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    9  Die ersten Zeichen     Löbsack-1974 

Psychische Störungen —  Manhattan-Studie — Kinder in der Erwachsenenwelt: unablässige Stimulation bei gleichzeitiger Behinderung — Der Mitmensch als Sache — Leistungsdruck in der Industrie­gesellschaft — Die Unfähigkeit, erholsamen Urlaub zu machen — Ein falscher Prophet — 1973: 76 Millionen Menschen mehr auf der Erde — Hunger in der Sahel-Zone — Nahrung aus dem Meer: warum die Hoffnungen trügen — Arbeitslosigkeit, Inflation, Unzufriedenheit, Kriminalität und Selbstmordrate.

 

254-295

Es ist merkwürdig, daß wir zwar zunehmend über bedrohliche Vorgänge auf der Erde klagen: über die Rohstoffverknappung, über Terror und Gewalt, über die Bevölkerungs­lawine, die Belastungen durch den Leistungsdruck in der Industriegesellschaft und manches mehr, aber niemand auf die Idee zu kommen scheint, es könnte all dies ein Indiz für Schwerwiegenderes sein — nämlich erste Zeichen für den bevorstehenden Untergang unserer Art. 

Woher nehmen wir eigentlich unsere Unbekümmertheit? Warum nennt niemand die Katastrophe beim Namen? Liegt es daran, daß wir die Bedrohlichkeit einer Situation um so weniger erkennen, je langsamer sie sich aus harmlosen Anfängen entwickelt? 

Aber wenn überhaupt: Wie anders als allmählich - gewissermaßen schleichend - sollte ein Verfall der Art Homosapiens einsetzen, wenn wir von einem Atomkrieg absehen? 

Noch immer — auch im fortgeschrittenen Stadium — wirken ja kompensierende, gegensteuernde Regelgrößen, und das Menschenhirn wird nicht zögern sich zu wehren, wenn es sich bedroht fühlt. Verdrängen wir nicht auch täglich den Gedanken an den persönlichen Tod? 

Wir wissen um die <Macht des positiven Denkens>, aber auch sie ist nur eine Schutzfunktion, die zwar individuellen und kurzfristigen Erfolg bringen, nicht aber langfristige Trends abwenden kann, weil sie letztlich eine Vogel-Strauß-Methode ist.

Machen wir uns nichts vor:  

Zwar gibt es immer noch genügend Medikamente und Impfseren, um Seuchen zu bekämpfen, zwar wachsen unsere medizinischen Kenntnisse. Aber die Zahl der Kranken nimmt ständig zu, vor allem bei den psychischen Leiden.

Wohl hat uns die Ölkrise an die Begrenztheit unserer Energiereserven gemahnt, aber der Schock verpuffte. Nach kurzem Schrecken gingen wir zur Tagesordnung über und zahlen lieber jeden Preis, als daß wir die fortschreitende Ausbeutung der Ölquellen reduzieren und auf unsere Bequemlichkeiten verzichten. 

Wohl wiegen uns Butter- und Zuckerberge in Sicherheit, aber zunehmend kommt es zu katastrophalen Hungersnöten in der Welt. Auch den Erbverfall, den Ethik, Moral und Medizin mitbewirken, nehmen wir nicht ernst. Er ist kein Vorgang wie ein plötzlicher, aufflackernder Brand, den die Feuerwehr rasch unter Kontrolle bringen kann, sondern ein unter der Oberfläche sich ausbreitendes Geschehen, dessen Tragweite erst Generationen später deutlich wird.

Diese Hinweise zeigen schon, daß am Untergang der Menschheit mehrere Ursachen beteiligt sein können. Mag den Todesstoß einst auch ein einzelner Faktor führen, so haben doch mehrere zuvor den Boden bereitet, haben den Patienten Menschheit reif gemacht für den Exitus, wie Verschleiß­krankheiten den Greis erst schwächen, bis ihn die »Krankheit zum Tode« schließlich dahinrafft.

Es soll nicht der Sinn dieses Kapitels sein, möglichst vieles von dem aufzuzählen, was an Symptomen für den Verfall, für die biologische Schwächung unserer Art, gewertet werden kann. Ein solcher Katalog würde in seiner Vielgestalt vielleicht zu spekulativ ausfallen. Wir wollen uns auf Offenkundiges beschränken. Nach allem, was in den vorangegangenen Kapiteln beschrieben worden ist, zeichnen sich fünf große Bereiche ab:

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Erstens die psychischen Auswirkungen des Lebens in der modernen Leistungsgesellschaft unter den Bedingungen zunehmender Pferchung, wie sie in den Ballungsräumen der Erde bereits erkennbar werden: Ausdruck der Unfähigkeit des Großhirnwesens Mensch, seine Bevölkerungs­zahl und sein Verhalten den selbstgeschaffenen Umweltbedingungen harmonisch anzupassen.

Zweitens die wachsende Ernährungskrise. Verantwortlich für sie ist vor allem die sogenannte Eiweißlücke. Bezeichnend für sie sind Hungers­nöte eines neuen Charakters, wie etwa in Indien oder in der afrikanischen Sahel-Zone.

Drittens die einsetzende Rohstoffknappheit. Sie äußert sich in sprunghaft steigenden Preisen, Wirtschaftsdepressionen, Inflation und Arbeits­losigkeit, daraus folgendem politischen Terror und Gewalt. Teilweise überschneiden sich die Folgen mit denen der Ernährungskrise.

Viertens die Zunahme von Erbkrankheiten — das Absinken des Bildungsstandes weiter Bevölkerungs­kreise in den Entwicklungs­ländern und das anwachsende Analphabetentum als Hindernis für einsichtiges Verhalten zugunsten des Überlebens der Art.*

Fünftens die Unfähigkeit des menschlichen Gehirns, weltweite, von zahlreichen variablen Regelgrößen beeinflußte Entwicklungstendenzen zu durchschauen und in kollektiver Anstrengung so zu steuern, daß die Umweltverhältnisse ein streßfreies, befriedigendes Leben ermöglichen: ein Leben, in dem jeder seine Fähigkeiten weitgehend entfalten und ein hohes Maß an Glück erreichen kann.

 

Wer nach Zeichen dafür sucht, wo die Psyche des Menschen unter den gegenwärtigen Lebensbedingungen schon Schaden leidet, der hat es nicht schwer, sie zu finden. Aufschlußreiche Hinweise dazu hat unlängst eine ärztliche Fragebogen-Aktion erbracht. Sie wurde von den Psychiatern Professor W. Walcher (Graz), Dr. W. Pöldinger (Wien) und Professor P. Kielholz (Basel) veranlaßt. Befragt wurden etwa 10.300 vorwiegend niedergelassene Ärzte (ohne Psychiater) in der Schweiz, Österreich und der Bundesrepublik Deutschland. Knapp 4000 füllten die Fragebögen aus und schickten sie zurück. 

 

* detopia-2010: Eine Anmerkung: Das Absinken der Bildung gilt heutzutage auch für die Industrieländer, auch für Deutschland. Und ebenso gilt auch, daß dadurch wenig ökologischen Reden/Bücher das Ohr/Leser erreichen. 

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Aus den Antworten ergab sich ein Bild, das Pöldinger zusammenfaßte: »Alle Kollegen vertreten die Meinung, daß sowohl psychische Störungen überhaupt als auch Depressionen im speziellen zunehmenWalcher führt das Ergebnis auf »die anhaltenden Belastungsfaktoren unserer heutigen, dem unabdingbaren Leistungs- und Erfolgsprinzip unterstellten, unbiologischen Lebensführung« zurück.

Ähnliche Befunde erhält man auch aus anderen Ländern, von anderen Ärzten und Statistikern. Der deutsche Psychologe und Fachschriftsteller Dr. Wolfgang Schmidbauer findet: 

»Nach vorsichtiger Schätzung leidet mindestens ein Drittel der rund zwölf Millionen Westdeutschen, die Jahr für Jahr in den Warte­zimmern der Ärzte sitzen, an Beschwerden, die durch seelische Spannungen verursacht sind. Wie Ronald Laing gesagt hat, ist die Chance, daß ein heute geborenes Kind einmal in seinem Leben in eine Nervenklinik kommt, rund zehnmal so groß wie die, daß es einmal eine Universität besuchen wird.«

Naturgemäß kann man keine ganz exakten Zahlen dafür ermitteln, wie viele Personen aus einem bestimmten Bevölkerungskreis zu einem bestimmten Zeitpunkt psychisch krank sind. Schwierigkeiten bereitet schon der Ausdruck »psychisch krank«. Faßt man den Begriff bewußt weit, so sind darunter mindestens alle jene Menschen zu verstehen, die wegen eines persönlich empfundenen Gefühls, seelisch krank zu sein, den Arzt aufsuchen und behandelt zu werden wünschen. 

Tatsächlich ist der betroffene Kreis jedoch weit größer. Er umfaßt auch alle diejenigen, die nicht zum Arzt gehen, aber doch — entweder dauernd oder zeitweise — an psychischen Störungen leiden, darunter anhaltende Verstimmungen, Depressionen, Angstzustände und ähnliches. Vor allem Schlafstörungen gehören dazu: Stundenlanges Wachliegen aus allgemeiner Existenzangst, wegen wirtschaftlicher oder zwischenmenschlicher Probleme — eine psychische Verfassung, aus der dann Auswege im Gebrauch — und nicht selten Mißbrauch — von Schlafmitteln gesucht werden.  

* Schmidbauer bei detopia 

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Unter Anwendung eines strengen Maßstabes einerseits und eines weniger strengen andererseits ist bereits in den fünfziger Jahren unter 110.000 Einwohnern des Stadtteils Manhattan von New York eine Befragung durchgeführt worden. Manhattan ist ein ausgesprochen großstädtischer Bezirk mit allen Merkmalen dessen, was der Begriff »Großstadt« im Extremfall umschließt. Das Ergebnis war mehr als bedrückend. Es zeigte sich, daß nahezu jeder vierte — nämlich 23,3 Prozent der Bewohner — ernsthaft psychisch erkrankt war. Wurde das Merkmal »psychisch krank« großzügiger ausgelegt, so kamen die Untersucher sogar auf 80 Prozent der Einwohnerschaft von Manhattan. Allein drei Viertel aller Befragten erklärten, sie litten zeitweise unter Angstzuständen.

Das gleiche Bild ergab sich etwa zur gleichen Zeit in einem weit weniger großstädtischen Raum — im Regierungsbezirk Stirling Country in Neuschottland. Hier war jeder zweite Erwachsene entweder psychisch krank oder verhielt sich zumindest psychisch auffällig. Auch in der Bundesrepublik Deutschland leben verhältnismäßig viele Menschen, die eigentlich einer psychiatrischen Behandlung bedürften. Nach einer Schätzung fallen darunter etwa 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung, nicht eingerechnet die leichteren Fälle.

Aus einigen Untersuchungen geht hervor, daß die schwereren Fälle psychiatrischer Erkrankungen überwiegend aus den dichtbesiedelten Stadtkernen stammen. Noch interessanter ist: Es gibt einen Zusammenhang zwischen psychischen Krankheiten und der sozialen Schicht. So trifft man Geistes­krankheiten, Charakterstörungen und schwere Neurosen bei den Angehörigen niedriger und mittlerer Einkommensklassen in aller Regel häufiger an als bei Personen aus der sogenannten gehobenen Schicht. Bei diesen wieder ist das Risiko größer, an leichteren Neurosen zu erkranken.

Die Manhattan-Studie zeigte: Die unteren sozialen Schichten litten etwa dreimal so häufig an Psychosen und Charakterstörungen und etwa doppelt so häufig an schweren Neurosen als die gehobenen sozialen Schichten. Die Gründe für dieses unterschiedliche Verhalten liegen weitgehend im dunkeln.

