§ 16 Horstmann-1983
(Klages, Hartmann, Freud, Fromm)
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Überblickt man die Geschichte der modernen Philosophie, so scheint das anthropofugale Denken — mit seinem Durchbruch im 18. und seiner idealistisch-spekulativen Ausformulierung im 19. Jahrhundert — zugleich seinen Höhepunkt erreicht und überschritten zu haben.
Ja, man könnte geneigt sein, eine Relation umgekehrter Proportionalität zu behaupten und die These zu formulieren, daß — bei fortschreitender Annäherung des Untiers an den Punkt seiner existentiellen Rücknahme, und wachsender militärisch-technologischer Kompetenz — die Neigung, sich gedanklich mit dieser Entwicklung auseinanderzusetzen und sie als im höchsten Interesse der Gattung liegend zu begreifen, im gleichen Maße schwindet.
Diese Beobachtung ist richtig und falsch zugleich, denn zum einen existieren in der Tat intellektuelle Abschottungs- und Selbstschutzmechanismen — ein Täuschungsverlangen, auf das wir noch ausführlicher zurückkommen werden —, zum anderen aber ist mit dem Aussprechen der einen anthropofugalen Wahrheit — daß wir besser nicht wären und füglich alles unternehmen müssen, um Dasein in Nichtsein zu überführen —, in den Systemen Schopenhauers und von Hartmanns in der Tat der wichtigste Schritt getan.
Und uns Letztgeborenen ist es aufgegeben, diese Wahrheit zu bewahren und zu ergänzen; ihre zeitbedingten Verzerrungen zu korrigieren und sie in eine Gestalt zu bringen, die dem naturwissenschaftlichen und technologischen Entwicklungsstand der Gegenwart entspricht.
Das philosophische Denken des 20. Jahrhunderts hat sich dieser an sich bescheidenen Verpflichtung — wie abermals betont werden muß — in erschütternder Verantwortungslosigkeit entzogen und die Axiome gedanklicher Menschenflucht an den Rand des Vergessens geraten lassen.
Aus dem, was nie mehr als Minoritätenbesitz, gemeinsames gedankliches Gut einer aufgeklärten Elite sein wollte und konnte, hat dieses Zeitalter eine verschrobene Geheimlehre gemacht, etwas, das man nur hinter vorgehaltener Hand, unter der Narrenkappe mokanter Ironie, im Wechselbalg eines despotischen und senilen Humanismus aussprechen darf, und auch das nicht, ohne dennoch ständig der Einschüchterung, sozialen Exkommunikation und Existenzgefährdung gewärtig sein zu müssen. [detopia: mokant: spöttisch, spottlustig]
Die notwendige Tröstung und Stabilisierung der Vielen durch Sinnangebote und optimistische Weltmodelle hat als Selbstverdummung der Philosophie die Wahrheitssuche der Wenigen infiltriert und hier zur Verketzerung der anthropofugalen Denker oder zur Selbstzensur weniger standhafter kongenialer Geister und zur erschreckenden Deformation ihres Nachdenkens geführt.
Zwei Beispiele, das Ludwig Klages' und das Sigmund Freuds, mögen genügen, um die Pflichtvergessenheit derer zu offenbaren, die die Freiheit des Geistes auf ihre Fahnen geschrieben haben.
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Ludwig Klages (1872-1956) gilt ihnen als Irrationalist, der die Dreistigkeit besessen habe, »ein rationales System [zu] entwerfen, um die Absurdität der ratio zu beweisen« (Delfgaauw 1966: 82), eine Philosophiegeschichte bezeichnet ihn als »einen der führenden und wirkungsvollsten Matadoren des deutschen Anti-Intellektualismus« (Runes 1962: 319), der, obwohl er 1933 bei der Machtübernahme der Nationalsozialisten in die Schweiz fliehen mußte, einer ihrer geistigen Ziehväter und Mentoren gewesen sei; ein anderes zweibändiges Kompendium der Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie mit etwa 1300 Seiten widmet ihm einen Halbsatz (vgl. Stegmüller 1969 I: 97) und ersetzt folgerichtig Denunziation durch das noch wirkungsvollere Schweigen.
Der so aus dem Pantheon der zeitgenössischen Philosophie entfernte Klages ist in Wirklichkeit - neben E. Cioran - einer der wenigen anthropofugalen Denker von Rang, die dieses Jahrhundert hervorgebracht hat.
