Günter Kunert

Die Botschaft 
des Hotelzimmers 
an den Gast

Aufzeichnungen 
1991-2002

 

2004 im Hanser Verlag München

2004  (*1929)

338+10 Seiten 

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Umweltbuch

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Amery-Botschaft  

 

  Vom Weltende 

326-338

Nach dem Ende des 20. Jahrhunderts sollte man sich an die Prognosen seines Anfangs erinnern: Triefender Optimismus, Verheißungen von Glückseligkeit und ewigem Frieden. Und im Titelkopf der Zeitschrift »Die Gartenlaube« (eigentlich anachronistisch angesichts des technischen Fortschritts) hielt eine Dame mit dem Aussehen einer Vestalin eine elektrisch betriebene Fackel in die Höhe. 

Wer darüber lächelt, ahnt nicht, wie sich gen Ende unseres Millenniums die Menschen (falls es noch ein paar gibt) über die Wissenschafts- und Technologie­gläubigkeit unserer Tage mit einer gewissen Bitterkeit amüsieren werden. 

Das Sprichwort meint wohl, es sei leicht, für gestern schlau zu sein; aber aus dieser Schläue ergibt sich keine Konsequenz dafür, das Heute schon als vergangen zu erkennen und seine technisch bejubelten Aktivitäten als das zu sehen, wofür sie eines Tages gelten werden: Zwischenstationen, Irrwege, suizidäres Tun. Total egal, was auch passiert — solange das Geschäft floriert.  

(2.2000)

 wikipedia  Gartenlaube      Bing  Gartenlaube  

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Wir sind in einem Universum anwesend, für das wir ebenso belanglos sind wie für uns der Staub auf den Schuhen. Die menschliche Existenz ist ohne Bedeutung und rein zufällig und durch kein »höheres Prinzip«, durch keine noch so fantastische Teleologie, durch keine noch so einfallsreiche Theologie zu begründen und zu legitimieren. 

Wir brauchten nicht zu sein, das Universum würde uns nie vermißt haben. Das, und nichts anderes, ist die Wahrheit, die wir uns einzusehen scheuen, die wir verdrängen, die wir leugnen, indem wir uns einbilden, es müsse doch in unserem Sein eine wesentliche, wenn auch im Moment noch nicht erkennbare Absicht stecken. (1991)

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Insbesondere im Zustand der Schlaflosigkeit überlegte ich mir, wie uns wohl unvorstellbare Mitbewohner des auseinanderdriftenden Universums sähen, falls sie uns sehen könnten. Eine Beobachtung unseres Planeten vom Rande der Grenzenlosigkeit, Widerspruch in sich, müßte höchst seltsame Ergebnisse zeitigen. 

Wir wären wahrscheinlich für außerirdische Intelligenzen kleine grüne Männer oder bleiche Monstren auf zwei beweglichen Stützgliedern, mit gänzlich rätselhaftem Tun befaßt, unverständlich, nichtig, nicht der Untersuchung wert. Wir wissen ja nicht einmal, wie uns die Tiere wahrnehmen, was sie von uns halten, von uns denken, denn daß sie denken, ist mir, da wir selber zu ihrer Gattung gehören, ziemlich sicher. 

Eine Ameise, so sie zur Reflexion befähigt wäre, würde menschliches Sein und Agieren unbegreiflich finden. Dieser fremde, verfremdende Blick hat mich früh beschäftigt, und ich habe solche Betrachtungsweise auch thematisiert und bin, manchmal indirekt, dazu zurückgekehrt, weil solch Absehen von sich selber, von der eigenen Art als Humanum, letztere in einem eigentümlichen Licht erscheinen läßt, welches eventuell mehr Klarheit erzeugt als die gewohnte Beleuchtung.  (1991)

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Am Anfang war nicht das Wort, sondern das Nichts, das sich symmetrisch auseinanderfaltete, bis etwas - aber wir wissen nicht, was - die Symmetrie störte, und die Evolution anhob, die große Schafferin ihr Werk begann, zu dem wir gehören, Amöbe wie Mensch.  

Doch einmal kommt auch sie an ihrer blinden Weisheit letzten Schluß, der für jegliches gilt: Planeten, Erden, Sonnensysteme, nämlich wenn am Ende das Nichts sich wieder zusammenfaltet und alles ins Plusquamperfekt zurückfällt, das auszusprechen aber niemand mehr da ist: Dann war es gewesen. 