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Fragt man nach den Ursachen für die Zunahme psychischer Erkrankungen überhaupt, so gilt zunächst festzuhalten: Alle diese Störungen und Leiden, von denen grob geschätzt die Hälfte aller Menschen mit steigender Tendenz betroffen sind, gibt es bei wildlebenden Tieren nicht. Es müssen ihnen spezifisch menschliche Gründe zugrunde liegen, die entweder aus dem Lebenslauf oder den Lebensumständen der Betroffenen herrühren, oder aber aus der fortschreitend »technischer«, also eigentlich unmenschlicher werdenden Umwelt des Naturwesens Mensch. 

Der deutsche Gesellschaftskritiker Georg Picht nennt diese Krankheiten ein Produkt der künstlichen Welt, und da diese künstliche Welt der zukünftige Lebensraum der gesamten Menschheit sei, würden die Zivilisationskrankheiten in Zukunft die psychophysische Verfassung der Menschen noch weit stärker bestimmen als heute. Weiter sagt Picht

»Die Expansion der Wirtschaft, der Fortschritt der Technik und der Prozeß der Gesellschaft im ganzen wird dadurch erkauft, daß sich die Kranken­häuser, die psychiatrischen Kliniken und die Gefängnisse mit unzähligen Opfern dieses Prozesses füllen. Die Zahl der Opfer muß um so größer sein, je reibungsloser die Maschinerie funktioniert.«

 Picht bei detopia 

Besonders empfindliche Indikatoren für diese Entwicklung sind unsere Kinder. Es ist in diesen Jahren viel die Rede von antiautoritärer Erziehung, vom »Protestverhalten« der jungen Generation und vom Auseinanderfallen der familiären Bindungen. Ist dies nicht letztlich ein Ausdruck dafür, daß die Jugendlichen unter der Gesellschaft leiden, in der sie leben? Offenbar sehen sie sich, wie dies der Kieler Jugendpsychiater Professor H. W. Löwnau ausdrückt, als Teile einer Massengesellschaft, »in der weniger Kontakt, aber um so mehr Gedränge herrscht«.

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Die Wurzeln der Verunsicherung, meint Löwnau, lägen nicht zuletzt im Erlebnis einer technokratischen Krise, die die vertraute Umwelt unaufhaltsam wandele, in der Haltung einer emanzipierten Jugend, die weitgehend unhistorisch denke und den Vorteil des »Nullpunktes« für sich beanspruche, von dem aus jeweils neu zu beginnen sei.

Die Wurzeln lägen aber auch in Enttäuschung, Angst und Neid der Erwachsenen­generation sowie in einer latenten Ratlosigkeit hinsichtlich der Zukunft.

Löwnau beklagt, daß schon die Kinder dem Lärm unserer Industriewelt ausgesetzt seien, er verweist auf die Allgegenwart der Massenmedien und die bedrohliche Einengung der Kinder und Jugendlichen. In der Tat provoziert gerade die räumliche Beengung den Konflikt: Die natürlichen Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen werden mißachtet. 

In zu kleinen, hellhörigen Wohnungen wird ihr Aktionstrieb gebremst, die Spielplätze werden mehr nach ästhetischen oder architektonischen Gesichts­punkten statt nach den wirklichen Wünschen der Kinder angelegt. In Parks und auf Wiesen stehen Verbots­schilder. Hochhäuser als Wohnsilos erschweren den Kontakt mit der Natur. Löwnau diagnostiziert: »Unablässige Stimulation bei gleichzeitiger Behinderung.«

Die Konfliktsituation ist geradezu klassisch. Das Gehirn ist überfordert von der Aufgabe, sich an unbiologische, der Natur des Menschen widersprechende Umweltverhältnisse anzupassen, Verhältnisse, die der Mensch selber geschaffen hat und die er obendrein mit einer Geschwindigkeit verändert, die das notwendige »Mitgehen« nahezu unmöglich macht.

So verliert, folgert Löwnau, der moderne Mensch immer mehr das Gefühl für das Eingebettetsein in die Umwelt. Das sei ein Tatbestand, der sich seit etwa einem Jahrhundert immer deutlicher zeigt. Die industrielle Umwelt erzeuge Verlorenheits- und Entfremdungserlebnisse. Schon dem Kind, das in noch stärkerem Maße in seiner subjektiven Welt lebt, erschwere sie den Aufbau emotionaler Bindungen. Die Landschaft schwinde dahin, sie werde durch technische Konstruktionen ersetzt. Der Verkehr zerschneide das Gelände. Ständig stoße das Großstadtkind auf Dinge, deren Zweck es nicht verstehe und die es weder zum Mittun noch zur Anteilnahme anregten. 

Hinzu komme die latente Ratlosigkeit der älteren Generation, der Kompetenzverlust des Vaters in der Familie.

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Das Überangebot an materiellen Gütern führt dazu, daß für fehlende zwischenmenschliche Bindungen Ersatzbefriedigungen im bloßen Sinnesgenuß gesucht werden — der wachsende Alkoholkonsum Jugendlicher ist ein Symptom dafür. Die Kinder fühlen sich der Kompliziertheit des Lebens nicht gewachsen, sie sehen keine Zukunft. Darum finden sich auch immer häufiger angstneurotische Schulversager. Jugendliche Kriminelle und Drogenabhängige werden zahlreicher. 

 bing  heinz-walter+loewnau 

Zu verwundern ist das nicht, wenn man bedenkt, in welchem Maße jungen Menschen heute die Möglichkeit fehlt, unter dem Ansturm von Reizflut und psychischer Manipulation die eigenen Talente zu entfalten und die Erfüllung ihrer Wünsche zu erleben

Die vielen Depressiven unserer Zeit, vor allem die vielen jugendlichen Depressiven, sind lebendige Zeugen für gescheiterte Versuche, sich selbst zu verwirklichen, ja sogar dafür, daß diese Versuche gar nicht erst gemacht werden konnten. Im Zusammenhang damit steht das Problem der »inneren Leere«, einer Gemütsverfassung, für die Vergeblichkeitsgefühle, Unlust, Ausweglosigkeit, Passivität, »Sich-hängen-Lassen«, Interesselosigkeit und Nieder­geschlagen­heit bezeichnend sind.

Wie kommt die »innere Leere« zustande?  

Ihre wesentlichen Ursachen hat sie in dem eben Geschilderten. Hinzu kommt für viele der Verlust eines metaphysischen Haltes. Namentlich im westlichen Kulturkreis finden sich heute Verunsicherte im Glauben, denen die alten Heilslehren nichts mehr geben können, weil sie unglaubwürdig geworden sind und neue, glaubwürdige, nicht existieren. 

Aber das ist nicht alles.

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Eine weitere Ursache der inneren Leere dürfte die abnehmende Neigung des Menschen unserer Epoche sein, Risiken einzugehen. Wir versichern uns gegen alles und jedes, von der Krankheit über die Gefahr, gekidnappt zu werden, bis hin zum Verlust des Schoßhündchens. So haben wir zeitweilig zwar die Illusion, es könne uns nichts passieren, aber die Kehrseite solcher Absicherungen ist der Verzicht auf die immer neue Anspannung der Kräfte.

Im selben Maße, wie der Kampf ums Überleben seine elementaren physischen Züge verliert und anderen Formen mehr psychischer Auseinander­setzung Platz macht; im selben Maße, wie das System von Sicherungen gegen soziale Unbill perfekter wird, läßt auch die Leistungs­bereitschaft nach.

Hinzu kommt, daß die wenigsten Menschen heute noch die Chance haben, kreativ nach ihren eigenen Vorstellungen zu leben und zu arbeiten. Die Mehrheit ist den Zwängen des Berufs unterworfen, verrichtet Arbeiten, deren Ablauf sie nicht selbst bestimmen kann und deren Ergebnis ihnen mehr oder weniger gleichgültig ist oder sein muß. 

Den normalen, kompensationsfähigen Zeitgenossen wird dies freilich nicht gleich umwerfen. Er findet in Hobbies, im Sammeln, bei Sport und Spiel Ausweich­möglichkeiten, die ihn aktiv halten. Nicht so der labile, der von der Anlage her Depressive: Er schlafft ab, wird lustlos, deprimiert — ein Opfer der leistungs­besessenen Industrie­gesellschaft mit ihrem zugleich hochent­wickelten Sozialsystem.

Besonders typische Vertreter dieser Menschengattung finden wir in den Ballungszonen der Erde, den großen Städten und Stadtland­schaften mit ihrem Millionenheer von Bewohnern, mit Menschen, die zuweilen jahrelang nebeneinander leben, ohne sich zu kennen

Da die Großstadt - allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz - einen wesentlichen Faktor für die zunehmende psychische Belastung des Menschen darstellt, da diese Stadtlandschaften und Ballungsräume in Zukunft einen immer größeren Teil der besiedelbaren Erdoberfläche einnehmen werden, müssen wir uns noch eingehender mit dem krankmachenden Einfluß des Lebens in diesen Gebieten befassen.

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Das Zeitalter der modernen Stadt begann vor etwa 150 Jahren gleichzeitig mit der von Wissenschaft und Technik ausgelösten Industrialisierung und der erstmals fühlbaren Beschleunigung des Wachstums der Erdbevölkerung. »Urbanisierung« ist das Stichwort.

Vereinzelt sind große Städte freilich schon sehr viel früher gegründet worden. Das berühmte Ur, eine der ersten menschlichen Großsiedlungen im »Zwischen­stromland«, soll vor fünf Jahrtausenden entstanden sein. Andere Städte folgten, aber so attraktiv das Leben in der griechischen Polis, im antiken Rom, in den mittelalterlichen Städten für viele Menschen auch gewesen sein mag, so verlockend es war, in ihren Mauern Glück und Schutz zu suchen, so lebte doch bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts der größte Bevölkerungsteil noch auf dem Lande. Bis zum Jahre 1885 gab es schätzungsweise erst zehn Städte auf der Erde mit mehr als einer Million Einwohner, nämlich Rom, Angkor, Hang-tschou, Peking, Tokio, London, Paris, New York, Berlin und Wien.

Die Millionenstädte sind also eine verhältnismäßig späte Errungenschaft des Menschen — und eine durchaus zweischneidige. »Ich habe das Merkwürdigste gesehen, was die Welt dem staunenden Geiste zeigen kann«, schrieb Heinrich Heine im Jahre 1828 aus der englischen Hauptstadt. 

»Ich habe es gesehen und staune noch immer — noch immer starrt in meinem Gedächtnis dieser steinerne Wald von Häusern und dazwischen der drängende Strom lebendiger Menschengesichter mit all ihren bunten Leidenschaften, mit all ihrer grauenhaften Hast der Liebe, des Hungers und des Hasses — ich spreche von London.«

Von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wurde der Reiz des Stadtlebens immer größer. Um die Jahrhundertwende sollen 19 Städte der Welt mehr als eine Million Einwohner gehabt haben. Dann ging es rasch: Eine Zahl aus dem Jahre 1962 nennt 141 Millionenstädte — wie viele es heute sind, weiß niemand genau. Die »Landflucht« ist zu einem Problem geworden, und das vor allem in den unterentwickelten Ländern. Dort verdoppeln sich die Stadt­bevölkerungen alle elf Jahre — eine gefährlich kurze Zeit.

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Der Entschluß eines Menschen, in eine große Stadt zu ziehen, mag verschiedene Gründe haben. Offen geblieben ist bis heute die Frage, ob es vor allem starke Naturen sind, die sich in der Stadt bessere Möglichkeiten des Fortkommens erhoffen, oder ob es die schwachen sind, die sich in der Anonymität, im Menschengewühl, in der vermeintlichen Geborgenheit der Häuser- und Steinwüsten größere Überlebens­chancen ausrechnen. Fest steht: Der Sog der Großstädte hält an. Wie von Magneten fühlen sich immer mehr Menschen von den steinernen Meeren angezogen, um dann freilich auch die Kehrseiten der glanzvollen Fassaden zu erblicken.