Klages war — schon darin äußerste Herausforderung des nunmehr auch in Philosophenkreisen grassierenden bewußtlosen Optimismus — von der »Unabwendbarkeit des Unterganges« (Klages 1972: 1428) überzeugt, und er erklärt in seiner bedeutendsten Arbeit, <Der Geist als Widersacher der Seele> (1929), den Determinismus der Entwicklung damit,
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.... daß Leib und Seele untrennbar zusammengehörige Pole der Lebenszelle sind, in die von außenher der Geist, einem Keil vergleichbar, sich einschiebt, mit dem Bestreben, sie untereinander zu entzweien, also den Leib zu entseelen, die Seele zu entleiben und dergestalt endlich alles ihm irgend erreichbare Leben zu ertöten (ebd.: 7).
Man kann nun die tripolare Begrifflichkeit von Leib, Seele, Geist und den damit abgesteckten Deutungsrahmen seiner Weltanschauung ebenso kritisieren wie die idealistische Hypothek des Weltwillens bei Schopenhauer und bemängeln, daß das Leiden bei Klages aus jener zentralen Stellung im System herausgefallen ist, die ihm gebührt; an der Richtigkeit des phänomenologischen Befundes und der seiner geschichtlichen Prognostik aber ändert sich damit nichts.
Klages' Vorhersage:
Das Wesen des <geschichtlichen> Prozesses der Menschheit (auch <Fortschritt> genannt) ist der siegreich fortschreitende Kampf des Geistes gegen das Leben mit dem ... absehbaren Ende der Vernichtung des letzteren (ebd.: 69), 1)
ist ebenso korrekt wie die Einschätzung der Technik als einer die Erde verwüstenden Macht, »in Vergleichung mit der alle Untaten der Dschingischane nur wie Narrenpossen spielender Knaben anmuten« (ebd.: 62.4).
Und mit bewundernswerter anthropofugaler Klarsicht erkennt er auch die eigentliche, vom Humanismus auf den Kopf gestellte Mission des Untiers und dessen unstillbaren Zerstörungsdrang, der bereits ausgereicht hat,
.... um Dutzende von Stämmen der Primitiven, Hunderte von Pflanzengeschlechtern, doppelt und dreimal so viele Tierarten auf dem Lande, in der Luft, im Wasser vom Antlitz des Planeten zu tilgen. Der Tag ist nicht fern, wo sie alle vertilgt sein werden ... Das Weltall ist für diesen Vertilgungswahn etwas allzu geräumig, die Erde aber, sollte nicht zeitig ein <Wunder> geschehen, wird daran sterben. (ebd.: 768).
1) Klages hat das Ziel der Menschheitsentwicklung, das Telos der Humanisation, wiederholt umschrieben und es dabei auch an drastischer Deutlichkeit nicht fehlen lassen. So spricht er einmal von den »Vergewaltigungen, die dem Erdenleben durch eine Intelligenz widerfuhren, deren Endziel es wäre, das Nichts zu verwirklichen« (ebd.: 673), ein andermal vom technologischen Bemächtigungs-willen, als dessen »Ziel sich immer deutlicher die Vertilgung unzähliger Tiergeschlechter, ja schließlich aller Lebewesen des Erdballs herausschält« (ebd.: 724).
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Der Ausbruch des Zweiten Vorbereitungskrieges liegt zu dem Zeitpunkt, als Klages diese Sätze veröffentlicht, noch fast ein Jahrzehnt in der Zukunft, und die Waffen, die unser Ende besiegeln, sind noch gar nicht entwickelt.
Trotzdem besitzt auch er das apokalyptische Bewußtsein jedes echten Visionärs und dessen große Hoffnung, die gerade nicht auf das eigene oder das Überleben der Gattung abzielt, sondern auf Erlösung und die sich damit aus der Menschenleere der Nachgeschichte speist.