Marginalie zu Erich Jantschs Buch über den Urknall.  (1991)    wikipedia  Erich_Jantsch 1929-1980

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327

Wenn man an einen Gott der Vernichtung glauben wollte: Hinter den Kulissen zieht einer unsichtbar die gesellschafts­politischen Fäden, uns von unseren wahren Interessen abzulenken, welche darin bestehen, mit allen Mitteln uns die Umwelt zu erhalten. Doch die geheime Macht hat uns mit Blindheit geschlagen. 

Die Binde über unseren Augen ist aus Haß und Vorurteil gewebt, aus Ideologie und Irrglauben, aus Genußsucht und Geldgier. Ein Wahrnehmen der eigenen Lage ist uns gar nicht mehr möglich, und selbst wenn einige unter uns sich zu der Wahrheit durchgerungen haben: sie nützt nichts mehr, da die überwältigende Mehrheit in ihre dumpfen Händel verstrickt bleibt. 

5.1994

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Einsprüche gegen das verhängte Urteil sind sinn- und nutzlos: unser Schicksal ist sowohl eindeutig wie unaufhaltsam. Das Schwinden der schützenden Ozon­schicht läßt sich nicht aufhalten, die Folgen sind nicht mehr zu verhindern: Die Erde wird wüst und leer, der Planet der Kakerlaken, die bekannter­maßen gegen harte Strahlung resistent sind. — Eigentlich hätte ich mir unsere Erben hübscher vorgestellt, aber wahrscheinlich wären wir in den Augen der Dinosaurier auch nur eine häßliche Rasse von Kleingetier gewesen, bestenfalls zum Verspeisen geeignet. (Vorausgesetzt, die Dinosaurier hätten uns gekannt und ein entsprechendes Bewußtsein gehabt, was sie, im übrigen, so wenig vorm Aussterben bewahrt hätte, wie es uns davor schützt.) 

Das Denken vom Ende her ist kreuzungsfrei. Im Rückblick nämlich erweist sich der Weg des Homo sapiens bis zum Schluß als Einbahn­straße. Mit dem entsprechenden Crash an der Sperrwand. 

5.1994

328

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    Hoffnung  

 

Unter den vielen Gründen für meine eigene Hoffnungslosigkeit steht obenan auf der langen Liste der durch Fleiß, Einfallsreichtum und Vorahnungs­losigkeit verursachten schleichenden Katastrophen die abgrundtiefe und unbegründbare Hoffnung der meisten Zeitgenossen. Diese Hoffnung, undefiniert, fakten­unkundig, substanzlos, entpuppt sich als säkularisierte christliche Erwartung. 

Was sich heute immer noch Hoffnung nennt und die dringend notwendige Verzweiflung als Agens daseinserhaltender tätiger Einsicht verhindert, war bis zur Aufklärung aufs »Himmlische Jerusalem« gerichtet, danach dann auf die mittels des technischen Fortschritts zu verwirklichende soziale Utopie. 

Mit ihrer Verweltlichung aber hat sich die Hoffnung der Realität ausgeliefert, von der sie stets und ständig desavouiert wird. Um ihres Bestehens willen mußte die Hoffnung vor der Wirklichkeit die Augen verschließen: so entwickelte sich Hoffnung — die groteskerweise auf so etwas wie eine Überlebens­garantie der Menschheit pocht — zu einer wesentlichen Voraussetzung für den unbewußt bewirkten Suizid. 

Die eher autosuggestiv vorgetragene Formel: »Die Menschheit hat noch immer alle Katastrophen überstanden« beweist nur eine bodenlose Einfalt. Denn damit wird gestrige geschichtliche Erfahrung als für alle Zukunft gültig gehalten und zugleich über die persönliche wie allgemeine Indolenz hinweggetröstet. Verkannt wird dabei, daß alle bisherigen Weltuntergänge nur regionale Ereignisse waren; daß aus dieser Kirchturmperspektive nicht das Weltumspannende der Gefahr sichtbar wird. 

Solange auf diese erbärmliche, selbstmörderische Art weitergehofft wird, gibt es für unsere Gattung keine Hoffnung mehr.

(5.1994)

329

Vielleicht ist die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit die globale Seuche von morgen, aus der eine, auf ihre anfängliche Anzahl reduzierte, Mensch­heit zu einem Neubeginn hervorgeht. Wobei ein solcher Neubeginn, nach kurz währender Einsicht, sich einem weiteren Desaster entgegenbewegen würde. Der sogenannte Mensch ist nicht befähigt, seinen Erkenntnissen gemäß zu handeln. Über diese Kluft zwischen Denken und Verhalten führt für ihn keine Brücke. 