Auf der Stockholmer Umweltschutz-Konferenz im Juni 1972 haben die Städteplaner und Streßforscher Gösta Carlestam und Dr. Lennart Levi vom Stockholmer Karolinska Krankenhaus über eingehende Untersuchungen referiert, die sie in den vorangegangenen Jahren über das Phänomen »Großstadt« angestellt hatten. Danach ist der durchschnittliche Großstadtbewohner einer fortgesetzten zeitlichen Aufeinanderfolge von übermäßigen Reizen einerseits und »Leerlauf«, also fehlender Anregung andererseits, ausgesetzt, vergleichbar dem psychischen Wechselbad eines Show-Stars, der allabendlich nach turbulentem Bühnenauftritt in die Einsamkeit seines Hotelzimmers oder Wohnwagens zurückkehrt, wenn sich keine Zerstreuung mehr bietet. 

Zu der Überschwemmung mit Lärm und Lichtkaskaden, dem Verkehrsgewühl und dem Menschengedränge steht der mangelhafte oder fehlende Kontakt zum Mitmenschen im auffälligen Gegensatz. Der Vereinsamte, erklärten die Referenten in Stockholm, fliehe aus der Abgeschiedenheit seiner Wohnung in die laute Umwelt. Von dort kehre er überstimuliert in seinen engen Lebensraum zurück, wo die große Langeweile auf ihn warte, wo er ein quälendes Vakuum vorfinde, das er nicht ausfüllen kann.

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Es kann nicht überraschen, wenn das unablässige geistig-seelische Kontrastprogramm auch den Menschentyp des durchschnittlichen Großstädters prägt. Das anonyme Leben inmitten eines Massenaufgebots an Menschen, das Bewußtsein, einerseits Teil dieser Masse zu sein und doch Individuum, das hoffnungslos nach Individualität verlangt, dieser Zustand bewirkt Veränderungen der Persönlichkeit. Er fördert Neurosen, wenn er längere Zeit währt, er macht mißtrauisch, aggressiv, nicht selten ängstlich.

Menschen wie Tiere brauchen aber neben Wärme und Liebe auch einen minimalen Raum um sich herum, damit sie sich wohl fühlen können. Das demonstrieren schon die Schwalben auf der Überlandleitung. Sie achten darauf, daß keine der anderen zu nahe kommt, sie halten »artgemäßen Abstand«. Das gleiche gilt von uns Menschen: Kommt uns einer zu nahe, so empfinden wir dies als Einbruch in den persönlichen Hoheitsbereich. Spricht uns jemand aus weniger als einem halben Meter Entfernung an, so weichen wir zurück, fühlen uns belästigt, unangenehm berührt, ja reagieren mit Feindseligkeit. Wir lassen uns nicht gern »zu nahe treten«.

Man kann auch sagen: Lebewesen, die höheren zumindest, tragen einen unsichtbaren räumlichen Mantel mit sich herum, eine Intimzone, die nicht verletzt werden darf, ohne daß es zu Störungen käme. Ausnahmen machen da nur die Liebenden, die die körperliche Nähe suchen, oder der Mensch bei Spiel und Tanz. Im täglichen Leben aber, beim Umgang mit Fremden zumal, gilt die Regel: »Bitte Abstand halten.«

Es gibt sogar Hinweise dafür, wie groß dieser Mindestabstand von Mensch zu Mensch sein muß, und daß er von Kulturkreis zu Kulturkreis wechselt. Die Japaner, so heißt es, brauchen etwa 90 Zentimeter, die Südamerikaner weniger, die Europäer mehr. Wie stark das Bedürfnis des Menschen ist, seinen persönlichen Umraum gewahrt zu wissen, zeigt sich in kleinen Begebenheiten: Setzt sich ein Spaziergänger auf eine freie Bank im Park, so wird er selten die Mitte wählen, sondern sich auf eine Seite setzen. 

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Er wird dies tun, um nicht von links und rechts her »beengt« zu werden, wenn andere auf der Bank Platz nehmen. Oft wird er dann noch eine Tasche oder einen Gegenstand, der ebensogut am Boden abgestellt werden könnte, neben dem eingenommenen Platz auf die Bank legen, um auf jeden Fall zu vermeiden, daß sich ein anderer zu nahe setzen könnte.

Ähnlich verhalten sich die Besucher eines Restaurants: Sie halten zuerst nach einem Ecktisch Ausschau, nach einem Tisch an der Wand oder am Fenster, bevor sie sich, wenn diese besetzt sind, für einen »ringsum bedrohten« Mitteltisch entschließen. Spielt hier ein stammesgeschichtliches Erbe mit? Kommen wir so rasch nicht von jenen Jahrmillionen los, in denen unsere Ahnen in der Geborgenheit der Höhlen lebten? Damals hatte man die schützende Wand noch ganz konkret im Rücken. Rühren manche unserer Probleme heute daher, daß wir die Wand nicht mehr spüren?

Die unbewußte Suche nach Geborgenheit hat etwas vom »Einigeln« an sich, und es ist — sicher nicht von ungefähr — beim Großstädter als dem psychisch besonders Bedrängten auch besonders ausgeprägt. Der japanische Soziologe Professor Hidetoshi Kato aus Kyoto hat diese Zusammenhänge eingehend untersucht:

»Es steht fest, das das <Einigeln> des Menschen eine Massenerscheinung im Leben unserer Stadtgesellschaften ist. Im Gegensatz zu den Menschen in ländlichen Gemeinden, die einander auf der Straße grüßen, beachten wir den einzelnen im geschäftigen, drangvollen Großstadtgewühl nicht. Natürlich haben die Dörfler noch traditionelle Gemeinschaftsbindungen, aber es hat den Anschein, daß sich die Menschen bei geringer Bevölkerungsdichte ohnehin füreinander interessieren. In dicht besiedelten Städten dagegen sind wir an anderen Menschen nicht interessiert und können es auch nicht sein. 
Da jeder einzelne sich noch nicht einmal den Mindestraum sichern kann und da Stadtbewohner ständig gegenseitig ihren persönlichen Umraum verletzen, ist das einzig mögliche Ergebnis beim Individuum ein schwerer, furchtbarer Streß, wenn er sich für andere Menschen als <Personen> interessiert. Der beste und sogar einzige Ausweg aus der Streßlage ist, eine Person nicht als Person zu betrachten, sondern als <Sache>. Es ist für einen Menschen unerträglich, eine Person lange Zeit hindurch auf eine Entfernung von 30 Zentimetern wahrzunehmen. Das Vorhandensein einer Sache, etwa Gestein, auf dieselbe Entfernung erträgt er dagegen. Sachen sind in Ordnung, aber nicht Menschen. Daher versuchen wir, die Menschen um uns herum zu <verdinglichen>.«

Weiter sagt Kato: 

»Ein Journalist hat das Verhalten der Fahrgäste in einem überfüllten Pendlerzug beobachtet. Er fand, daß sie ausnahmslos sich <privat> beschäftigen: Sie lesen ein Taschenbuch, dösen oder starren aus dem Fenster. Wenn ein Passagier nicht nach draußen schauen kann, senkt er die Augen oder ist jedenfalls bemüht, den Blick nicht mit anderen zu kreuzen. Für das Individuum müssen die anderen eben <Sachen> sein. Steinen braucht man kein menschliches Interesse entgegenzubringen. Menschen vom Lande, die in die Großstadt kommen, <berauschen> sich an den Menschen, weil sie psychologische Bindungen zu anderen eingehen. Der Stadtbewohner hat ein hohes Geschick, die zahllosen Menschen um sich herum als eine bloße riesige Anhäufung nichtssagender <Sachen> wahrzunehmen, wie auf einem Müllplatz.«

Was Kato da sagt, klingt hart, und man muß es wohl relativieren. Doch im Grunde hat er mit seinen Überlegungen recht, zumal wenn er findet: 

»Einerseits gibt es viele Menschen, andererseits gibt es niemanden. Es gibt nur eine Riesenanhäufung einander entfremdeter Personen ohne gegenseitige Gemeinschafts­wirkung.«

goog  Hidetoshi+Kato+Soziologe

Ist es verwunderlich, wenn sich Menschen immer weniger umeinander kümmern, wenn die zwischenmenschlichen Beziehungen erlahmen und der »Nächste« immer weniger als Wesen mit einem persönlichen Schicksal empfunden wird, als Mensch aus Fleisch und Blut, der Freude und Leid empfindet, sondern im Sinne Katos nur noch ein Umweltbestandteil ist?

266-267


Wenn der Verfall mitmenschlicher Zuwendung dann noch einhergeht mit einem unbefriedigenden oder psychisch stark belastenden Beruf, so ist es oft nur eine Frage der Zeit, bis sich Gereiztheit oder aggressive Stimmungen einstellen, bis es zu Schlafstörungen, Medikamenten-, Alkohol- oder Nikotinmißbrauch kommt. Die Leistungsgesellschaft fordert dann ihre Opfer. Sie wirkt als krankmachender Faktor, und die Großstadt erweist sich letzten Endes als Brutstätte für Neurosen.

Für das, dem der Mensch sich unter solchen Einflüssen ausgesetzt sieht, haben wir auch den von dem Deutschkanadier Hans Selye geprägten Begriff des Streß. Selye verstand darunter allgemein die leibseelische Reaktion auf ungewohnte Belastungen, und es ist bezeichnend, daß bei einer Umfrage des Bundes­gesundheits­ministeriums Anfang der siebziger Jahre jeder zweite deutsche Bundesbürger zwischen 14 und 70 Jahren sich als »unter Streß« leidend bezeichnet hat.

Streß geplagte vor allem im mittleren Lebensalter bevölkern heute die einschlägigen Sanatorien, deren Betrieb zu einem lukrativen Geschäft geworden ist. Übereinstimmend klagen die Patienten über jene psychischen Belastungen, die auch die gefürchtete Managerkrankheit hervorrufen: Terminhetze, wirtschaftliche oder familiäre Sorgen oder beides, Überreiztheit, die zu Herzbeschwerden, Magengeschwüren und ähnlichem führen.

Es hat nicht an Untersuchungen gefehlt, auch die stammesgeschichtliche Seite dieser Erscheinungen aufzudecken. Wir Menschen sind ja in unserer leibseelischen Struktur noch vielfach so primitiv geblieben wie etwa die Neandertaler. Unbewußt reagieren wir in manchen Situationen noch wie er, der Sammler und Jäger, der sich vor feindlichen Horden, vor Raubtieren schützen mußte und insofern weitaus gefährlicher lebte als der heutige Mensch.

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Ein Beispiel:  

Bei einem beliebigen, bedrohlichen Vorfall in unserer Umgebung bereitet sich der Urmensch in uns auf das vor, was diesem einst half, die Lage zu meistern: auf Kampf oder Flucht. Nur ist die Verwirklichung solcher Vorhaben heute nicht mehr so einfach wie einst. Handgreiflich zu werden steht uns nicht mehr an, nachdem wir über das Schulalter hinaus und nicht gerade unter die Rocker gegangen sind. Wer Gewalt ausübt, um seine Ziele durch­zusetzen, gerät mit dem Gesetz in Konflikt und muß seinen elementar befreienden Rückfall in die Urzeit-Gewohnheiten unter Umständen mit schweren Strafen büßen.

Auch das Weglaufen, die Flucht, ist nicht mehr ohne weiteres möglich, seit es menschliche und gesellschaftliche Verpflichtungen gibt und die Landesgrenzen bewacht werden. Die umherschweifenden, zwischenmenschlich nur lose verbundenen Gruppen der steinzeitlichen Jäger kannten jedoch weder enge Familien­bindungen noch Vorgesetzte. Auch Haus und Hof — weil nicht vorhanden — konnten sie nicht daran hindern, das Lager zu verlassen, um unter anderen Umweltbedingungen ihr Glück neu zu versuchen. 