Wir sind »letzte Mohikaner«, schreibt Klages und fährt fort:
Wer aber von solchen noch Wünsche zu hegen wagt, müßte nur eines wünschen: daß eine derart Verruchtes vollbringende Menschheit so schnell wie möglich absinke, veraffe, verende, damit um ihre verwitternden und verfallenden Arsenale des Mordes noch ein Mal begrabend, entmischend und sich selbst erneuernd der Rausch der Wälder brande. (ebd.:768)
Klages' beschwörendes Herbeisehnen des homo extinctus ist dem Partialismus seines Zeitgenossen Oswald Spengler, dem lediglich der Untergang des Abendlandes vor Augen stand, weit überlegen — andererseits aber fällt er hinter die radikale Folgerichtigkeit eines von Hartmann zurück — entspringt sein Wunsch nach dem Ende doch nicht der solidarischen Einsicht in die Allgegenwart der planetarischen Qual, sondern gerade einer »leidenschaftlichen Liebe des [geistlosen] Lebens« (ebd.), also der Vergötterung eines vorbewußten Vitalen.
Dieses Organische will Klages von der Geißel eines es ausbeutenden, versklavenden und niederhaltenden Intellekts befreien und übersieht dabei, daß es - wie der Sklavenhalter selbst - einer noch ungleich grausameren Tortur unterliegt, der des unerbittlichen Vegetierens und Daseinskampfes nämlich.
Klages' Annihilismus ist narzißtisch, weil er lediglich die Rücknahme des Menschen propagiert; die höchste Stufe anthropofugaler Vernunft aber kann sich mit dieser ausschließlichen Sorge um das eigene Heil nicht mehr zufriedengeben — sondern wird sich ihrer Verantwortung für die gesamte Biosphäre bewußt werden und ihre Lösungsansätze entsprechend neu bewerten und universalisieren müssen.
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Vielleicht ist der Vernichtungs- und Selbstzerstörungswille des Menschen überhaupt nur die höchste und erstmals zum Bewußtsein seiner selbst gelangte Manifestation eines Urimpulses und Protoinstinkts, der allem Lebendigen innewohnt und es in seinen Untergang treibt.
Vielleicht war die gesamte Evolution nichts anderes als ein gigantischer Umweg, den das Plasma nahm, um sich nach dem Sündenfall der Urzeugung und seiner Vertreibung aus dem Anorganischen seiner neuerworbenen potentiellen Unsterblichkeit zu berauben und nach Äonen des Wucherns erneut ins Nirwana des Staubes und der Gase einzugehen.
Und vielleicht ist das Untier mit all seinem Erfindungsreichtum, seinem Selbstbewußtsein und seiner Philosophie nicht die Krone der Schöpfung, sondern bloß ihr Strick, die ingeniöse Methode, auf die vor Milliarden von Jahren der erste Einzeller verfiel, um nach ebenso vielen Zellteilungen und Teilungen von Teilungen, die sein Leben multiplizierten, doch noch Selbstmord zu begehen.
Wer solchen Spekulationen vom langen Marsch der Amöbe in den Tod — vom geduldigen Suizid der DNS — vorwirft, sie seien märchenhaft und phantastisch, der vergißt das Erkenntnispotential jener Urmythen von Götterdämmerung und Kataklysmus, die am Beginn unserer Untersuchung standen. wikipedia Kataklysmus
Daß der neue Mythos mit evolutionstheoretischer Umständlichkeit erzählt wird, tut dabei wenig zur Sache; wichtig ist allein die Befreiung mythischen Bewußtseins aus der Babylonischen Gefangenschaft wissenschaftlicher Rationalität — ein Auszug, zu dessen Führer der Schöpfer der Psychoanalyse, Sigmund Freud, hätte werden können.
Freud, der seine Lehre in einem Brief an Albert Einstein vom September 1932 ausdrücklich als »eine Art Mythologie« (vgl. Einstein/Freud 1934: 16) bezeichnet, macht 1920 in <Jenseits des Lustprinzips> die entscheidende Entdeckung eines Konkurrenten zum ehedem absolut gesetzten Lebenstrieb und libidinösen élan vital, eines mächtigeren Rivalen, den er ebenfalls nicht nur im Menschen, sondern in allen Geschöpfen vermutet und als Todes- oder Destruktionstrieb bezeichnet.
