Teil 1 Rückschau / Henrich-1989
1. Ost und West: ein formativer Gegensatz?
Es gibt in Asien, was uns fehlt und was uns doch wesentlich angeht!
Es treten von dort Fragen an uns heran, die in unserer eigenen Tiefe ruhen.
Wir haben für das, was wir hervorbrachten, vermochten, geworden sind, einen Preis gezahlt.
Keineswegs sind wir auf dem Wege des sich vollendenden Menschseins.
Asien ist unsere unerläßliche Ergänzung. ( Karl Jaspers )
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Die Politbürokratie im Staatssozialismus hält ihre Herrschaft erklärtermaßen bereits deshalb für legitim, weil wir - und uns voran die Sowjetunion - im Vergleich zu den spätkapitalistischen Gesellschaften des Westens «schon eine historische Epoche weitergegangen sind». Mit dieser formationsgeschichtlichen Rechtfertigung der bürokratischen Macht will man «wissenschaftlich» beweisen, daß etwas in der Gegenwart und Zukunft sein soll, weil ein anderes in der Vergangenheit gewesen ist.
Wie selbstverständlich unterstellt diese Legitimationsbegründung einen monokausalen Geschichtsverlauf, der darin seinen Höhepunkt findet, daß der Staatssozialismus die spätkapitalistischen Gesellschaftsordnungen des Westens ablöst.
Noch immer gehört - mitunter kunstvoll variiert - die Behauptung, Geschichte vollziehe sich in der Stufenfolge: Kapitalismus — Sozialismus, zu den entscheidenden Grundpfeilern allen dogmatischen Denkens. Noch in der letzten Neufassung des Programms der KPdSU kann man nachlesen:
«Die Große Sozialistische Oktoberrevolution wurde zum Wendepunkt der Weltgeschichte, sie bestimmte die Hauptrichtung und die Grundtendenzen der Entwicklung in der Welt, sie leitete den unumkehrbaren Prozeß, die Ablösung des Kapitalismus durch eine neue, die kommunistische ökonomische Gesellschaftsformation ein.»
Was aber, wenn sich herausstellen sollte, daß der Staatssozialismus - jedenfalls in seinen Ursprungsländern Rußland und China - das Ergebnis eines selbständigen, zweiten Entwicklungspfades der Menschheit ist, der die kapitalistisch-liberale Phase gar nicht durchlaufen hat? Wäre dann nicht die Sichtweise zu verändern?
Wer in diese Richtung denkt, der bezweifelt bereits - bewußt oder unbewußt - die geltende Rechtfertigungsideologie der politbürokratischen Herrschaft. Apodiktisch setzt diese nämlich die Verstaatlichung des privaten Produktionsmitteleigentums in den westlich der Sowjetunion gelegenen Ländern (z.B. der DDR) gleich mit dem neuzeitlichen Formenwandel des seit alters her existierenden Staatseigentums in den Zentren der asiatischen Produktionsweise.
Mit Hilfe des marxistischen Formationsbegriffs wird so eine unterschiedslose Einheit zwischen den Kulturen, die sich in China und Indien, aber auch im zaristischen Rußland herausgebildet haben, und der europäischen Kulturgeschichte unterstellt. Auf diese Weise wird zugleich unsere eigene nationale Situation in ein Überlieferungsgeschehen eingeordnet, demzufolge alle deutsche Geschichte «gesetzmäßig» in den Staatssozialismus einmündet.
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Um daran anschließend zu schlußfolgern, man sei im Fortschreiten zum immer Besseren begriffen, Bedarfes allerdings noch eines weiteren Kunstgriffs: der irreführenden Gleichsetzung des staatlichen mit dem gesellschaftlichen Eigentum. Ist dies einmal bewerkstelligt, dann kann man behaupten, durch den Akt der Enteignung und Verstaatlichung seien die Industriebetriebe in den Besitz der Gesellschaft übergegangen, und die auf dieser Basis — dem angeblichen gesellschaftlichen Produktionsmitteleigentum — zustande kommenden sozialen Beziehungen seien schon aus diesem Grunde sozialistisch. Historisch-materialistische Formationslehre und praktische Herrschaftslegitimationen gehen so insgeheim ineinander über.
