es nur Wüste; Allah aber wußte, daß darunter kostbares Öl lag, was uns reicher machen wird als die ganze übrige Welt. Sollen wir Wüstensöhne nun auf die Geschenke des großen Allah verzichten, während die Europäer jahrhundertelang alle ihre Vorteile genutzt haben?

Wir kommen zu dem Ergebnis, daß sich mit einmaligen Bodenschätzen eben kein dauerhaftes Wirtschafts­system auf diesem Planeten errichten läßt. Alle finanzpolitischen Lösungen haben folgende positiven Wirkungen:

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1. Durch die Verteuerung der Grundstoffe wird erstmals die Tatsache deutlich, daß hier einmalige Werte vernichtet werden.
2. Die Verteuerung bremst den Verbrauch.
3. Die Wiederverwendung aller Abfallstoffe wird lohnend.

Damit wird zwar Zeit gewonnen, aber das Problem nicht gelöst. Wenn sich ein Volk seine Zukunft auch nur auf bestimmte Zeit sichern will, dann hilft nur die rigorose Einteilung durch Rationierung. Hier gilt das gleiche wie zu Kriegszeiten: Je früher man mit der Rationierung anfängt, um so länger reichen die Vorräte; je später man beginnt, um so kleiner werden die Rationen sein. 

Um dafür eine verläßliche Basis zu haben, müßte natürlich auch die Bevölkerung konstant gehalten werden können oder noch besser: vermindert werden. Die dabei schon aufgetauchten Schwierigkeiten der Vorausplanung gelten zum großen Teil auch für die Drosselung des Verbrauchs der Grundstoffe. Doch könnte deren technische Durchsetzung sehr viel leichter zu verwirklichen und unter Kontrolle zu halten sein. Hier hat natürlich eine Planwirtschaft von vornherein mehr Instrumente, die Grundstoffe ganz knapp zu kontingentieren.

Aber selbst mit dem Gelingen der Maßnahmen wäre eine Verlängerung der Vorräte um Jahrzehnte, vielleicht um einige Jahr­hunderte, nie aber um Jahrtausende zu erreichen. Damit wäre in einer gar nicht fernen Zukunft die Erschöpfung des künstlichen Kreislaufs dennoch unvermeidlich. Dies ist auch gar nicht anders denkbar, wenn in die Wirtschaft etwas von außerhalb, gleichsam aus einem metaökonomischen Bereich, eingeführt wird, womit sich daher nicht dauerhaft kalkulieren läßt. Hier handelt es sich eben um etwas völlig anderes als um Naturproduktionen. Deren Ergebnis kann bezahlt werden, denn sie erfolgt im nächsten Jahr aufs neue. Ihr Markt ist unerschöpflich, weil immer neuer Nachschub kommt. Die Grundstoffe dagegen versiegen — und damit ist die Marktwirtschaft genauso beendet wie die Planwirtschaft. Die Theoretiker können sich dann noch lange darüber streiten, welche die bessere war.

Das Problem ist noch unlösbar; doch ist es jetzt immerhin als Problem erkannt. Darum werden wahrscheinlich beide Wirtschafts­formen, die freie und die geplante, nicht mehr wie gehabt weiterwirtschaften. Sie werden die Entwicklung nach Möglichkeit zu steuern suchen. Die Araber sind die ersten, die den Versuch machen, wenn man nicht gewisse Erscheinungen in der kommunistischen Welt selbst als solche Versuche ansieht. Doch selbst solche Versuche haben einen totalen Wandel der menschlichen Wirtschafts­gesinnung zur Voraussetzung.

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Da das Ziel darin besteht, auch künftigen Generationen noch Rohstoffe zu erhalten, kommt dem Faktor Zeit die entscheidende Rolle bei jeder Bewertung zu. Für welche Zeit soll der Vorrat reichen? Eigentlich für immer! Dann darf der Bestand überhaupt nicht angegriffen werden. Wenn man sich dazu entschlösse, wäre die Frage der Bewertung erledigt; der Vorrat ist dann nämlich wieder wirtschaftlich wertlos. Eine Frist müßte darum gesetzt werden; aber soll diese nun 100, 1000 oder 100.000 Jahre betragen? Das sind 3, 30 oder 3000 Generationen. Der Menschheit - oder einem Volk - kann es sicher nicht gleichgültig sein, ob ein lebenswichtiger Rohstoff den heute geborenen Kindern noch zur Verfügung steht oder nicht. Er sollte demnach schon 70 Jahre reichen. Was tut aber bereits die zweite Generation? Wollen wir diese mittellos auf der Erde zurücklassen? Die Vorräte müssen also »solange wie irgend möglich« reichen; aber was heißt das — und was dann? Wir haben keine solide Grundlage, wir tasten im Ungewissen.