*detopa-2022:
Élan vital - etwa „Lebens-Schwung“ - ist ein von dem französischen Philosophen Henri Bergson 1907 in seinem Werk „Die kreative Evolution“ geprägter Begriff zur Bezeichnung einer der Evolution und biologischen Lebensprozessen innewohnenden schöpferischen Entwicklungstendenz, die sich ontogenetisch und phylogenetisch als Wille zur Formbildung und Differenzierung manifestieren soll. Für den Psychologen Eugène Minkowski ist der Élan vital nicht nur ein allgemeiner Lebenschwung, sondern ein gerichtetes Streben nach Verwirklichung einer Handlung oder eines Werkes. - wikipedia Élan_vital
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Der Gegenspieler des Eros ist regressiv orientiert und tendiert zur Wiederherstellung eines vorlebendigen Zustandes; als Endziel alles organischen Strebens gibt Freud an:
Der konservativen Natur der Triebe widerspräche es, wenn das Ziel des Lebens ein noch nie zuvor erreichter Zustand wäre. Es muß vielmehr ein alter, ein Ausgangszustand sein, den das Lebende einmal verlassen hat, und zu dem es über alle Umwege der Entwicklung zurückstrebt.
Wenn wir es als ausnahmslose Erfahrung annehmen dürfen, daß alles Lebende aus inneren Gründen stirbt, ins Anorganische zurückkehrt, so können wir nur sagen: Das Ziel alles Lebens ist der Tod, und zurückgreifend: Das Leblose war früher da als das Lebende.
(Freud 1969 XIII: 40).
Der Evolutionsprozeß erscheint aus diesem Blickwinkel nicht mehr als selbstgenügsame oder teleologische Komplexierung und Höherentwicklung, sondern als immer weitläufigere Umleitung zur Stillstellung des Stoffwechsels, als grotesk außer Facon geratenes Euthanasieprogramm:
Irgend einmal werden in unbelebter Materie ... die Eigenschaften des Lebenden erweckt.... Die damals entstandene Spannung in dem vorhin unbelebten Stoff trachtete danach, sich auszugleichen; es war der erste Trieb gegeben, der, zum Leblosen zurückzukehren. Die damals lebende Substanz hatte das Sterben noch leicht, es war wahrscheinlich nur ein kurzer Lebensweg zu durchlaufen, dessen Richtung durch die chemische Struktur des jungen Lebens bestimmt war.
Eine lange Zeit hindurch mag so die lebende Substanz immer wieder neu geschaffen worden und leicht gestorben sein, bis sich maßgebende äußere Einflüsse so änderten, daß sie die noch überlebende Substanz zu immer größeren Ablenkungen vom ursprünglichen Lebensweg und zu immer komplizierteren Umwegen bis zur Erreichung des Todeszieles nötigten. Diese Umwege zum Tode, von den konservativen Trieben getreulich festgehalten, böten uns heute das Bild der Lebenserscheinungen.
(ebd.: 40f.)
Welch eine grandiose Gegenvision zum grobschlächtigen Darwinismus! Keine einmalige Urzeugung, die eine blühende, lebensvolle und von Vitalität überbordende Welt aus sich entließe, sondern im Gegenteil Verweigerung, das Nein zum Sein von Anbeginn an.
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Die zum Urleben zusammengekoppelten Riesenmoleküle zerfallen, kaum daß die Selbsterhaltungsschwelle erreicht ist, stehlen sich davon aus der Unnatur des Organischen, fliehen das Unheil der Generationen von Immergleichem. Trotzdem wieder und wieder die Schöpfungsanfälle kosmischer Paranoia, wieder und wieder wird Leben zusammengeschustert, die Temperatur austariert, die Umgebung mit Nährstoffen überschwemmt, bis — bis der ersten Urzelle die Flucht mißlingt und der Desintegrationsversuch als Zellteilung, als Verdoppelung des Unnatürlichen durch sich selbst, auf das perverseste scheitert.
Dem Fluch der Fortsetzung und Vermehrung, der den Ausweg ins Nichts versperrt, ist das Leben, das nicht leben will, Ewigkeiten schutzlos ausgeliefert, bevor die Ausdifferenzierung der Arten die Gegenwehr des sich Fressens und Verschlingens, jenen Kannibalismus des Vitalen gestattet, der das Nein zur Schöpfung so ungebrochen demonstriert.