Wir heutigen Menschen dagegen sind normalerweise zum Aushalten, zum Ertragen der jeweiligen Lebensumstände verurteilt. Wir müssen unsere Probleme an Ort und Stelle durchstehen und haben meist nur noch wenige Ventile, uns von dem Druck psychischer Belastungen zu befreien. Unsere Fluchtburg ist auf das eigene Ich geschrumpft, und immer häufiger zeigt sich, auf wie sandigem Boden diese Burg steht.

Welch naturwidriges Verhalten uns die moderne Leistungsgesellschaft und vor allem das Leben in den Großstädten aufzwingt, dafür liefert die Reaktion des Menschen auf ruhestörenden Lärm ein drastisches Beispiel. Ungewohnter und peinigender Lärm kann dramatische Kurzschlußhandlungen auslösen, wie die jenes japanischen Studenten, der sich von einer Dampframme vor seinem Studierzimmer in seiner Arbeit dermaßen gestört fühlte, daß er hinausrannte und seinen Kopf auf den Pfahl unter das herabsausende Gewicht legte.

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Wie kommt es zu einem solchen Verhalten?  

Wie wir wissen, haben alle lärmenden Geräusche etwas gemeinsam. Sie wirken auf uns als Schreckreize. Das heißt, sie erzeugen eine »Erwartungsspannung«. Unser Ohr übt, ähnlich wie die Nase, eine Warnfunktion aus. Es dient uns nicht nur zur Verständigung, sondern läßt uns auch Gefahren erkennen. Alle Geräusche, die als Lärm empfunden werden, haben solchen gefahrverkündenden Alarmcharakter. Sie bewirken, daß sich der Körper auf eine Abwehrreaktion einstellt. Der »Urmensch« in uns reagiert auf plötzliche, ungewohnte Ereignisse mit Alarmcharakter in der Nähe. Das Herz bereitet sich auf eine erhöhte Leistung vor. Das Nervensystem gerät in einen Zustand der Anspannung. 

Das Ärgerliche an diesem Zustand ist nur, daß er sich so einfach nicht wieder löst. Denn die Abwehr, die »Entladung«, bleibt ja aus. Der Schreckreiz »Lärm« stellt sich als blinder Alarm heraus. Und das nicht nur einmal — in lärmreicher Umgebung geschieht es wieder und wieder: Mit jedem neuen Geräusch läuft das Spiel des »Erschreckens« mit der darauf folgenden »Enttäuschung« über die ausbleibende Abwehrreaktion ab.

Diesem Geschehen entsprechen unbewußte Vorgänge, die den Körper auf eine unmittelbar bevorstehende, kraftfordernde Leistung vorbereiten. Es beginnt damit, daß die Hypophyse an der Hirnbasis das Signal zu erhöhter Hormonausschüttung an die Nebennierenrinden gibt: Adrenalin und Noradrenalin gelangen ins Blut. Adrenalin veranlaßt die Leber, aus ihrem Vorrat an Glykogen vermehrt Traubenzucker herzustellen, außerdem erhöht es die Pulsfrequenz. Noradrenalin steigert den Blutdruck. So stellt sich der Körper auf die erwartete Aktion ein — auf den Kampf oder die Flucht. Aber beides bleibt aus. Unser Verstand schaltet sich ein und zwingt uns zu »besonnenem« Verhalten. Inzwischen aber warten die mobilisierten Energien im Körper vergeblich auf Verwendung.

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Die Folge ist, daß beispielsweise Fettsäuren an den Wänden der Blutgefäße abgelagert werden. Und wenn dies übermäßig stark und allzuoft geschieht, dann verengen sich die Gefäße, werden sklerotisch — das Risiko des Herzinfarktes wächst. 

Unser selbstgewähltes Leben voller Reize und Anspannungen, doch auch voller Versagungen und »In-sich-Hineinfressen« von Ärger und Wut macht uns krank, weil die erlösende Entspannung immer wieder unterdrückt wird, weil es, mit anderen Worten, so wenige »Erfolgserlebnisse« gibt.

 

Was für die streßbedingte »Managerkrankheit« gilt, trifft auch für eine Reihe von Neurosen zu. Auch sie können durch psychische Belastungen ausgelöst werden, auch sie sind zu Merkmalen unserer Gesellschaft geworden. Strenggenommen sind Neurosen Verhaltensstörungen mit psychischen Ausnahme­zuständen, auch mit körperlichen Krankheitszeichen ohne organische Ursache. Sie werden meist als Folge mißlungener Anpassungs­versuche an die Umwelt gedeutet. Ihre Erscheinungsformen sind vielfältig. Im Gegensatz zum Geisteskranken bekommt der Neurotiker seinen »Tick«, doch versucht er, die Anpassung an die Umwelt aufrechtzuerhalten. Er schließt einen Kompromiß mit sich selbst. 

Vielleicht sind die Neurotiker unter uns nichts weiter als beredte Zeugen dafür, daß die Menschen früher, während Jahrmillionen, alles andere als Mitglieder einer Industrie­gesellschaft waren mit dem Zwang, eng beieinander zu wohnen, sondern frei umherschweifende Jäger und Sammler gewesen sind, die weder Arbeitsplatz­probleme kannten noch Ärger mit Vorgesetzten. 

Da die Frühmenschen keine festen Wohnsitze hatten, spielte auch der materielle Besitz bei ihnen noch nicht jene Rolle, wie er dies heute für uns tut. Das, was wir Eigentum nennen, wäre für die Menschen jener Zeit nur Ballast gewesen. Ihre Stärke lag in ihrer Ungebundenheit. Wer nomadisiert, darf sich mit großem Gepäck nicht belasten. Für ihn kommt es darauf an, geschickt zu sammeln und möglichst viel zu finden und zu erjagen. Die Beute war kein Eigentum im Sinne von Hausrat, sondern es waren »Verbrauchsgüter«, Nahrung vor allem. Erst später hat sich aus der Sammlertätigkeit der Drang zum Erwerb materiellen Besitzes entwickelt.

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Wir sind heute weit davon entfernt, uns wieder steinzeitliche Verhältnisse zu wünschen. Wir müssen aber zugeben, daß es damals weit weniger Umstände und Anlässe gab, die den Menschen psychisch zu schaffen machten. In der Steinzeit war man noch weit entfernt von der heute immer weiter getriebenen beruflichen Spezialisierung und den damit verbundenen Spannungen zwischen persönlichen Interessen, Wünschen und Lebenszielen.

Während die Jäger und Sammler von einst nur wenige Aufgaben hatten — über den Nahrungserwerb, die Waffen- und Geräteherstellung, den Schutz vor Feinden und die Sorge um das Lager gingen sie kaum hinaus —, ist die Skala der Berufe und Verpflichtungen heute unübersehbar geworden.

Auch die sogenannte »orale Versagung« — eine wesentliche Ursache für Neurosen — gab es in der damaligen Zeit nicht. Denn die Kinder, sollten sie einmal 20 oder 25 Jahre alt werden, mußten von ihren Müttern jahrelang an der Brust gestillt werden. Wo dies nicht geschah, machte die Auslese kurzen Prozeß: Solche Kinder kränkelten, blieben schwach, wurden getötet oder erlagen den Alltagsgefahren, so daß sie das fortpflanzungs­fähige Alter nicht erreichten.

Schließlich der »vorprogrammierte Lebenslauf«, der heute dem Kind die Stationen seines Daseins diktiert: die Erwartung, daß es einen Beruf erlernt und »etwas leistet«, daß es auf der Stufenleiter des Erfolges möglichst weit kommt, daß es auf seinem Lebensweg zwischen den Paragraphen­zäunen nicht strauchelt — all das gab es damals nicht. Für den Steinzeitler entfiel der Leistungsdruck mit einer Ausnahme: Er mußte sich seinen Lebens­unterhalt in ständiger Gefahr beschaffen, jeden Tag neu, also Jagdbeute mitbringen oder Erfolg beim Sammeln haben. 

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Doch diese Tätigkeiten fielen ihm — von der Gefährdung durch Feinde und Naturkräfte abgesehen — nicht besonders schwer, da ihm die natürliche Umwelt zumindest in den Tropen und Subtropen Nahrung in Fülle bot. Schätzungsweise dürfte der steinzeitliche Mensch kaum länger als drei Stunden am Tage intensiv »gearbeitet« haben. Der ehrgeizige, Verantwortung tragende und streßbelastete Zeitgenosse von heute ist dagegen oft bis in die Nacht mit seinen Problemen beschäftigt.

Gäbe es nicht das Argument der Lebenserwartung und das des Lebensstandards, könnte man bei dieser Gegenüberstellung neidisch werden. Was muten wir uns heute zu! Man werfe einen Blick auf das Umfrageergebnis einer Schweizer Arzneimittelfirma. Befragt wurden Vertreter besonders streßbelasteter Berufe, nämlich Journalisten, vom Reporter über den freien Mitarbeiter bis zum Chefredakteur einer großen Tageszeitung. 85 Prozent all jener, die auf die Fragen antworteten, fühlten sich unter Streß stehend. Zwei Drittel machten dafür ihren Beruf verantwortlich, der zuwenig Freizeit gewähre und durch ständige Terminhetze und übermäßiges Engagement belaste. Nur jeder fünfte Journalist kam laut Umfrage mit weniger als 44 Arbeitsstunden in der Woche aus. Die meisten arbeiteten rund 56 Stunden hart, manche bis zu 100 Stunden in der Woche — das wäre das Fünffache des Steinzeitmenschen, zu schweigen von der Art der Arbeit, zu schweigen auch von anderen Berufen, die dem des Journalisten in der Streßbelastung kaum nachstehen.

Welches Maß an Selbsttäuschung ist bereits notwendig geworden, um den Streß eines derartigen beruflichen Alltags alljährlich durch das kompensieren zu wollen, was man Urlaub nennt. Die im Regelfall strapaziösen, tagelangen Fahrten im ermüdenden »Faradayschen Käfig« des Automobils an den entlegenen Ferienort und die nicht weniger aufreibende Rückfahrt, die den Erholungseffekt, falls es ihn gibt, zum großen Teil wieder aufzehrt — wer hätte sich nicht schon über die Unverhältnis­mäßigkeit dieses Aufwandes seine Gedanken gemacht. 

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Was die Ballungsräume der Industriegebiete auszeichnet, verlagert sich zur Urlaubszeit in die Gebirge und an die Strände der Meere: der Massen­andrang von Menschen, den zu beherrschen die Unternehmer fragwürdige »Abfertigungs­praktiken« erfanden. So ist der »Urlaub« heute zu einer dürftigen Konfektions­ware geworden, einer Ware, die man nach dem Katalog kaufen kann und die in Wahrheit nur die Fortsetzung der psychischen Alltagsbelastung mit anderen Mitteln ist. Immerhin tun die Verwaltungen der Ferienorte einiges, um ihre Gäste zu verwöhnen. So hat sich die Stadt Nizza an der französischen Riviera im Sommer 1973 dazu entschlossen, ihren berühmten Strand zweimal wöchentlich mit Parfüm zu bestäuben, um die Geruchsbelästigung in Grenzen zu halten. Meerwasserverschmutzung und andere Geruchsquellen hatten überhand genommen.

Wenn psychischer Streß, Neurosen und Geisteskrankheiten zunehmen, so ist sich dessen vorerst freilich nur ein Kreis von Eingeweihten voll bewußt: Ärzte, Psychiater, Sozialfürsorger, Erzieher — sie vor allem spüren den Trend

Das Gros der Bürger übersieht ihn noch, weil die schwer Betroffenen verborgen in den Anstalten leben und weil selbst dort, wo die Zeichen nicht zu übersehen sind, an harmlose Störungen gedacht wird, die eher auf eine Modeerscheinung deuten als auf Symptome einer existentiellen Krise.