Aus diesen Überlegungen ergibt sich zusammengefaßt eines deutlich: Nur bei einer ganz verantwortungs­losen Haltung der gerade Lebenden kann ein Grundstoff als »freies Gut« betrachtet werden, das »umsonst« zur Verfügung steht. Und dennoch verhält sich die Menschheit genau so! Sie verhält sich in der Praxis so, indem sie die Schätze von Jahrmillionen in wenigen Jahren verfeuert. Und sie verhält sich in der Wirtschaftstheorie so, indem sie vorhandene, aber noch nicht abgebaute Rohstoffe so veranschlagte, als hätten sie keinen Wert.

Die Nichtbewertung der Rohstoffe und der fossilen Energievorräte hat zu dem bisherigen Überangebot und damit zu sorglosem Verbrauch geführt. Um so schneller wird dieses Überangebot in den nächsten Jahren in ein Unterangebot umschlagen. Beim Erdöl war das 1973 bereits der Fall. Und damit ist das erste weltgeschichtliche Ereignis der Planetarischen Wende bereits eingetreten. Dieses war peinlich für alle Ökonomen, die das aufgrund ihrer falschen Theorien nicht voraussahen und nun auch noch nicht begreifen können. Es ist aber auch peinlich für die Politiker der Industriestaaten, die den Ökonomen darin vertraut hatten, daß nur Kapital, Arbeit und Wissen zum Wirtschaften nötig seien. Dafür müssen sie nun als Bittsteller in Sachen Rohstoffe durch die Welt reisen, ohne daß sie dabei viel Aussicht auf Erfolg hätten. Die Abhängigkeitsverhältnisse kehren sich um.

Heute erfolgt eine große Umschichtung in der Welt: zwischen den güterproduzierenden und den rohstoff­besitzenden Völkern. Die letzteren werden jetzt immer reicher und die ersteren immer ärmer. Waren bisher die Besitzer der Produktionsstätten auch Besitzer oder Mitbesitzer der Lagerstätten, so werden in Zukunft die Besitzer der Lagerstätten Besitzer oder Mitbesitzer der Produktionsstätten sein.

Nun könnten sich die Industrieländer durch Gesetze davor schützen, daß ihre Industrie in die Hände der Rohstofflieferanten übergeht. Dann täten sie das, was der Ostblock schon immer tut: sich abschließen. Die Voraus­setzungen für eine solche Politik sind aber, daß man sich erstens mit einem geringeren Lebens­standard begnügt und/oder zweitens eine eigene Rohstoffbasis hat. Wer zum ersten nicht bereit ist und das zweite nicht hat, der wird künftig für die Rohstoff­lieferanten schuften und ihnen auch gestatten müssen, für ihre Rohstofferlöse Produktionsstätten einzukaufen. Die Länder, die sich weigern, bekommen einfach keine Rohstoffe mehr. Es werden immer genug Völker da sein, die den Rohstofflieferanten die Hand lecken, wahrscheinlich alle Industrie­völker, da sie ja auf ihren Lebensstandard nicht verzichten wollen. 

Der logische Schluß lautet: Hoher Lebensstandard bei fehlender eigener Grundstoff­basis macht unfrei.

Die Europäer werden bald wehmütig an die Zeiten zurückdenken, als sie sich noch aus ihren Kolonien einfach holen konnten, was sie brauchten. Das heißt, soviel haben sie gar nicht geholt. Einmal brauchten sie damals längst nicht die Mengen und zum anderen hatten sie ja seinerzeit noch im eigenen Land Bodenschätze, die sie viel billiger und bequemer ausbeuten konnten. Deren Abbau konnte ihnen gar nicht schnell genug gehen; er wurde vom Staat sogar subventioniert. Darum sind sie nun leider verbraucht. 

Wohl dem, der noch etwas übrigbehalten hat! Aber auch die Länder, die heute noch große Bodenschätze besitzen, werden damit nur begrenzte Zeit reichen, dann sind sie genauso am Ende.  

Wie war es aber möglich, daß unser Planet in eine solch hoffnungslose Lage geraten konnte? 

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Herbert Gruhl   Ein Planet wird geplündert   1975