Aber die Revolte scheitert, auch für den Fressenden finden sich Fresser, die dessen Opfern Luft schaffen — die Nahrungskette entsteht, jener diabolische Einfall des Schöpfungswahns, der das revoltierende Organische wider Willen am Leben hält und seine Aufsässigkeit drakonisch mit dem Schmerz, der Qual und dem Leiden bestraft, die es von nun an begleiten sollen. Und keiner der künftigen Schritte, die das Leben gegen sich selbst unternimmt, keine der Viren, Bakterien, Mikroben und Parasiten, keine der von ihnen ausgelösten Seuchen und Krankheiten hat im Endeffekt mehr erbracht als eine weitere Steigerung dieses Strafmaßes.
Der Teufelskreis der Vitalität scheint geschlossen, das Lebendige auf immer zum Leben verdammt. Aber in Wirklichkeit sind es nur die bewußtlosen, instinktgesteuerten Ausbruchsversuche und ihre ebenso sinnleere wie hartnäckige Wiederholung, deren Scheitern offenkundig wird. Mit dem Abrufen immer desselben Gattungsprogramms, das den einzelnen Vertreter einer Spezies zwar nach den vorgegebenen Mustern verläßlich zu Tode bringt, aber weder die Existenz der Gattung als solcher noch die größerer Vitalsphären gefährdet, ist es nicht getan;
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vielmehr sind die im Evolutionsprozeß entwickelten und eingespeicherten Laufbahnen ins Anorganische aufgrund ihrer Umständlichkeit und Inflexibilität gerade zu den mächtigsten Stützen des Lebens entartet, gilt doch nach Freud,
daß der Organismus nur auf seine Weise sterben will ... Dabei kommt das Paradoxe zustande, daß der lebende Organismus sich auf das energischeste gegen Einwirkungen (Gefahren) sträubt, die ihm dazu verhelfen könnten, sein Lebensziel auf kurzem Wege (durch Kurzschluß sozusagen) zu erreichen, aber dies Verhalten charakterisiert eben ein rein triebhaftes im Gegensatz zu einem intelligenten Streben. (ebd.: 41)
Freud hat sich mit solchen Überlegungen nicht nur dem Pessimismus eines Schopenhauers angenähert und die Übersetzung seiner Weltanschauung aus einer veralteten idealistischen in eine moderne biologisch-evolutionistische Terminologie skizziert, sondern er steht mit der Einsicht in das Fehlschlagen instinktabhängiger Lebensverneinung auch an der Schwelle des philosophischen Annihilismus als eines nunmehr intelligenten Strebens nach Auflösung, das über jene Befähigung zum »Kurzschluß« verfügt, der die Instinktsteuerung ermangelt, und auf der deshalb die Erlösungshoffnungen der gesamten Schöpfung ruhen.
Aber das Joch mitleidsloser humanistischer Indoktrination, unter dem dieses Jahrhundert sich wie kaum ein anderes niedergedrückt findet, nimmt Freud den aufrechten anthropofugalen Gang, kaum daß er die ersten Schritte getan hat. Schon schrillt das »Apage Satanas« der neuen anthropozentrischen Inquisition in seinen Ohren, schon formiert sich die Prozession der akademischen Hexenjäger vor seinem geistigen Auge, schon richtet die Selbstzensur über seine Entdeckung.
Und der Forschungsreisende ins Unbewußte, der zum Kopernikus und Giordano Bruno einer neuen Wissenschaft vom Leben hätte werden können, schwört ab, widerruft, noch ehe er vor die Tribunale der Gerechten zitiert wird: »Aber besinnen wir uns, dem kann nicht so sein!« (Ebd.: 41)
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Freuds »Selbstbesinnung« will den ontologischen Primat des Urtriebs zum Tode nicht mehr wahrhaben und balanciert ihn in einem manichäischen Dualismus mit dem Lebenstrieb aus, dessen Stärkung und therapeutischer Pflege er sich fürderhin mit dem Eifer einer verheimlichten und überkompensierten Neigung zur antihumanistischen Häresie widmet.
Seine philanthropische Attitüde aber hat sich für die Fortentwicklung der Psychoanalyse als äußerst hinderlich und nachteilig erwiesen, weil sie ihrerseits Denkverbote erzeugte und Freuds Schüler das nicht oder nur durch den Zerrspiegel menschentümelnder Entrüstung wahrnehmen ließ, was dem anthropofugalen Denken zu schönsten Hoffnungen Anlaß gibt.