Jede kritische Sichtung der marxistisch-leninistischen Formationslehre wird damit zwangsläufig zugleich zur Auseinandersetzung mit der herrschenden Rechtfertigungsideologie, und genau darum ist es mir hier zu tun. Die vorrangige Absicht meiner Kritik ist also nicht etwa die Rekonstruktion der Formationslehre, sondern die Zersetzung eines Dogmas, damit anstelle der geistigen Vormundschaft wieder die Individualität des Sehens treten kann.
Um die Geschichtlichkeit des Staatssozialismus zu verstehen, müssen wir zuerst einmal die Einlinigkeit durchbrechen, mit der die herrschende Ideologie die Weltgeschichte eurozentrisch periodisiert hat. Es gilt zuallererst, wieder das Verständnis für die von Marx 1859 im Vorwort «Zur Kritik der politischen Ökonomie» entworfene Formationsfolge zu wecken. Dazumal hat Marx in großen Umrissen, wie er schreibt, aus dem Sammelsurium historischer Gesellschaftskörper, die sich nach dem Zerfall der sakralen Gemeinwesen ausbilden, asiatische, antike und feudale Produktionsweisen «als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation» kategorisiert.
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Förmlich unterscheiden diese Epochen sich bei ihm nach der charakteristischen Art und Weise, wie in ihnen den bäuerlichen Produzenten die Mehrarbeit abgepreßt wird.
Wenn wir uns von der verbreiteten Vorstellung lösen, welche die asiatische, antike, feudale und kapitalistische Gesellschaftsformation einlinig auf- und auseinanderfolgen läßt, dann ist innerhalb des breiten Spektrums der von Marx kategorisierten Formationen die klassische Polarität von Orient und Okzident nicht zu übersehen, welche seit Herodots Zeiten jedes Geschichtsdenken bewegt. Vergleichen wir weiterhin die Ergebnisse der industriellen Umwälzungen der asiatischen Produktionsweise in Rußland und China — den originären Staatssozialismus unterschiedlichster Prägung — mit den Westgesellschaften, dann gewinnt das anhaltende Nebeneinander in der Zeit weit schärfere Konturen, als das zu Lebzeiten der Klassiker des Marxismus jemals vorauszusehen war.
Angesichts dieser bleibenden Parallelität der menschlichen Entwicklungspfade ist die Schlußfolgerung unabweisbar, daß sich in der bedrückenden Ost-West-Konfrontation der historischen Blöcke des 20. Jahrhunderts zwar nicht der lauthals propagierte weltweite formative Übergang in den Sozialismus, sehr wohl aber der alte Gegensatz von Orient und Okzident in neuer Form zeigt. Damit wäre klargestellt: Es stehen sich nicht zwei «Entwicklungsstufen» der menschlichen Gesellschaft in Ost und West gegenüber, die auf derselben historischen Linie liegen, sondern zwei unterschiedliche «Gesellschaftsformationen», verschieden in ihrer Entwicklungsrichtung und ihrem Entwicklungspotential. In irgendeiner Form polarisieren sich gegenwärtig alle geschichtlichen Entwürfe nach diesen beiden untereinander streitenden Totalitäten hin.
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Wenn das wahr ist, dann kann es natürlich niemals darum gehen, daß die eine Seite die historische Richtung der anderen Seite einschlägt — die manchmal erwünschte «Europäisierung» Rußlands, aber auch die von Marx erhoffte «Schaffung der materiellen Grundlagen einer westlichen Gesellschaftsordnung in Asien»5) sind solche Mißverständnisse! Heißt das aber nun
«East is east, and west is west,
Never the twain will meet» ...wie der englische Dichter Rudyard Kipling gesagt hat? Sind der östliche und der westliche Entwicklungspfad wirklich derart gegensätzlich, daß es auch zukünftig nirgendwo einen Kreuzungspunkt geben wird? Oder wird sich vielleicht «Was erst auseinanderfiel» doch irgendwann einmal wieder lieben dürfen?
Die Entstehungsgeschichte des Ost-West-Gegensatzes ist heute in Vergessenheit geraten.
Den meisten Menschen erscheint die mit diesem Gegensatz verbundene innere und äußere Beziehungsstruktur als immer schon bestehend, substantiell und endgültig. Einen Zusammenhang gar zwischen unserem eigenen dualistischen Denken, welches ständig zwischen dem «Ich» und «anderem» scheidet, und dem Phänomen, daß die Welt in zwei feindliche Lager gespalten ist, wollen die meisten nicht wahrhaben. Inzwischen wissen wir nicht einmal mehr, wann und wie wir in diesen Gegensatz hineingeraten sind. Wann und wie kam es also zu diesem Ur-Sprung in der Geschichte? Wo ist universalgeschichtlich der Ausgangspunkt menschlicher Verworrenheit zu setzen?