Oder doch nur für den einzelnen, für ein Einzelschicksal, zu dessen Schmied einen das Sprichwort verpflichtet, obgleich man dieser Verpflichtung nur in den seltensten Fällen nachkommen kann. 

3.5.1994 

 wikipedia  Creutzfeldt-Jakob-Krankheit 


 

Das Experiment mit der »Biosphäre«, der von der Außenwelt unabhängig gedachten Kunstwelt, zielt eindeutig auf Zukunft. Es handelt sich um die Vorbereitung für jene Zeit, da wir, die Feinde alles Lebendigen, auch unserer selbst, durch die Tötung der uns gewohnten Natur besiegt und zum Rückzug in eine letzte Festung gezwungen worden sind. 

2.1992

 

Sollten wir nicht neben dem Begriff der »Umwelt« zusätzlich den der »Unwelt« einführen, zu welch letzterer die erstere entartet?

2.1992

330

 

Es gibt bei Lichtenberg vorausschauende Hinweise auf künftige Vernichtungsmittel; das meiste davon ist im Übermaß eingetreten. Aber vielleicht hat der Natur­wissenschaftler auch nur gewußt, wessen seinesgleichen fähig ist. 

Wenn etwas gegen den Menschen als vernunftbegabtes Wesen spräche, dann wäre das gewiß sein mangelhaftes Gedächtnis. Doch selbst in solchen Fällen, da ihm die Aufzeichnung das Erinnerungsvermögen ersetzt, ist er absolut unfähig, sich dem solcherart Fixierten — ob Hinweis, Erkenntnis, Mahnung, Warnung — auch entsprechend zu verhalten. 

So liest er seit rund zweihundert Jahren in Lichtenbergs Kladden und Sudelbüchern, mal amüsiert, mal nachdenklich, doch ohne tiefere Einsicht in die Tatsache, daß alle wichtigen Wahrheiten längst gesagt, ja, daß sogar alle Urteile über die Beste aller Welten bereits gefällt sind.

Lichtenberg, ein Naturwissenschaftler ersten Ranges, stellte Hypothesen auf, die vermutlich zu seiner Zeit belächelt wurden und die uns Heutige einen Schauder verschaffen ob ihrer grausigen Weitsichtigkeit. 1789, im Jahr der französischen Revolution, schreibt er etwas auf, wogegen dieses historische Ereignis gegenwärtig wie belanglos wirkt:  »Es wäre doch möglich, daß einmal unsere Chemiker auf ein Mittel gerieten, unsere Luft plötzlich zu zersetzen, durch eine Art Ferment. So könnte die Welt untergehen.«

Dieser unerhörte Geistesblitz, diese luzide Prognose hat sich inzwischen in ein Faktum verwandelt, und dieses heißt: FCKW. Nicht die Kriege, nicht Natur­katastrophen und Wirtschaftskrisen haben die Welt je so gründlich bedroht und ihren zu erwartenden Untergang so unabänderlich vorbereitet wie die Chemiker und die Physiker, von denen einer Lichtenberg gewesen ist, der, aufgrund seines Wissens, kommen sah, wovor wir die Augen nicht mehr verschließen können, sondern nur noch resignierend abwenden. 

2.1992

  wikipedia  Georg_Christoph_Lichtenberg  

331

 

Ein Orkan ungekannten Ausmaßes hat halb Deutschland entwaldet, die Schäden sind unübersehbar. Und die Einwohner leben weiter, als sei das nicht die letzte oder vorletzte Warnung gewesen. 

Vor mehr als zwanzig Jahren las ich in »Bild der Wissenschaft«, daß die Naturkatastrophen, bedingt durch die Klima­veränderung, zunehmen würden. Niemand außer mir scheint diese Nachricht empfangen zu haben. Aber natürlich war es auch schon zu spät für eine Umkehr. 

Nun kommt die Quittung für die Ignoranz früherer Jahrzehnte, ja, von Jahrhunderten. Seit der Antike hausen wir in der Zerstörung, in Landschaftsruinen und lädierter Natur. Und dachten von Mal zu Mal, es wäre die Normalität, welche uns umgäbe. Welch ein »Illtum«! 

Dadurch, daß jede neue Generation ihre Umwelt als selbstverständlich empfindet, die krassen Veränderungen ergo nicht wahrzunehmen vermag, hindert sie — abgesehen von den »ökonomischen Zwängen« — bereits dieser Umstand daran, Rettendes zu unternehmen. 