Offensichtlicher ist dagegen auch für den Nichteingeweihten die Selbstbedrohung des Menschen durch seine Neigung, immer mehr zu erzeugen und zu verbrauchen, die Rohstoff-Vorräte der Erde immer intensiver auszubeuten und damit die Versorgung der wachsenden Menschenzahlen zu gefährden. Wir haben hier ein zweites der »Ersten Zeichen« für die drohende Katastrophe vor uns. Mit einer bemerkenswerten Analyse dazu hat sich der »Club of Rome« auf einer Tagung in Salzburg im Frühjahr 1974 geäußert. Das prominente Gremium, auf dessen Initiative seinerzeit die MIT-Studie »Die Grenzen des Wachstums« zurückging, verwies in einer Art Lagebericht auf die Endlichkeit unserer Erde und erklärte:

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»Unter den gegenwärtigen Produktions- und Konsumbedingungen weisen die wichtigsten Entwicklungsindikatoren wie Volkseinkommen, Rohstoff- und Energieverbrauch, Umweltbeanspruchung usw. einen exponentialen Trend auf. Das heißt: Die absoluten Zuwachsraten nehmen im Ablauf der Zeit zu, beziehungsweise gleichbleibende absolute Zuwachsraten werden in zusehends kürzeren Zeitabständen verwirklicht. Dieser Beschleunigungs­prozeß ist um so größer, je größer die Zuwachsrate beziehungsweise je größer der Zuwachs dieser Steigerungsrate ist. Verschiedene Trends in der modernen Industriegesellschaft, vor allem jene, die auf den technischen Fortschritt zurückzuführen sind, scheinen dem Gesetz einer Trendbeschleunigung (Zuwachs der Zuwachsrate) zu unterliegen. Der gegenwärtige exponentiale Entwicklungsverlauf (mit oder ohne Trendbeschleunigung) steht im Widerspruch zur Endlichkeit der Welt.«

In schon naiver Hoffnung fügte der Club of Rome dieser Stellungnahme dann noch hinzu: »Es ist infolgedessen erforderlich, den gegenwärtigen exponentialen Entwicklungs­verlauf in einen Entwicklungs­verlauf überzuführen, welcher der Endlichkeit dieser Welt Rechnung trägt. Eine mögliche Form der Anpassung des bestehenden Entwicklungsverlaufs an die Endlichkeit der Welt läge in der Überführung der gegenwärtigen konstanten oder zunehmenden Wachstumsraten in kontinuierlich sinkende Wachstumsraten.« — Das käme der Aufforderung an eine Katze gleich, allmählich zurückhaltender beim Mausen zu werden, oder der treuherzigen Empfehlung an einen Lungenkrebskranken im fortgeschrittenen Stadium seiner Krankheit, täglich ein paar Zigaretten weniger zu rauchen.

Welchen Kurs wir tatsächlich steuern, wird neben anderem seit etwa einem Jahrzehnt an spektakulären Hungerkatastrophen in verschiedenen Teilen der Erde deutlich. Tut man auch hier das, was verläßliche Ursachenforschung am ehesten ermöglicht und bezieht sich auf die Einschätzung der Lage durch Experten, vor allem auf die Sprecher der FAO, der Organisation für Ernährung und Landwirtschaft der Vereinten Nationen, so findet man in den Berichten der letzten Jahre mehr und mehr Pessimismus.

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Der alarmierendste Tatbestand ist: 

Die Welt-Nahrungsreserven sind derzeit auf ihrem tiefsten Stand seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges angelangt. »Wir halten gerade noch unseren Kopf über Wasser«, kennzeichnet der FAO-Sekretär John Mollet die Lage. Und die Reserven schrumpfen schnell. Eine einzige große Mißernte in einem Entwicklungsland, und es muß schon heute mit einem Massensterben von Menschen gerechnet werden.

Aber wir wollen nicht nur die FAO befragen. Es hat in der Vergangenheit auch immer wieder Fehleinschätzungen durch einzelne Wissenschaftler gegeben, die dann eine unverantwortliche »Es-ist-alles-nicht-so-schlimm-Einstellung« zur Folge hatten. Ein erstaunlich optimistischer Autor ist der deutsche Ernährungs­wissenschaftler Professor Fritz Baade aus Kiel gewesen. In seinem Buch <Welternährungswirtschaft> schrieb er noch im Jahre 1956 neben anderen bemerkenswerten Prognosen die Sätze:

»Die heutige Erdbevölkerung von 2,5 Milliarden wird sich in den nächsten 50 bis 60 Jahren verdoppeln ... Günstigenfalls kann eine Bevölkerung von fünf Milliarden Menschen bald nach dem Jahre 2000, also beispielsweise im Jahre 2010, erwartet werden.« (Er schrieb »günstigenfalls«.)

Wie sieht es wirklich aus? 

Schon im Jahre 1974 hatte die Weltbevölkerung nahezu vier Milliarden Menschen bei ungebrochenem Beschleunigungs­trend des Zuwachses erreicht. Nach dem im Frühjahr 1974 erschienenen Jahrbuch der Vereinten Nationen betrug der Zuwachs des Jahres 1973 nicht weniger als 76 Millionen Menschen, so daß bei einem Wachstum von zwei Prozent bereits im Jahre 2007 mit 7,6 Milliarden Menschen zu rechnen wäre. Die Verdoppelungs­zeit beträgt derzeit also nicht 50 oder 60 Jahre, wie Baade meinte, sondern nur noch etwa 30 Jahre, und die Zeichen deuten darauf, daß sie sich noch weiter verkürzt.

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Ähnlich zukunftsfroh klangen Baades Ernährungsvoraussagen: »Daß auf dieser Erde Nahrung nicht nur für fünf, sondern nötigenfalls auch für zehn Milliarden Menschen geschaffen werden kann, wird die Analyse des Nahrungsraumes der Erde zeigen ...«

Die Wahrheit ist: 

Im Frühjahr 1974 war die Welternährungslage so kritisch, daß nach Meinung des Europa-Kommissars Claude Cheysson bereits »jeder kleinste Zwischenfall zu Hungersnöten führen kann«. Seit zwei Jahren, betonte Cheysson, habe sich die Versorgung mit Nahrungsmitteln in einem Maße verschlechtert, wie es Fachleute nicht für möglich gehalten hätten.

Dabei sind es vor allem auch die Verteilungsschwierigkeiten, die Sorge bereiten. Ein Beispiel dafür liefert die Situation im südlichen Sahara-Randgebiet, der sogenannten Sahel-Zone mit den Staaten Senegal, Mauretanien, Mali, Obervolta, Niger und Tschad. Seit der Regen hier ausblieb, sank der Grundwasserspiegel vielerorts von einst 15 auf 30 Meter. Von den rund 2 5 Millionen Bewohnern des Gebietes sind etwa 13 Millionen direkt von der Dürre betroffen. Ihre Brunnen sind weitgehend versiegt, die Weiden sind verdorrt oder verbrannt und die Tiere mußten zum größten Teil kurz vor dem Entkräftungstod geschlachtet werden. Etwa 80 Prozent des Viehbestandes in der Sahel-Zone soll mittlerweile verendet sein. Trotz der Lieferung von 518.000 Tonnen Weizen aus den Überschußgebieten der Erde im Jahre 1973 starben im Sahel bis zum Frühjahr 1974 mindestens 100.000 Menschen an den Folgen des Hungers. Wir werden auf diese Katastrophe im letzten Kapitel noch einmal zurückkommen.

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Wahrscheinlich ist es weniger entscheidend, ob die auch in anderen Erdteilen herrschenden Krisen ein Erzeugerproblem oder ein Verteilungs­problem sind — vermutlich tragen beide Faktoren dazu bei. In Europa, den USA und in anderen Ländern haben wir einen Produktionsüberschuß, der zu den bekannten Fleisch- und Butterbergen geführt hat. Schon beim Weizen gibt es jedoch Engpässe. 1973 erreichten die Welt-Weizenvorräte ihren tiefsten Stand seit 20 Jahren, und die Preise verdreifachten sich. 

In anderen Ländern herrscht aus verschiedenen Gründen katastrophaler Nahrungsmangel. Die »Verteilung« funktioniert nicht — aus ebenso verschiedenen Gründen. Es soll uns auf diese Gründe jetzt nicht ankommen. Wir stellen lediglich fest: In weiten Gebieten der Erde bekommen die Menschen nicht genug zu essen, oder sie bekommen eine falsche Nahrung. Sie werden unter- oder fehlernährt, sie sterben an Hunger, sie werden als Folge der Fehlernährung krankheitsanfällig, bleiben geistig zurück und sind nicht voll leistungsfähig.

 

Schon die FAO-Jahresberichte der 60er Jahre ließen erkennen, daß vor allem der Eiweißbedarf immer größer wird. Die »Eiweißlücke« macht uns zu schaffen. In den unterentwickelten Ländern kann der tägliche Bedarf von 20 Gramm tierischem Eiweiß pro Kopf der Bevölkerung nicht einmal mehr zur Hälfte gedeckt werden. In diesem Sinne äußerte sich auf einem internationalen Symposion über Eiweißchemie in Aachen im Sommer 1973 auch Professor Henning Klostermeyer von der deutschen Bundesanstalt für Milchforschung in Kiel. 

Er sagte, die klassische Agrarchemie sei bereits heute mit ihrem Eiweißlatein am Ende, weil das Wachstum der Ernteerträge in der Welt in keinem Verhältnis mehr zur Zunahme der Erdbevölkerung stehe. Die Bevölkerungsexplosion auf der Erde werde noch in diesem Jahrhundert ihr Ende finden, falls es nicht gelinge, die Welt-Eiweißlücke rechtzeitig zu schließen. An dieser Prognose könne auch die Tatsache nichts ändern, daß die Welt-Eiweiß­produktion derzeit mit jährlich 193 Millionen Tonnen noch über dreimal so hoch sei wie der Weltbedarf. 

Das Bedenkliche sei: Während die Zahl der Menschen ständig wachse, schrumpften die Anbauflächen der Landwirtschaft zusammen. Die Weltmeere seien schon heute zu einem großen Teil überfischt. Ein hoher Prozentsatz der Proteine falle Schädlingen zum Opfer oder verderbe, außerdem werde viel Eiweiß vergleichsweise unrentabel verfüttert.

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Hungersnöte hat es zu allen Zeiten und in vielen Teilen der Erde gegeben, aber die der letzten Jahre in Brasilien, Biafra und in der Sahel-Zone trugen einen neuen Stempel. Wie immer sie entstanden sein mögen: Eine hoch technisierte westliche Welt mit einer glänzenden Agrartechnologie und einem Versorgungs­system, das in kurzer Zeit Luftbrücken errichten und Versorgungsschiffe in die entlegensten Erdenwinkel schicken kann, war außerstande, sie zu verhindern. Während sich in Europa und den USA die Nahrungsberge türmten, verhungerten in anderen Gebieten die Menschen zu Zehntausenden.

Noch bedenklicher ist ein anderer Sachverhalt: 

Intensiv betriebene Landwirtschaft wird künftig immer stärker auf die Produktion und den Nachschub von Maschinen, von Dünge- und auch — allen Risiken zum Trotz — auf Schädlings­bekämpfungs­mittel angewiesen sein. Wenn aber schrumpfende Rohstoff­vorräte die Erzeugung dieser notwendigen Hilfsmittel zurückgehen lassen, so wird das eintreten, wovor schon der Bericht <Die Grenzen des Wachstums> warnte: Die Landwirtschaft wird in weiten Teilen der Welt zusammenbrechen und mit ihr werden Hungersnöte großen Ausmaßes einsetzen.

Alle diese Umstände wären nicht so ernst zu nehmen, wenn die Menschenzahl auf der Erde zurückginge oder wenigstens stagnierte, oder wenn es noch nennenswerte Landreserven gäbe, die unter den Pflug genommen werden könnten. Statt dessen wachsen aber die Produktions- und Verteilungs­probleme zu einer Zeit, da die Menschenzahl stürmisch zunimmt — das gefährlichste Zusammentreffen, das sich denken läßt. Dazu erschweren Infrastruktur- und politische Probleme die Verteilung des Vorhandenen dort, wo sie möglich wäre, und religiöser Eifer verhindert selbst die Nutzung der landeseigenen Möglichkeiten wie in Indien, wo die sogenannten Heiligen Kühe geschont werden. 