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Wer nach dem Ur-Sprung fragt, der die ganze Weltgeschichte seit der Antike prägt, der wird sehr bald feststellen, daß sich darin mythisches Geschehen ausspricht. Europa — und damit der ganze Westen — kommt ja aus Asien her! Und es liegt seit seinem Beginnen in Hellas im Streit mit dem Osten. Wie der Mythos von der Europa belegt, wußte das antike Bewußtsein im Unterschied zu uns Heutigen um die Gründe des Streits noch genauestens Bescheid. Nach seiner Kunde war es der Kronide Zeus, der, in einen «asiatischen» Stier verwandelt, die friedlich mit ihren Freundinnen am Meeresufer spielende Europa, die Tochter des Phönizierkönigs Agenor, mit List nach Griechenland entführte. Damit erfüllte sich ein Traum, der die Europa zuvor heimgesucht hatte. Bereits im Traumbild erschienen der Europa
«zwei Weltteile in Frauengestalt, Asien und der gegenüberliegende, und stritten um ihren Besitz. Die eine der Frauen hatte die Gestalt einer Fremden; die andere — und dies war Asien — glich an Aussehen und Gebärde einer Einheimischen. Diese wehrte sich mit zärtlichem Eifer für ihr Kind, Europa, sprechend, daß sie es sei, welche die geliebte Tochter geboren und gesäugt hätte. Das fremde Weib aber umfaßte sie wie einen Raub mit gewaltigen Armen und zog sie mit sich fort, ohne daß Europa im Innern zu widerstreben vermochte.»6)
Wir sollten uns den Inhalt dieser Ur-Kunde wieder ins Gedächtnis rufen!
Es braucht uns nicht weiter zu überraschen, daß gerade in den seltenen Augenblicken der Menschheitsgeschichte, in denen sich ganze Gesellschaftsformationen geistig-seelisch, ökonomisch, politisch und räumlich voneinander absetzen, mythisches Erkennen aufleuchtet. In Zeiten kultureller Hochspannung kommt mit dem Mythos gleichsam Geist «von oben her» in das gesellschaftliche Bewußtsein. Durch ihn nähert sich das Bewußtsein weitestgehend der Wahrheit an.
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Der Mythos von der Europa ermöglicht jedenfalls bis heute ein Verständnis davon, wie schmerzlich der antike Mensch die Abgrenzung gegenüber dem Osten erlebt haben muß. Ihm dürfte es kaum anders als der Europa selber ergangen sein. Am anderen Ufer eingetroffen, mußte diese sich erst einmal gegen alles das wehren, was ihr innerlich zwar weiterhin verwandt war, was aber mit seinen Eigenschaften noch aus der asiatischen Lebensweise mit in die neue Welt hineinragte. Mit anderen Worten: Europa mußte die natürliche Vormundschaft Asiens abschütteln. «Elende Europa», fragt sie sich, «hörst du nicht die Stimme deines abwesenden Vaters, der dich verflucht, wenn du deinem schimpflichen Leben nicht ein Ende machst?» In dieser Krise ist es Aphrodite, die der Europa mit den Worten Trost spendet: «Tröste dich, Europa! Zeus ist es, der dich geraubt hat; du bist die irdische Göttin des unbesiegten Gottes; unsterblich wird dein Name werden, denn der fremde Weltteil, der dich aufgenommen hat, heißt hinfort Europa!»
Um aus dem bis dahin namenlosen Erdteil Europa zu machen, bedurfte es zunächst erst einmal der Namensgebung, womit Europa zwar nicht geschaffen, jedoch für seine Bewohner Realität wurde. «Als man aber mit namen begann zu trennen die Dinge», sagt Laotse, «wurden selbstherrlich die namen.» So war es dann auch. In der Handelskonkurrenz mit Phönizien entfalteten die Griechen ihre Macht und schufen damit die Voraussetzungen für ihre kommende Herrschaft über die paradiesischen Gärten, in denen einst die Europa aufgewachsen war. Schon damals hat der westliche Mensch in der archetypischen Polarität mit dem Orient die allgemeinste Struktur seiner Außenpolitik ausgelebt. Der Mythos zeigt auf, wie tief dem Menschen im Westen diese Struktur eingebildet ist. Mit Recht hat Hegel deshalb von der doppelten Bildung des griechischen Volkes gesprochen, die einerseits aus sich heraus entstanden ist, andererseits aber aus fremder Anregung.