Aus vielerlei Gründen ist der Untergang programmiert, in uns, in unsere Psyche einprogrammiert, was wir aber keineswegs wahrhaben wollen. 

Zu lange hat man uns als Schöpfungskrone gefeiert, als Kulminations­punkt der Evolution, als das nach seinem Ebenbild von Gott erschaffene Geschöpf. Und nichts als Demut wäre uns angemessen gewesen statt unseres Hochmutes und unserer Einbildung, in diesem total öden Universum was Besseres zu sein ...  

(1.2000)

 

Dieser Tage ist der sogenannte »Klima-Gipfel« gescheitert. Keine Einigung über die Reduktion der Treibhausgase. Ich bin darüber weder empört noch verwundert, denn ich sehe ein Konzept verwirklicht, das ich kenne, weil ich einzig und allein durch mein Dasein daran mitgewirkt habe. - Wie alle, die sich dessen nicht bewußt sind und immer noch strampeln, um den Kopf über Wasser zu halten, obwohl kein Land in Sicht ist.  

29.11.2000

332

 

Jede Politik, die sich dem Untergangsszenario verweigert, die Augen abwendet, die Mutation des Planeten zu einer unbelebten Kugel ignoriert, muß in ihren oberflächlichen Intentionen scheitern. Kosmetik hilft nur über kurze Zeiträume hinweg. 

Verschweigen und kaschieren — das nutzt nichts vor dem Gorgonen­gesicht einer gleichgültigen Natur, die kein Menschengesetz anerkennt. Ihr Gesetz kennt nur Todesurteile, von denen, nach Fauna und Flora, die »willigen Helfer« der Katastrophe als letzte betroffen sein werden. Adieu, Homo sapiens!  

7.2.2001

 

Wir wissen es ja: Die Natur kennt keine Moral, geschweige denn Moralisten. Sie funktioniert nach eigenem Gesetz, das keiner außer Kraft setzen kann. Wie also — ist (politisch inkorrekt) zu fragen — lassen sich Menschen als Bestandteil der Natur durch andere Gesetze leiten? Ist nicht ihre vorgebliche Moralität nur ein rhetorisches Alibi, kraß gesagt, eine Lüge, um sich vor dem eigenen, naturgegebenen Tun zu verstecken? Auch vor sich selber? 

Die Philosophen stellen immer wieder Fragen, und zwar so, daß endgültige Antworten vermieden werden können. 

7.2.2001

#


 

Eben mit einem Gerät das elektromagnetische Feld dieser meiner Schreibmaschine kontrolliert: Warnsignal. Sechs Milli-Gauß. So also ist man nicht allein durch das gefährdet, was man schreibt, sondern daß man überhaupt schreibt. Eine ganz neue Erfahrung! Sollte der Dichter nicht bei den Behörden beantragen, in eine Gefahrenstufe eingeordnet zu werden, um später auf die im Beruf erlittenen Schäden hinweisen zu können? 

Aber war der Bleistift einstmals nicht ebenso gesundheitsbedenklich, da der Bleiabrieb auf dem Papier möglicherweise eingeatmet wurde, respektive in die Poren drang? Glücklicherweise existiert noch keine Liste der von allen »normalen« Tätigkeiten ausgehenden Bedrohungen, und darum dürfen wir uns auch fernerhin den alltäglichen Aktivitäten widmen, ohne ihre Tödlichkeit zu kennen. (»Hier ruht der Dichter X, ein Opfer seines Computers.«)  

7.2.2001


Die Landschaften der Romantiker sahen nie so paradiesisch aus wie auf ihren Gemälden, dennoch erwecken sie in uns Sehnsüchte. Wie friedlich erscheint die Natur, wie dem Menschen geneigt, wie für ihn geschaffen, damit er sich, auf ihren Pfaden wandelnd, wohlfühle. Stille und Ruhe umfangen ihn und füllen ihn aus. Der da wandert, darf sich des Einklanges mit seiner Umgebung sicher sein, ja, sie garantiert ihm sogar eine Sicherheit, wie er sie erträumt haben mag. 

Die romantische Landschaftsmalerei bietet Sedativa opulenter optischer Art. Wer möchte nicht in ein solches Bild hineinschlüpfen, aus seiner aktuellen Misere heraus, um, mit einem Freund neben sich, geruhsam den Mond zu betrachten oder vor der Ruine eines Klosters ungeängstet der eigenen Sterblichkeit nachzusinnen? 