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Schlagendes Beispiel eines derartigen zielblinden Nachdenkens über den Menschen, wie wir es bereits in der Anthropologie kennengelernt haben, ist Erich Fromms psychoanalytisch ausgerichtete <Anatomie der menschlichen Destruktivität>. Der Autor gelangt schon auf den ersten Seiten zu der wesentlichen Einsicht:
Der Mensch unterscheidet sich ... vom Tier dadurch, daß er ein Mörder ist. Er ist der einzige Primat, der seine Artgenossen ohne biologischen und ökonomischen Grund tötet und quält und der dabei Befriedigung empfindet (Fromm 1974: 4),
bewertet dieses Gattungsmerkmal aufgrund anthropozentrischer Parameter aber völlig falsch, nämlich nicht als Auszeichnung und Privileg, sondern als »biologisch nicht angepaßte ... <bösartige> Aggression, die das wirkliche Problem und die Gefahr für das Fortleben der Spezies Mensch ist« (ebd.).
Wie Freud kann er sich bei der Diagnose der Nekrophilie des Untiers, die automatisch auch eine Prognose des gattungsgeschichtlichen Ziels, die Offenlegung seiner »Mission« impliziert, nicht beruhigen:
Die Nekrophilie kann man... definieren als das leidenschaftliche Angezogenwerden von allem, was tot, vermodert, verwest und krank ist; sie ist die Leidenschaft, das, was lebendig ist, in etwas Unlebendiges zu verwandeln, zu zerstören um der Zerstörung willen (ebd.: 301),
sondern muß das Augenfällige, daß wir hier sind, um ein Ende zu machen, leugnen, verdrängen, beschönigen und wegdiskutieren.
Wie durch Zauberei ist dann auch flugs die »fundamentale Alternative« (ebd.: 332.) einer ebenfalls für angeboren erklärten »Biophilie« zur Hand, die die Selbstachtung und das Renommee humanistischer Wissenschaftlichkeit gleichermaßen sichert und erneut zu jenen Patentrezepten der Melioration des Untiers, jener besserwisserischen psychoanalytischen Quacksalberei Anlaß gibt, die gutes Gewissen und gutes Geschäft verheißt und Tausende und Abertausende skrupulöser Krüppel produziert, die — halb aufgeklärt und mit sich zerfallen — nicht mehr die Kraft aufbringen, ihrer anthropofugalen Bestimmung zu leben oder auch nur ihrem matten Siechtum ein Ende zu setzen.(2)
2) Im Gegensatz zu der aufgeklärten Haltung schon eines Plinius, Seneca oder Cicero sieht die Psychoanalyse trotz ihres vorgeschützten deskriptiven Objektivismus im Selbstmord unterschwellig noch immer einen Akt des sich Davonstehlens, des Eskapismus, der dem moralischen Tadel unterliegt.
Eine rühmliche Ausnahme macht hier lediglich Karl Menningers erstmals 1938 veröffentlichte Studie Selbstzerstörung, die davon ausgeht, »daß sich letztlich jeder Mensch selbst tötet, auf seine eigene, selbstgewählte Weise, schnell oder langsam, früher oder später« (Menninger 1974: II), mehr noch, daß wir »im Grunde unseres Herzens alle sterben wollen« (ebd.: 17), und die deshalb den klassischen Suizid mit seinen verdeckteren Varianten - wie dem chronischen Selbstmord (Askese, Märtyrertum, Neurose, Alkoholismus), dem fokalen (Selbstverstümmelung, multiple Operationen, Unfälle) und dem organischen Selbstmord durch Krankheit - zusammen behandelt.
Die anthropofugale Einsicht, daß der Selbstmörder den ultimativen Akt der Gattungsannihilation in einer Art ungeduldigen Symbolismus antizipiert, und jeder, der Hand an sich legt und so ostentativ für das Nichtsein votiert, mit seinem entseelten Leib ein Mahnmal aufrichtet gegen humanistischen Überlebensdünkel und die satte Trägheit, die das Kollektiv von seinem Weg nach Harmageddon abführen will, ist allerdings auch Menninger verschlossen geblieben.
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wikipedia Melioration Verbesserung goog skrupuloes peinlich genau, ängstlich, gewissenhaft; übertrieben Furcht vor etwas oder jemanden habend
Das Untier (1983) Von Ulrich Horstmann