 Meadows bzw. Grenzen des Wachstums bei detopia 

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Hinzu kommt eine meteorologische Erscheinung, die den Fachleuten zunehmend Sorge bereitet. Seit etwa zehn Jahren wird beobachtet, daß bisher verhältnis­mäßig ortsbeständige Windbänder, die hoch über der Erde rings um den Nordpol wehen, sich zunehmend südlich verlagern. Die Gründe dafür sind unbekannt, doch führt dieser Vorgang offenbar zu einer allmählichen Veränderung der Wetterverhältnisse auf der Erde. Eine der Folgen könnte es sein, daß ein Teil des segensreichen indischen Monsunregens nicht mehr wie bisher über dem Festland, sondern schon im Indischen Ozean und damit nutzlos für die Landwirtschaft niedergeht.

Auch die merkwürdige Erscheinung, daß die Sahara sich seit einigen Jahren um etwa 150 Kilometer weiter nach Süden ausgedehnt hat, wird von manchen Meteorologen mit der Wetterküche im Norden in Verbindung gebracht. Andere vermuten dahinter eine Auswirkung des wachsenden Staub- oder Kohlendioxid-Gehaltes der Erdatmosphäre durch die Industrialisierung — Genaues wissen wir nicht.

Was immer hier die auslösende Rolle spielt: Klimatische Erscheinungen haben in weiten Teilen der Erde mit schuld an Engpässen und Mißernten der letzten Zeit, und die minimalen Reserven machen es immer schwerer, den betroffenen Menschen in ihrer Not zu helfen.

Selbst weltweit wachsende Erträge bei einzelnen Nahrungsmitteln können die langfristig schlechten Aussichten kaum noch bessern. Das zeigen die Fangergebnisse der Weltfischerei, deren Wachstum gegenwärtig auf jährlich sieben Prozent geschätzt wird. Die Eiweißlücke ist angesichts des Bevölkerungs­wachstums durch diese an sich erfreuliche Entwicklung aber nicht kleiner geworden. Im Gegenteil. Auch das Verhältnis von technischem Aufwand und Fangergebnis wird immer ungünstiger, weil viele bisher nicht befischte Arten tieflebende, schnell flüchtende oder so kleine Fische sind, daß ihre Verarbeitung sich kaum lohnt.

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Einen aufschlußreichen Bericht über diese Schwierigkeiten hat Professor Gotthilf Hempel, Direktor im Kieler Institut für Meereskunde, am 2.3.1974 in der Tageszeitung »Die Welt« veröffentlicht. Hempel geht auf die enge Verflechtung der angelandeten Fänge mit den Weltmarktpreisen ein und erwähnt den Zusammenbruch der Anchoveta-Fischerei vor Peru im Jahre 1972. Damals sei der Fischmehlpreis in der Welt auf das Vierfache hochgeschnellt, was vor allem die Geflügel- und Forellenzüchter schmerzlich zu spüren bekommen hätten.

Nach den Worten Hempels erbeutet die Weltfischerei gegenwärtig rund 60 Millionen Tonnen Fisch jährlich — eine Menge, die mit konventionellen Fangmethoden noch auf 81 bis 110 Millionen Tonnen zu steigern sei. Das entspräche der Erwartung, daß das Meer als Nahrungsquelle in den kommenden Jahrzehnten eine wachsende Rolle spielen wird. Ein Trost ist es jedoch nicht, denn das Meer als Nahrungsspeicher ist kleiner, als gemeinhin angenommen wird. Auch Hempel wies auf den wachsenden Aufwand zur Steigerung der Fangergebnisse hin. Der Überschwang, mit dem manche Futurologen die Möglichkeiten einer zukünftigen Plankton- und Algenernährung beurteilt haben, sei ebenfalls nicht gerechtfertigt. Ihnen und anderen Utopisten seien die folgenden Worte Hempels nahegelegt:

»Als ein Irrglaube hat sich erwiesen, daß die Welternährung eines Tages durch Algen gesichert werden könnte. Zugegeben, die Pflanzen­produktion im Weltmeer ist nicht viel kleiner als auf den fünf Kontinenten (Verhältnis 2:3). Das Gros der Meerespflanzen machen einzellige Planktonorganismen aus. Während beim Getreide die Produktion einer Saison in Korn und Stroh gespeichert werden kann, haben die Plankton-Algen nur eine Lebensdauer von wenigen Tagen. Sie müßten also unentwegt geerntet werden, dabei wäre die Ernte noch durch die geringe Größe der Mikroalgen und ihre dünne Verteilung über gewaltige Wassermassen energetisch vollkommen unrentabel. Die Großalgen, die nur an den schmalen Felsküsten gedeihen, werden bereits recht intensiv genutzt. Ihr Nährwert ist bescheiden.« 

Soweit Professor Hempel.

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Zu den Auswirkungen der beginnenden Ernährungskrise gehören Hunger und Verhungern dort, wo die landeseigene Erzeugung schon jetzt zusammen­bricht und die Versorgung von außen nicht gewährleistet werden kann. Wie die Medizin von einem »locus minoris resistentiae« im Körper des Menschen spricht — einem Ort des geringsten Widerstandes, an dem sich eine Infektionskrankheit meist zuerst auswirkt —, so sind auch die Völker der Entwicklungsländer besonders anfällig für Versorgungskrisen. Wenn es ernst wird mit der Welternährung, dann gehören sie zu den ersten, die es trifft. Dann sind sie es, die der Hungertod am ehesten heimsucht. Heute schon sterben durch Nahrungsmangel oder indirekt durch Fehlernährung alljährlich rund zehn Millionen Menschen. Doch ist dieser Aderlaß — wie auch der durch die Kriegstoten — nur ein Tropfen auf den heißen Stein angesichts von fast 80 Millionen Menschen, die trotz dieser Toten alljährlich die Erde zusätzlich bevölkern und sich ein menschenwürdiges Leben erhoffen.

Denn die Liebe scheint nicht nur das Brot der Armen, sondern auch das der Hungernden zu sein, wie die Fortpflanzungsraten gerade der notleidenden Völker zeigen. Nach einer Schätzung sollen in China im 19. Jahrhundert etwa 150 Millionen und in Indien zwischen den Jahren 1870 und 1900 rund 20 Millionen Bewohner verhungert sein. Dessenungeachtet leben heute mehr als 1,25 Milliarden in diesen Ländern — die Hälfte aller in Entwicklungs­gebieten wohnenden Menschen.

Bei aller Schrecklichkeit des Leidens, das der Hunger für den einzelnen Betroffenen bringt — wen würden nicht die Bilder der ausgemergelten, fehlernährten, mit aufgetriebenen Bäuchen dasitzenden oder zu Skeletten abgemagerten Kinder anrühren —, der Hunger wird noch zunehmen. Erst dann, wenn die Toten nach Hunderttausenden zu zählen beginnen, wird es zu einer fühlbaren Verlangsamung des Bevölkerungs­wachstums in der Welt kommen. 

Das, was wir in den Hungergebieten der Erde heute erleben, ist nur ein erstes Zeichen.

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Wem Zahlen etwas sagen, der möge sich die Entwicklung in den letzten Jahren in Indien mit seinen derzeit 570 Millionen Menschen vor Augen halten. Noch nie ist die Ernährungssituation der indischen Bevölkerung so verzweifelt gewesen wie jetzt. In Kalkutta und ganz West-Bengalen mußten die ohnehin schon bescheidenen Reisrationen von 1000 auf 750 Gramm je Person und Woche reduziert werden. Die Getreideernte 1973/74 war so schlecht, daß Indien, wenn auch widerstrebend, jährlich mindestens zwei Millionen Tonnen Getreide wird einführen müssen. Die Regierung weiß aber weder, woher sie das Geld für diese Käufe nehmen soll, noch woher die ebenso dringend benötigten Düngemittel kommen sollen. Denn die indischen Düngemittel­fabriken können als Folge der Ölverteuerung nur noch mit stark herabgesetzter Kapazität arbeiten.

Während die Bevölkerung Indiens im Jahr um 15 bis 20 Millionen Menschen wächst, während schon jetzt ein Drittel der ländlichen und fast die Hälfte der städtischen Bevölkerung ständig unterernährt ist, läßt sich die Produktivität der Landwirtschaft und Industrie im Lande nicht mehr steigern. Krankheit und Tod sind, wie sollte es anders sein, zwei direkte Folgen des Hungers — und dies nicht nur in Indien.

Eine indirekte Folge ist der von Politikern gefürchtete (oder erwünschte) Aufstand der Massen, über den der Abteilungschef bei der amerikanischen Entwicklungs­hilfe, Herbert Waters, gesagt hat: »Hunger wird nicht länger der stille Feind des Menschen, nicht länger die leise Art zu sterben sein. Hunger kann zum millionenfach widerhallenden Lärm des Aufruhrs und der Gewalttat werden.«

Andrej D. Sacharow, dreimal ausgezeichneter Held der Sozialistischen Arbeit, Leninpreisträger und Mitglied der Sowjetischen Akademie der Wissen­schaften, schätzt diese Gefahr kaum geringer, wenn er in seinem Buch <Wie ich mir die Zukunft vorstelle> schreibt:

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»Wir sprechen von einer nach den bestehenden Tendenzen vorauszusehenden Verschärfung der »mittleren« Ernährungslage, bei der die lokalen, gebietsweise und zeitlich begrenzten Lebensmittelkrisen zu einem einzigen Hungermeer zusammenfließen, zu einer Welle von unerträglichen Leiden, Verzweiflung, Vernichtung und Haß Hunderter Millionen von Menschen. Diese Katastrophe bedroht die gesamte Menschheit. Eine Katastrophe von solchem Ausmaß muß in der ganzen Welt, für jeden Menschen, die stärksten Folgen haben, sie wird überall Kriege hervorrufen, allgemeines Absinken des Lebensstandards nach sich ziehen ...«

Konkret heißt das: 

Hungernde Völker werden sich auf die Dauer nicht ruhig verhalten. Wie die Geschichte lehrt, werden sie gegen die Herrschenden in ihren Ländern oder gegen andere Völker rebellieren. Und die zunehmende Arbeitslosigkeit in diesen Ländern wird alles noch schlimmer machen.

Während die Inflation den Indern mit einer Teuerungsrate von 20 bis 25% davonläuft, kommt es immer häufiger zu blutigen Unruhen. Als im Frühjahr 1974 1,8 Millionen Eisenbahner wegen ihrer Forderung nach 75% Lohnerhöhung streikten, antwortete die Regierung mit Zwangs­maßnahmen: 15.000 bis 20.000 Streikende wurden verhaftet und wanderten in die Gefängnisse.

Aber die Lage wird davon nicht besser. Sie entspannt sich nicht mehr. Ein Ausschuß des Föderalparlaments schätzte die Arbeitslosenzahl im Jahre 1974 auf 18,7 Millionen. Schenkt man dagegen dem Wirtschaftswissenschaftler Professor Amartya Sen Glauben, so gibt es allein in der indischen Landwirtschaft 42,4 Millionen Arbeitslose — das wären 29,1 Prozent aller landwirtschaftlichen Arbeitskräfte. Als in einer Zeitung in Kalkutta ein Inserat erschien, mit dem 17 Hilfsangestellte für Sozialarbeit gesucht wurden, gingen rund 100.000 Anfragen von Hochschulabsolventen ein. Das nach vielen Dienstjahren erreichbare Gehalt in einer solchen Stellung hätte monatlich etwa 260 DM betragen.

In Südamerika trifft jeden vierten arbeitsfähigen Menschen und mit ihm seine Familie das Schicksal der Arbeitslosigkeit.