Die Leinwände, selbst wo sie Katastrophen abbilden, wie Caspar David Friedrichs im Eismeer gescheitertes Schiff, bieten einen seltsamen Trost, wahrscheinlich weil sie stets einen Moment von Ewigkeit andeuten, einer Ewigkeit, an die wir den Glauben längst verloren haben.

2001


#

Leute, die der Natur gegenüber uneingeschränkt liebesfähig sind, scheinen mir an einem Bewußtseinsmangel zu leiden. Mir kommt manchmal die Natur, sogar die gebändigte des Gartens, unheimlich vor. Dieses hemmungslose Wachstum von Bäumen und Sträuchern, von Kraut und Unkraut von einem Tag auf den andern, besitzt auch etwas Bedrohliches, was die meisten nicht nachempfinden. Das an der Natur nicht Geheure ist ihre Triebtäterschaft, ihr Wiederholungs­zwang, ihre Ignoranz den eigenen Hervorbringungen gegenüber. Dauernd gebiert sie etwas, um es zu vernichten. Oder, ins »Positive« gewendet, vernichtet etwas, um es aufs neue zu gebären. 

Unsere helfenden Eingriffe, Versuche der »Renaturierung« zerstörter Ökosysteme, sind im Grunde lächerlich. Wir, wir insgesamt, brauchten uns nur von diesem Planeten zurückzuziehen und ihr das Feld zu überlassen, das sie selber und ohne Umweltschutzgesetze »renaturieren« würde.  

2001

334


 

Möglicherweise lieben wir auch die Natur, weil sie sich uns gegenüber gleichgültig verhält, neutral in dem Sinne, daß sie uns einfach ignoriert. Und wenn wir meinen, sie antworte mit einem Gegenangriff auf unseren Vernichtungsfeldzug gegen sie, so will mir das nur als Echo unserer Untaten erscheinen, als der zurückprallende Ball, der uns mitten ins Gesicht fliegt. 

2001

 


 

Noch verweigern Regierungen das Klonen von Menschen, also ihre Duplizierung. 

Doch was man offiziell in Acht und Bann tut, findet — dessen bin ich sicher — insgeheim statt. Wissenschaftler bewiesen in keiner vorhergehenden Epoche eine humane Gesinnung. Was gemacht werden kann, wird gemacht. Ganz gleich, ob es sich um die Wasserstoffbombe handelt oder um die elektronische Überwachung der Planetarier. Entwicklungen lassen sich nicht aufhalten. Wer A gesagt hat, hört doch bei B nicht auf mit dem Buchstabieren. 

Forschen und Realisieren können nicht zum Stillstand gebracht werden, weil daran die Grundlage unserer Existenz hängt — die Industrie, obwohl wir wissen, daß eben diese Grundlage nicht mehr ist als ganz dünnes Eis, in das wir einbrechen werden. Wovon wir leben, daran sterben wir auch. Das habe ich an anderer Stelle bereits gesagt, und jeder Tag bestätigt meine Sicht. Ade, du schöne alte Welt...   

(2001)

335


#

Alles ist von zu frühem Verfall bedroht. Nichts kann sich bis zum Optimum entfalten. Und das Tempo der Destruktion nimmt zu. 

Das Überwältigende und Große alt-ägyptischer Kunst und Architektur beruht auf der Gewißheit ihrer Schöpfer, ausreichend Zeit zu haben, ja, Zeit im Übermaß, so daß man geruhsam, über Jahrtausende hinweg, die Werke vollenden konnte, bestenfalls geringe Modifikationen vornahm. 

Inzwischen jagt eine kulturelle Innovation die andere, keine kann sich über einen längeren Zeitraum hinweg gründlich erproben, wodurch ihre »Verfallsdaten« immer kürzer werden. 

Die von der Industrie übernommene Neuerungssucht macht die Künstler und Literaten atemknapp.

Der Nobelpreisträger Thomas Mann konnte, bis auf wenige Ausnahmen, in seinen Büchern auf Aktualität verzichten, während der Nobelpreisträger Günter Grass mit hängender Zunge dem Zeitgeschehen hinterherkeucht. 

(Die Schwäche der deutschen Gegenwartsliteratur resultiert möglicherweise aus diesem Faktum. Wir können uns der allgemeinen Eile nicht mehr entziehen, doch Eile ist ein schlechter Berater, in jeder Hinsicht.) 