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In Zeiten der Herauslösung einer Gesellschaftsformation aus der anderen setzt sich jedoch das, was hereinragt aus der zurückliegenden Epoche, sogleich mit dem neu Entstehenden in einen äußeren Gegensatz. Die Gesellschaftsformationen entwickeln sich im Streit in Raum und Zeit nebeneinander her. Im Perserkrieg geraten Ost und West erstmalig gewaltsam aneinander. Damit beginnt eine Kette historischer Gestaltungen des Ost-West-Konflikts, die über die Spaltung des römischen Imperiums in das West- und Ostreich, die blutigen Auseinandersetzungen mit dem Islam, die globalen Kolonialunternehmungen der Europäer bis in den atomaren Rüstungswettlauf der Supermächte reicht. Die Menschheit lebt mit sich selbst im Widerspruch.
Der universale Widerspruch, von dem hier die Rede ist, wird natürlich — wer könnte ihn schon übersehen? — überall wahrgenommen. Nicht das ist die Frage. Die Frage ist, ob wir die ganze kulturgeschichtliche Tiefendimension des Problems erfassen?
Wenn Michail Gorbatschow die widersprüchliche Art des Sich-zu-sich-selbst-Verhaltens der Menschheit durch die «wichtigste Gruppe von Widersprüchen» in der Geschichte angetrieben sieht, die wir kennen, nämlich durch jenen weltpolitisch entscheidenden Antagonismus, der «mit den Beziehungen wischen den Staaten beider Systeme, beider Formationen verbunden» ist, kann man dem nur zustimmen. Sobald er aber meint — und damit setzt er dann die übliche dogmatische Lesart der Geschichte fort —, der schicksalbestimmende Ost-West-Gegensatz sei ein Ergebnis des «Großen Oktober», zeigt er, wie geschichtlich kurzatmig der Sinn seiner Rede ist.
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Denn daß sich der Gegensatz eines Tages in Gestalt der globalen Konkurrenz (die etwas gänzlich anderes ist als die «dialektische Negation») des amerikanischen und des sowjetischen Imperialismus zeigen würde, war schon lange vor dem Großen Oktober klar.
Bereits 1835 hatte Tocqueville vorausgesagt, wie sich die «Kette historischer Gestaltungen» weiterentwickeln würde. Mit welcher Genauigkeit ihm dies gelang, darüber kann man allerdings nur staunen:
«Es gibt jetzt auf der Erde zwei große Völker, die von verschiedenen Punkten ausgehen und zum nämlichen Ziele vorrücken, die Russen und die englischen Amerikaner. Beide wurden im Dunkeln groß, und indes die Blicke der Menschen auf andere Gegenstände gerichtet waren, haben sie sich plötzlich in den ersten Rang der Nationen gestellt, so daß das Publikum fast zu gleicher Zeit ihre Entstehung und ihre Größe erfuhr. Alle anderen Völker scheinen ungefähr die ihnen von der Natur bestimmten Grenzen erreicht zu haben, mit der Verpflichtung, sich darin zu erhalten, aber diese beiden befinden sich noch in ihrem Wachstum. Alle übrigen befinden sich in einer Art Hemmung.
Jene allein marschieren leichten Schrittes in einer Laufbahn, deren Grenze das Auge noch nicht erblickt. Der Amerikaner kämpft nur mit den Hindernissen der Natur. Der Russe dagegen mehr mit den Menschen. Der erste bekämpft die Wüsten und die Barbarei. Der andere wird beschuldigt, die Zivilisation zu bekämpfen. Der Amerikaner erwirbt seine Eroberungen meistens mit dem Pfluge, und der Russe, außer seinen jetzigen Grenzen, mit dem Schwerte seiner Krieger.
Um seinen Zweck zu erreichen, stützt sich der Amerikaner auf das persönliche Interesse, und läßt, ohne sie zu leiten, die Kraft und die Vernunft der Individuen handeln. Der Russe dagegen vereinigt gewissermaßen in seinem durch seinen Charakter verehrten Autokraten die ganze Macht des Staates. Durch die Freiheit wirkt vorzüglich der Amerikaner, und der Russe durch die Knechtschaft.
