Herbert Gruhl
Der
atomare
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1986 130+83 Seiten detopia Start Gruhl |
»Herbert
Gruhl hat die Katastrophe von Tschernobyl Christian Schütze in der süddeutschen Zeitung
Audio 2006: Atom und Klima ("Kleiner Atomkrieg") Audio 2019: Atom und Klima - update
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Inhalt
Vorwort
1988 zur
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1 Tschernobyl: Verlorene Schwarze Erde und unsichtbare Wolken (11) 2 Mitteleuropa evakuieren? (24) 3 Was passiert im Kriegsfall? (30) 4 Zwei Super-Atomminen: Schneller Brüter und WA-Anlagen (44) 5 Ein »Faustischer Pakt«: Strom aus dem Höllenfeuer (59) 6 Die Verantwortungslosigkeit der Verantwortlichen (65) 7 Strahlen und Gifte (75) 8 Eine Irrlehre als Ursache des Wahnsinns (88) 9 Eine vergebliche Mahnung (99) 10 Besinnung auf Sparsamkeit (108) 11 Der Ausstieg ist möglich (118) 12 Umkehr zum Leben (Schlusswort) (123) Anhang:
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Radioaktivität – das unheimliche Langzeitrisiko (133) |
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Die Verbindung technischer und physikalischer Argumente mit grundlegender
Kritik an der Wirtschaftswachstumsideologie |
Verlagstext: Die Verbindung technischer und physikalischer Argumente mit grundlegender Kritik an der Wirtschaftswachstumsideologie hebt dieses Buch von anderen atom-kritischen Veröffentlichungen ab. Dabei beläßt es der Autor nicht bei der Kritik an den Verantwortlichen, sondern führt auch realistische Maßnahmen zum Ausstieg aus der Atomenergie auf. Dies ist ein beunruhigendes Buch, ein Buch, das schonungslos aufklärt, vor allem aber ein notwendiges Buch. Tschernobyl – der erste Super-GAU der jungen Atom-Ära. Dem Schock folgte die Entwarnung. Dem will dieses Buch entgegenwirken. Herbert Gruhl, einer der konsequentesten und informiertesten Gegner der Atomkraft zieht die Bilanz aus der Katastrophe. Er faßt die vergangenen Ereignisse zusammen und blickt in die Zukunft. Schonungslos analysiert er die »deutsche Atomlage«, die zu erwartenden Ereignisse in Risiko- und Katastrophenfallen. Er entlarvt die Stellungnahmen von Kraftwerksbetreibern und Politikern als Beschwichtigungsversuche, und er hofft, doch noch eine Umkehr zu bewirken. |
Vorwort 1988 zur Taschenbuchausgabe
7-9
Am 26. April des Jahres 1986 ist in Tschernobyl etwas passiert, das theoretisch nicht hätte geschehen dürfen. Wer aber nach dem europaweiten Schock jenes Sommers einen grundlegenden Wandel in der Einstellung der Menschen und ihrer Regierungen erwartet hatte, sieht sich längst getäuscht. Nur die Argumentation für die Kernkraftwerke hat sich in unglaublicher Weise umgekehrt. Während zweier Jahrzehnte haben wir uns stets mit den Gefahren im Nahbereich der Werke beschäftigt, denn nur dem Umkreis von dreißig Kilometern galt die Aufmerksamkeit: Meßanlagen, Bewachung, Alarmplanung, Ausgabe von Jodtabletten und Evakuierung der Bevölkerung. Darüber hinausgehende Entfernungen schienen nicht beachtenswert.
Tschernobyl bewies für die Umgebung eines Atomkraftwerkes zweierlei: daß weite Gebiete unbewohnbar werden und daß eine planmäßige Schnellevakuierung nicht einmal in derart schwach besiedelten Gebieten wie denen der Ukraine funktioniert. Tschernobyl bescherte aber auch die neue Erkenntnis, daß die Gefährdung aller lebenden Wesen selbst bei einem Radius von 1000 Kilometern noch nicht endet!
Daraus wird nun nicht etwa die Schlußfolgerung gezogen: Demnach ist alles viel schrecklicher, als es die Atomgegner zuvor an die Wand gemalt hatten – nein! Ein perverses Denken führt zu dem Schluß: Da uns offensichtlich Katastrophen selbst über Tausende von Kilometern gefährlich werden können, brauchen wir die unmittelbare Gefahr vor der Haustür nicht mehr zu beachten! Die fatalistische Redensart lautet: „Es hilft nichts, unsere eigenen Werke stillzulegen, wenn andere Länder die ihren weiter betreiben."(!)