2.1.2000

 


 

Diesen Witz habe ich mir gemerkt: Treffen sich zwei Planeten. Sagt der eine: Du, ich leide an Homo sapiens. Sagt der andere: Macht nichts. Das geht vorüber...  

Wie heißt es beim Klassiker? Sie treiben mit Entsetzen Scherz ... 

Doch diesem Witz ist das Entsetzen entzogen; er lebt von der dem Witz entsprechenden Kurzfassung einer frappierenden Wahrheit und der nun schon gar nicht mehr erschreckenden Tatsache, daß es irgendwann mit der Menschheit zu Ende geht. Noch geistern gewaltige Utopien durch Wissenschaftsmagazine, man könne andere Gestirne, etwa den Mars, besiedeln, als sei das Individuum ein Apparat, einstellbar auf jegliche denkbaren Verhältnisse. 

Freilich wird bei solchen haltlosen Träumen unterschlagen, daß nicht das nackte physische Dasein als Überleben bezeichnet werden kann, wobei die Psyche keine Rolle spielt. Als wäre nicht gerade sie die allerwesentlichste Stütze unserer Existenz; wo sie ignoriert wird, wo sie entwertet wird, verliert auch der Mensch seine Energien zum Durchhalten und Weitermachen. Der sich selbst überlassene Körper ist zum Absterben verurteilt. 

29.1.2000


 

Das wortreiche Verstummen der Erdbewohner verkündet das Ende für ihren Wohnort. Von der Bürde schwerwiegender nichtssagender Wörter gebeugt, dem Joch der Euphemismen, zerfurchen sie die freien Plätze und besäen sie mit Gift und Beton. Ihr verständnisloser Blick bekennt, daß sie in eine zufällige biologische Form gebannte Erzeugnisse der eigenen Verwirrung sind. 

Ob wer einen Bart trägt oder dieser seinen Stolz zur Schau, ob jene ihre Brüste frei oder diese die ihren versteckt, tritt oder getreten wird — Tretwerk, Gerät, was sich da rastlos regt, abläuft, funktioniert, bewegt: nichts als Symptome einer Krankheit, als der Zwang zur Reduktion, für die es kein Heilmittel gibt und auch das Kraut dagegen längst ausgejätet ist. 

Das schamlos öffentlich Erbrochene, die Sprache, verursacht keine Besorgnis, kein Entsetzen, kein Verlangen nach Abhilfe, weil jeder Versuch vergeblich wäre. Die Ahnung dessen trägt zumindest mancher mit sich, wie der in Wüsteneien Verschlagene eine zerbrochene Wasserflasche.

21.12.1999


Und trotzdem bringt man den Garten in Ordnung, pflanzt Büsche und Sträucher, legt Wege an und mäht das Gras, als würde es nicht eines Tages, Carl Sandburg zufolge, alles überdecken und mit der verklungenen Stimme des Dichters sagen: »I cover all!«    wikipedia  Carl_Sandburg   1878-1967


Schwache Signale von Pioneer 10: 
Von der amerikanischen Raumsonde Pioneer 10 sind im Dezember wieder einmal schwache Signale empfangen worden: Demnach sind die Stromgeneratoren, die die beim Zerfall radioaktiver Isotope entstehende Wärme in elektrische Energie umwandeln, immer noch intakt. Pioneer 10 ist Anfang März 1972 zur Erforschung des Jupiters in den Weltraum gebracht worden. Ende März 1997 wurde die wissenschaftliche Mission der Sonde endgültig beendet; Pioneer 10 befindet sich derzeit 12,1 Milliarden Kilometer von der Erde entfernt. Die Signale benötigen mehr als elf Stunden dazu, diese Distanz zu überbrücken. 
FAZ

Beim Start der Sonde war ich gerade in den USA. Vor dreißig Jahren. Auch ich gebe noch schwache Lebenszeichen von mir, insbesondere schriftliche, weil meine Mission noch nicht beendet ist. Auch bin ich nur, Kopf eingerechnet, einen Meter sechsundsiebzig von der Erde entfernt, was nicht bedeutet, daß die Signale meines Hirns weniger Zeit benötigen, um aufgezeichnet zu werden. - Analogien überall. Das Wundern hat aufgehört. Alles ist kompatibel geworden oder meinetwegen paradigmatisch. Sela!   

  2002 


338

Ende

 

 

 

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Günter Kunert  -  Die Botschaft des Hotelzimmers an den Gast