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Man kann hier natürlich die Frage stellen, warum die Bevölkerungspolitik in diesen Ländern so wenig Erfolg gehabt hat und das Arbeits­losenproblem in ihnen ständig wächst. Die Antwort ist immer die gleiche: Weil die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse dort keine rasche und wirkungsvolle Neuorientierung zulassen; weil der Wunsch, Kinder zu haben, namentlich bei den sozial schlechter Gestellten übermächtig ist und Kinder oft auch die Altersversicherung der Eheleute darstellen — oder sie darstellen sollen.

Und diese Misere wird größer statt kleiner. Sie spitzt sich im selben Maße zu, wie die Bevölkerungszahlen, wie Armut und Hunger wachsen.

In Indien vermehren Jahr für Jahr schätzungsweise 100.000 Abgangsschüler höherer Schulen das Arbeitslosenheer. Zunehmende politische Spannungen, Terror, Haß und Gewalt sind die Folgen in einem Land, dessen Religionsstifter die Gewaltlosigkeit gepredigt haben. Und nicht nur für Indien gilt: Die Situation in all diesen Ländern greift gefährlich über die Landesgrenzen hinaus. Korea und Vietnam, der Nahe Osten, Chile und Kuba, Pakistan, Bangladesch und Malaysia zeigen, wie dünn der Faden geworden ist, an dem der Weltfrieden heute hängt. 

Und auch der Unterschied zwischen den Habenden und den Habenichtsen, den reichen und den armen Völkern, liefert Zündstoff. Diese größer werdende Kluft: daß die reichen dreimal soviel Nahrungsmittel pro Kopf erzeugen, daß sie zwanzigmal soviel Elektrizität verbrauchen und sechsmal soviel Industriegüter haben wie die armen — diese Kluft wird von den armen Völkern verständlicherweise als Ungerechtigkeit empfunden und sie erhöht das Risiko eines Weltbrandes, weil immer weniger politische Mittel und Wege zur Verfügung stehen, die Menschenlawine und ihre Folgewirkungen zu beherrschen. 

Wo Lebewesen in Not geraten, wo sie mit dem Rücken an der Wand zu kämpfen gezwungen sind, werden sie aggressiv. 

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Das gilt auch für den Menschen. Nur wird seine Aggression sich nicht gegen einen artfremden Feind wenden, sondern gegen seinesgleichen. Vergleichbar den Krabben im Seewasser, die ihre Bevölkerungsprobleme lösen, indem sie den Artgenossen fressen, um Platz für sich selber zu schaffen, so wird der Mensch über kurz oder lang in primitivste Praktiken der Selbsterhaltung zurückfallen.

Um die Zeichen zu sehen, die das Ende der Menschheit signalisieren, muß man nicht in die Ferne schweifen. Sehen wir uns im eigenen Lande um. Arbeitgeber, Behörden und Kliniken beklagen den steigenden Krankenstand. Wie kommt es, daß den medizinischen Fortschritten zum Trotz immer mehr Menschen erkranken? 

Was Beobachter der Szene dazu erklären, sind Zeugnisse der Ratlosigkeit. Die deutsche Bundesregierung verwies im Sommer 1973 auf den Konjunktur­verlauf, das gestiegene Arbeitstempo und die durch Mehrarbeit entstehenden gesundheitlichen Belastungen. Staatssekretär Heinz Eicher vom Bundesarbeits­ministerium gab zu, es sei bisher nicht möglich gewesen, »die unterschiedlichen Einflußgrößen zahlenmäßig sichtbar zu machen«.

Bezeichnend in diesem Zusammenhang sind die weltweit zunehmenden Geschlechtskrankheiten. Als nach dem Zweiten Weltkrieg die Sulfonamide und die Antibiotika zur Verfügung standen, glaubte alle Welt, daß nun zumindest die Volksseuche Gonorrhoe, der Tripper, alsbald beherrscht werden und verschwinden würde. Das war eine Illusion. Angesichts von gegenwärtig 16 Millionen Gonorrhoe-Kranken in der Welt — eine Zahl, die Professor V. Lundt vom Bundesgesundheitsamt in Berlin im Sommer 1973 nannte — muß man vielmehr von einer neuen weltweiten Seuche, einer Pandemie, sprechen.

Die Ursachen liegen auf der Hand. Einerseits ist das sexuelle Verhalten im Zuge von Emanzipation und dem engeren Zusammenwohnen der Menschen wesentlich freizügiger geworden. Sexuelle Bindungen werden rascher geschlossen, flüchtigste Geschlechtlichkeit bis hin zum »Instant-Sex« — dem im Volksmund sogenannten »sexuellen Schnellimbiß« sind kaum noch Ausnahmen. Zweitens wird auf den Gebrauch von Kondomen zur Empfängnis­verhütung zugunsten der »Pille« weitgehend verzichtet. Schließlich fördert der moderne Massentourismus die geschlechtlichen Beziehungen und viele scheuen obendrein den Weg zum Arzt. 

 2015:  wikipedia  Gonorrhoe 

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Hervorgerufen wird die Gonorrhoe durch Gonokokken, kaffeebohnenförmige Bakterien, die sich in letzter Zeit als zunehmend resistent gegenüber der bislang noch erfolgreichen Penicillinbehandlung erwiesen haben. Das hat dazu geführt, die Penicillindosis eher höher einzusetzen als zu niedrig, und das Mittel auch möglichst zu injizieren, um den Erreger zuverlässig zu vernichten. All das ändert jedoch nichts am Anstieg der Geschlechts­krankheiten, deren Zunahme in der westlichen Welt zwei Zahlen aus der Schweiz stellvertretend zeigen sollen. In den Kliniken und Polikliniken von Zürich, Basel, Lausanne und Genf wurden im Jahre 1971 insgesamt 1541 Fälle venerischer Krankheiten behandelt. 1972 war die Zahl auf 1952 Fälle gestiegen. 

Der größeren sexuellen Freizügigkeit und dem, was die Älteren einen »Verfall der guten Sitten« nennen, entspricht die Drogenszene. Während ältere Menschen häufiger in den Alkohol oder zu Beruhigungs- und stimmungshebenden Mitteln fliehen, erliegen immer mehr junge Menschen den Rauschdrogen. Auch dafür gibt es viele Gründe, unter denen Neugier und Verführung sicher nur auslösende Wirkung haben dürften. 

Schwerwiegender scheint:

Unter dem Einfluß der Industrialisierung, dem Leistungsdruck, der zunehmenden beruflichen und familiären Probleme fühlen sich immer mehr Menschen überfordert. Zum großen Teil sehen sie nicht mehr den Sinn des von ihnen geforderten Einsatzes und der eigenen Leistung. Um dem deprimierenden Zustand zu entrinnen, um einen Glaubensersatz zu finden oder ganz einfach in der Hoffnung auf positive Lebensgefühle setzen sie die »rosarote Brille« auf, indem sie zum Haschisch greifen, um dann nicht selten der Versuchung zum Übergang auf die harten, die suchtauslösenden Mittel, zu erliegen.

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Nach den Erkenntnissen von Pastor Dr. Paul Schulz, einem der besten Kenner der Drogenszene in Westdeutschland, lassen sich die Drogen­konsumenten grob in drei Kategorien einteilen:

Nach Schulz ist die Gruppe der Probierer gegenwärtig rückläufig, die milden Konsumenten dagegen nehmen zu und mit ihnen der Verbrauch an »weichen« Drogen wie Haschisch. Stark zugenommen aber hat die Gruppe der schweren Konsumenten. Schulz verweist darauf, daß immer mehr Opiat- und Amphetamin-»Schießer« einen harten Kern äußerst gefährdeter Jugendlicher bilden. Die Drogenwelle nehme da ab, wo sie nie eine Gefahr war, schwelle aber gerade dort an, wo sie irreparable Schäden anrichte. Besonders bedenklich sei es, daß immer mehr drogenabhängige Jugendliche im Alter zwischen 12 und 14 Jahren registriert würden, während die Szene bislang von den 16-25jährigen beherrscht wurde. Schulz schreibt:

»Eine Momentaufnahme der Drogenszene im Jahre 1974 ergibt ein schwarzes Bild. Verflogen ist der Reiz des Neuen, die Faszination des Unbekannten, die in vielen Jugendlichen geheime Wünsche wachrief. Verduftet ist das Flair des Leichten, das Schwebende, jene Botschaft von der Sorglosigkeit und dem Glück des Drogentrips. Zurückgeblieben ist das Belastende, die Not und die Hoffnungs­losigkeit vieler Drogenabhängiger. Die Drogenszene ist fast nur noch bedrückend. Sie ist dunkel geworden — selbst da, wo noch in Farbe geträumt wird.«

Gewiß: Nicht alle, die vor den Ansprüchen, den Erwartungen der Leistungsgesellschaft kapitulieren, sehen in der Zuflucht zum Rausch die Rettung, eine Flucht, die ja in Wahrheit nur ein Betäuben, eine Selbsttäuschung ist. 

(detopia-2015) Schulz, Paul: <In eine Ecke fliehen; Die Situation Drogenabhängiger scheint aussichtslos>, <Zeit> 16, 12.4.1974, S.61 zeit.de/1974/16/in-eine-ecke-fliehen 

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Ein weiteres Zeichen für die zukünftige gesellschaftliche Entwicklung ist die Zunahme der Kriminalität in aller Welt. 

Der Weg vom verantwortlich denkenden, die Gesetze achtenden Bürger zum Kriminellen ist offenbar kürzer geworden, und die weltweite Konformität des menschlichen Verhaltens wird auch in diesem Bereich immer unheimlicher. Waren es früher so harmlose Dinge wie Mode und Haartracht, Pop- und Beatmusik, die rasch wie ein Lauffeuer um die Erde gingen, so sind es heute auch Gewalttaten, die Schule machen: Flugzeugentführungen, Bankeinbrüche, Kidnapping und Auftritte organisierter Polit-Rocker ähneln sich im modus operandi der Täter, ob sie nun in Brasilien oder in Frankfurt stattfinden.

Zahlreiche Experten, wie der Chef der Kölner Kriminalpolizei, Hans-Werner Hamacher, sagen eine Eskalation der Verbrechen für die achtziger Jahre voraus. Was Europa betrifft, so soll der Anstieg sogar sprunghaft erfolgen. Hamacher begründet das so:

»Bei der Suche nach Anhaltspunkten richtet sich der Blick unwillkürlich auf die USA, weil von dort in ununterbrochener Folge erschreckende Mitteilungen über die Verbrechens­entwicklung zu uns dringen und die fördernden Faktoren — Urbanisierung, Kommunikation und Motorisierung — in Reinkultur ausgeprägt sind. Tatsächlich müssen sich die Dinge dort in drohendem Maße zugespitzt haben, denn schon im Juli 1965 beauftragte der Präsident der Vereinigten Staaten eine unabhängige Kommission mit der Untersuchung der Kriminalität. Die Kommission legte ihren Bericht 1967 vor. Da eine Veramerikanisierung Europas von vielen ernsthaften Soziologen behauptet wird und auf vielen Lebensgebieten auch beobachtet werden kann, bot sich dieser Bericht für eine Vorstellung von der Zukunft des Verbrechens in Deutschland an.« — 

Weiter schreibt Hamacher: 

»Bei nur annähernd gleichmäßig verlaufender Entwicklung holt die Kriminalität in der Bundesrepublik gegenüber den USA schnell auf, wenn sie in absehbarer Zeit auch nirgends die dortigen Werte ganz erreicht. Im ganzen gesehen aber kann die Prognose nicht so wirklichkeitsfremd sein, denn die rein rechnerische Verlängerung des Trends in der Bundesrepublik erreicht 1980 ziemlich genau den Stand der Kriminalität von 1970 in den USA.«

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Konkret würde das nach Hamacher einen Anstieg von Mord und Totschlag einschließlich der Versuche dazu von 2402 Fällen im Jahre 1970 auf 3990 Fälle im Jahre 1980 in der Bundesrepublik Deutschland bedeuten (täglich elf Fälle). Die Notzuchtverbrechen würden im selben Zeitraum von 6885 auf 7599 Fälle zunehmen (stündlich eine Notzucht), Raub würde von 13.230 auf 51.228 Fälle (alle zehn Minuten eine Beraubung oder Erpressung) und Einbruch von 243.839 auf 650.745 Fälle (jede Stunde 14 Einbrüche) in die Höhe gehen.