Über diesen Kurzschluß freuen sich natürlich die interessierten Industrien und die Regierungen ungemein. Dagegen beweist doch gerade die nach amtlichen sowjetischen Angaben „nie mehr bewohnbare" Umgebung, welchen Unterschied es macht, ob man 30 oder 300 Kilometer vom Ort des Geschehens entfernt wohnt.
Und dabei war Tschernobyl - atomar betrachtet - eine relativ kleine Katastrophe. Denn nur drei bis sieben Prozent des radioaktiven Potentials wurden durch die schwache Explosion in die Atmosphäre geschleudert. Der amerikanische Wissenschaftler Richard Webb beweist aufgrund jahrelanger Forschungen, daß die stabileren westlichen Reaktoren erst bei einem entsprechend höheren Druck explodieren, dafür aber weitaus größere Mengen ihres Inhalts in die Luft schleudern würden!
Daß eine solche Katastrophe geschehen könne, leugnen inzwischen die Verteidiger der Atomkraftwerke nicht mehr. Sie haben dafür einen neuen Begriff in die deutsche Sprache eingeführt, und der heißt "Restrisiko". Der "Rest" ist mit der Vorstellung eines belanglosen Überbleibsels verknüpft, über das doch niemand beunruhigt zu sein braucht. Aber gerade in diesem verharmlosenden Begriff "Restrisiko" verbirgt sich nichts geringeres als die Apokalypse. Da gibt es jedoch Politiker – und nicht wenige davon kommen aus "christlichen" Parteien –, die meinen, eben dieses "Restrisiko" sei "ethisch zu verantworten"! Sie sind bereit, Millionen Menschen über die Grenzen der Länder und der Generationen hinaus diesem Risiko auszusetzen. Sie halten sich für ermächtigt, "die Schöpfung" aufs Spiel zu setzen. Und das begründen sie mit der Behauptung, wir, in den Spitzenländern des materiellen Wohlstandes, hätten immer noch nicht genug davon!
Den Menschen stehen am Ende des zweiten Jahrtausend nach Christi drei Wege des Selbstmords offen: Der schnellste und radikalste ist der Atomkrieg; der schleichendere, aber ebenfalls unfehlbare Weg endet mit der Zerstörung der natürlichen Umwelt; zwischen diesen Möglichkeiten gibt es noch die dritte einer friedlichen radioaktiv-chemischen Verseuchung der gesamten Natur, die zeitlich unbestimmbar durch einige außer Kontrolle geratene atomare Anlagen herbeigeführt werden kann.
Diesen dritten Weg auch weiterhin zu riskieren, beschlossen die Vereinten Nationen einstimmig am 12. November 1986; und damit marschieren sie auf ihrem einmal eingeschlagenen Weg weiter, so, als gäbe es keinen Ausweg. Nur wenige europäische Länder haben sich bisher abgesondert: Österreich, die Niederlande, Dänemark, Norwegen und neuerdings Italien. Und Schweden hat einen zeitlich festgelegten Ausstiegsplan.
Könnte sich auch die Bundesrepublik Deutschland dazu entschließen, so hätte man einen "Block der Vernunft" von Sizilien bis zum Nordkap. Oder muß es – vor einer Umkehr – erst zu einer noch größeren Katastrophe kommen als in Tschernobyl?
Eine Katastrophe in England, die bereits 30 Jahre zurückliegt, wurde Ende 1987 aufgedeckt, und damit wurde offenkundig, zu welchen kriminellen Praktiken selbst alte Demokratien greifen, wenn es um den atomaren Komplex geht. Dies ist nur möglich, weil der Mensch mit seinen Sinnesorganen die Strahlungen nicht sieht, nicht hört, nicht fühlt, nicht riecht und nicht schmeckt. Und selbst wenn die Menschen – wie in Windscale / Sellafield (siehe Seite 201) – daran sterben, läßt sich die Todesursache leicht vertuschen. So kann die atomare Maffia, an der die Regierungen in Ost und West beteiligt sind, unbehelligt im Untergrund arbeiten bis die Ereignisse sie entlarven.
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Martschellenberg, Januar 1988, Herbert Gruhl