Beide gehen aus von verschiedenen Punkten, und ihre Bahnen sind verschieden; nichtsdestoweniger scheinen beide, nach einer uns noch geheimen Absicht der Vorsehung, bestimmt zu sein, jeder in seiner Obhut eine halbe Erde zu halten.»(7)
Die heutige Konfrontation zwischen den Supermächten, die schon Tocqueville vorausgesehen hat, ist nicht ein bloßes Resultat der Oktoberrevolution, hier findet nicht nur die Auseinandersetzung zwischen Staatssozialismus und Monopolkapitalismus statt. Diese Konfrontation ist vor allem Ausdruck und letzte Zuspitzung des klassischen Gegensatzes zwischen Ost und West.
Ist der beschriebene Gegensatz überwindbar, oder wird er unser Schicksal noch in ferner Zukunft bestimmen? Die Antwort auf diese Frage hängt ganz sicher davon ab, ob die Menschen bereit sind, über alle formativen Gegensätze hinweg das Wohl und Wehe des jeweils anderen Teils der Menschheit zu ihrem eigenen Motiv zu machen. Denn nur Teilnahme am fremden Leiden kann die Mauern überwinden, welche die Menschheit in Ost und West trennen.
Bis heute herrscht jedoch allerorten ein Seinsverständnis vor, das die Gewohnheit ausgebildet hat, alles das, was außerhalb des eigenen Gesichtskreises passiert, entweder wie ein ganz anderes zu erfahren oder dasselbe so schnell wie möglich in seiner Andersartigkeit einzuebnen. Auf diese Weise wird eine Verworrenheit erzeugt, die uns davon abhält zu erkennen, daß alle mit dem Ost-West-Gegensatz verbundenen Formbestimmungen des politischen Lebens zwar in ihrer Erscheinung bestechen, jedoch keine letztendliche Natur besitzen.
Der Buddha soll einmal gesagt haben, daß der dumm wie ein Esel sei, der die Dinge für absolut und ewig hält. So ist auch alles Denken, welches sich endgültig am Ost-West-Gegensatz orientiert, nichts weiter als Ausdruck tiefer Verwirrtheit.
Spuren der Verwirrtheit sind auf beiden Seiten des Gegensatzes zu finden. Noch vor kurzem War es die «gelbe Gefahr», die den Westen bedrohte. Und heute noch will mancher brave Mann «lieber tot als rot sein». Unterdessen kämpfen auf der anderen Seite der Barrikade nicht wenige Politbürokraten weiterhin «ihren» Klassenkampf, wenngleich auch hier nicht mehr genau feststeht gegen wen. Und so bildet sich denn am Ost-West-Gegensatz entlang weiterhin eine Gefühlswelt aus, die durch Abneigung und Anziehung gekennzeichnet ist.
Einerseits fühlt der Mensch sich zu einem als geradezu paradiesisch empfundenen Westen/Osten hingezogen. Denken wir nur an die vielen Morgenlandfahrer, die seit den Zeiten der Romantik im Osten das Heil suchen. Vergessen wir auch Rilke nicht mit seiner Leidenschaft für die russische Seele. Oder die vielen «Westler», die im Osten leben. Diesen positiv Empfindenden stehen andererseits — nicht selten in einer Person — die Menschen gegenüber, die sich von der jeweils anderen Seite abgestoßen fühlen, da diese ihnen häßlich und negativ erscheint.
Es muß gesagt werden: Niemand hat uns so eingeteilt! Gefühlsmäßig verwirrt verhalten wir uns aber in einer Weise, die immer wieder nur den alten Gegensatz reproduziert.
Zwar versuchen viele Menschen mittlerweile, den «anderen» nicht mehr nur unter dem Gesichtspunkt der Nichtzugehörigkeit zur eigenen Gruppe, Schicht, Nation, Kulturgemeinschaft usw. zu sehen, sondern in diesem den Nächsten und Fernsten zugleich wahrzunehmen. Gleichwohl kann man dabei immer wieder feststellen, wie am Ende doch das auf Abgrenzung gegründete Selbst überwiegt. Dieses Bestreben, das jeweilige Selbst zu sichern und abzugrenzen, hindert uns daran, uns als Glieder der einen geistigen Welt zu verstehen und als solche den uns trennenden Ost-West-Gegensatz in Brüderlichkeit praktisch aufzuheben.
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Henrich-1989