Auch wenn die Grundannahme für diese Hochrechnung, das allmähliche Übergreifen amerikanischer Verhältnisse auf Europa, zurückhaltend bewertet werden muß, so sind die Aussichten erschreckend genug. Sicher zunehmen wird der »Härtegrad« der Gewalttätigkeiten, von dem wir heute schon Kostproben erhalten.

Nach der Entführung eines Neffen des amerikanischen Millionärs Getty scheuten sich die Kidnapper nicht, dem Jungen ein Ohr abzuschneiden und es den entsetzten Angehörigen in einem Paket zu übersenden, um ihrer Lösegeld-Forderung Nachdruck zu verleihen. 

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Blutbäder auf großen Flughäfen, Bombenanschläge, Kaufhausbrandstiftungen, Flugzeugentführungen und spektakuläre Geiselmorde selbst an Kindern — solche Verbrechen sind in den letzten Jahren so oft geschehen, daß die Öffentlichkeit sich schon an sie gewöhnt hat. Die Abstumpfung geht so weit, daß in den Redaktionen der Nachrichten­organe zunehmend nach der »besonderen Note«, nach dem dramatischen Detail solcher Vorfälle gefragt wird, um sie publizistisch überhaupt noch als Sensation »verkaufen« zu können.

 

Hierher gehört auch das Problem der Kindesmißhandlungen. Solche Taten, mit denen unbeherrschte Eltern ihre eigenen Kinder die erbärmlichste Überlegen­heit spüren lassen, die sie ihnen gegenüber mit der physischen Kraft der Erwachsenen besitzen, sie hat es zu allen Zeiten gegeben. Was beunruhigen muß, ist die Zunahme und die Motivierung. 

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In Berlin kommen nach einer sorgfältigen Untersuchung etwa zehn Kindesmißhandlungen jährlich auf 100.000 Einwohner. Auf das Bundesgebiet übertragen ergibt sich daraus eine Zahl von jährlich 6000. Nimmt man an, daß zehn Prozent dieser Kinder an den Mißhandlungen sterben, so errechnen sich 600 Todesfälle und damit weit mehr, als die Todesrate durch alle kindlichen Infektionskrankheiten zusammengenommen ausmacht.

Welches Ausmaß Kindesmißhandlungen tatsächlich haben, darüber sagen Statistiken nur wenig aus. Was bekannt wird, ist nur die Spitze des Eisberges. Die Dunkelziffer ist beträchtlich. Wie groß sie ist, erfuhr die Öffentlichkeit schlaglichtartig aus einer Umfrage der Brandeis-Universität in Chicago aus dem Jahre 1965. 

Damals waren 1520 Erwachsene — ein sorgfältig ausgewählter, »randomisierter«, also repräsentativer Kreis — danach befragt worden, ob sie im vorangegangenen Jahr von einer Kindesmißhandlung Kenntnis erhalten hätten. Drei Prozent antworteten mit ja, was umgerechnet auf die Bevölkerung der USA zwischen 2,53 und 4,07 Millionen Menschen mit einschlägigen Beobachtungen ergab. Die aus der Berliner Untersuchung abgeleitete Zahl von 6000 jährlichen Fällen in der Bundesrepublik Deutschland liegt also sicherlich noch zu niedrig. Tatsächlich wurde im Frühjahr 1974 eine Schätzung von Kriminologen, Sozialwissenschaftlern und Medizinern bekannt, wonach alljährlich 30.000 Kinder in der Bundesrepublik schwer mißhandelt werden und 1000 an diesen Mißhandlungen sterben.

Und noch etwas läßt sich dokumentieren: 

Die Opfer sind meist unter vier Jahre alt, oft sind es Stiefkinder, uneheliche oder zu früh in einer Ehe geborene, die ihre Erzeuger mehr oder weniger zwangs­weise zusammengeführt und damit unverschuldet eheliche Konflikte heraufbeschworen haben. 

Viele werden wie lästige Eindringlinge in einer Welt empfunden, in die versetzt zu werden sie selbst am allerwenigsten gebeten hatten.

Nicht selten sind prügelnde Eltern trunksüchtig, manchmal kriminell. Häufig aber wirken sie völlig normal, sind Bürger in geordneten Verhältnissen. Nur ein Merkmal verbindet sie alle: der Jähzorn.

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Es gibt ein Wort, nach dem die Zahl und der Typ jugendlicher Straftäter in den Gefängnissen die Gebrechen jener Gesellschaft spiegeln, die sie hervor­gebracht hat. Man ist versucht, jenes Wort abzuwandeln auf die Kindesmißhandlungen: Offenbar scheint unsere Gesellschaft das Ihre zu tun, um Eltern dieses psychischen Zuschnitts hervorzubringen. Sie unterscheiden sich von denen, die ihren Kindern aus gegebenem Anlaß einmal kräftig die Hosenböden versohlen dadurch, daß sie die Kontrolle über sich verlieren. 

Vielfach sind es Menschen, denen im hektisch gewordenen Kampf um materiellen Besitz der Erfolg versagt blieb und denen in diesem Kampf auch die Liebes- und Kontaktfähigkeit verlorenging: Zeitgenossen, denen der Wohlfahrtsstaat Risiken abgenommen hat, die er aber statt dessen anfällig machte für die Unbilden des Lebens; Menschen, mit einem Wort, die für ihre unbewältigten Probleme Ventile brauchen, und die nun diese Ventile in ihren hilflosen Kindern finden.

Auch die prügelnden und quälenden Eltern sind also nur ein Teil der Zeugenschaft für eine tiefgreifende Erscheinung, deren Hintergründe der allseits angeheizte Lebensstil und die unerfüllten Erwartungen von Menschen sind, die den Belastungen der Industrie­gesellschaft nicht mehr standhalten können.

Wäre es nicht so makaber, könnte man die Kindesmißhandlungen sogar jenem »Cry-for-help-Phänomen« zuordnen, wie sie die Selbstmord-Versuche mit Appellcharakter darstellen.

Worauf hier angespielt sei, sind die aufs Publikum gemünzten Auftritte von Selbstmordkandidaten auf Fenstersimsen in schwindelnder Höhe, oder die Vergiftungsversuche mit bewußt zu niedrig gewählter Dosis in der Gewißheit, daß der Ehepartner noch rechtzeitig nach Hause kommt. Auch sie sind nichts als Symptome einer Gesellschaft, die den Boden unter den Füßen verloren hat, in der die zwischen­menschliche Zuwendung mehr und mehr verkümmert: Selbstmord und Selbstmordversuche als Abwesenheit der anderen, wie es Paul Valery einmal gesagt hat.

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Es gibt eindrucksvolle Statistiken über die Motive von Selbstmördern, darunter jene mit Computerhilfe erstellte Studie des Berliner Arztes, Seelsorgers und Psychotherapeuten Dr. Klaus Thomas. Seine Untersuchung sollte dazu dienen, selbstmordgefährdete Menschen besser verstehen und rechtzeitig erkennen zu lernen, um sie, wenn möglich, von ihrem Entschluß noch abzubringen oder die verantwortlichen Lebensumstände zu ändern. 

Thomas hatte die Daten von über 10.000 Patienten ausgewertet, Selbstmordgefährdete, die sich ihm als dem Leiter der Berliner »Ärztlichen Lebens­müden­betreuung« in zwölf Jahren anvertraut hatten. Dabei kam er zu aufschlußreichen Ergebnissen, zum Beispiel, daß die häufigsten Konflikte von Lebensmüden sich aus Sexualproblemen, Liebe und Ehe ergeben, und die meisten Selbstmordgefährdeten krank sind: zu 52,2 Prozent sind es psychotische (einschließlich depressive) Patienten, zu 23,35 Prozent neurotische und zu 2,76 Prozent körperlich kranke Menschen.

Über die Zunahme einer ausgesprochen modernen Form des Selbstmords wurde in letzter Zeit aus den USA berichtet. Es handelt sich um den »Autocide«, den Tod im Auto. Schätzungen zufolge sollen von den 52.000 tödlichen Straßenunfällen eines Jahres ein bis zehn Prozent in selbstmörderischer Absicht erfolgt sein. Stets geht es dabei um Unfälle einzelner Wagen, die gegen feste Bauten am Straßenrand, wie etwa Brückenpfeiler, gesteuert werden. Die amerikanische Polizei schöpfte ersten Verdacht, als sich Unfälle an einem Pfeiler der Autobahnbrücke 238 bei Topeka im Staate Kansas häuften. Über vier dort verzeichnete Fälle lagen gleichlautende Berichte vor. Es saß jeweils nur eine Person im Wagen, es war heller Tag, die Straße war trocken, die Sicht gut, Brems- oder Schleuderspuren wurden nicht gefunden. Während die Zahl der tödlichen Autounfälle in den vorangegangenen Jahren in den USA um 32 Prozent gestiegen war, erhöhten sich die »Single-car-accidents«, bei denen die Wagen gegen feste Objekte auf offener Straße prallten, im selben Zeitraum um 56 Prozent. 

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War das Zufall, oder gab es Gründe? Sucht der Auto-Selbstmörder noch in den letzten Sekunden seines Lebens den Geschwindigkeits­rausch, die Euphorie, die das bis zuletzt beherrschte, rasende Vehikel vermittelt? Oder ist es die Schwierigkeit des späteren Nachweises einer selbstmörderischen Absicht, die mit dem Makel des Schimpflichen belastet sein würde?

»Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem, den Selbstmord«, schrieb der so früh verstorbene Nobelpreisträger Albert Camus in seinem <Mythos von Sisyphos>. Er kam zu der Auffassung, daß es nur eine redliche Antwort auf die augenscheinliche Sinnlosigkeit der Existenz gebe: die Auflehnung, die Revolte. Camus praktizierte seine Auflehnung, indem er sich weigerte, dem sinnlosen Leben durch Selbstmord zu entfliehen. So lebte er aus Protest gegen die Sinnlosigkeit des Daseins, bis er im Jahre 1960 an den Folgen eines Autounfalles starb.

Beim Selbstmord (Suizid) oder Freitod, jener »mit Überlegung, also im Vollbesitz des Verstandes und des freien Willens ausgeführten, gewalt­samen Vernichtung des eigenen Lebens« findet man hinsichtlich seiner Häufigkeit mancherlei Gesetzmäßigkeiten. So beenden mehr Männer als Frauen ihr Leben gewaltsam, mehr Intellektuelle als Ungebildete, mehr ältere Menschen als jüngere und mehr Städter als Landbewohner — ein Tatbestand, der nach Meinung der Berliner Senatsdirektorin Dr. Barbara von Renthe-Fink mit der schicksalhaften Vereinsamung des Menschen in Großstädten zusammenhängt, jener Einsamkeit in der Menge, die typisch sei für die moderne Massen­gesellschaft.

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Die Liste der Verfallszeichen ließe sich noch fortsetzen. Sie alle sind geeignet, die Euphorie zu dämpfen, der sich so mancher Futurologe und Politiker hingibt, weil Optimismus opportun oder modern ist und weil sich positive Gedanken besser verkaufen lassen als solche, die die Dinge unbeschönigt beim Namen nennen. Die Menschheit, so wie sie ist und wie sie sich gegenwärtig verhält, hat keine Zukunft mehr. 

Wir wissen zwar nicht, welcher Vorgang schließlich zum »Killer-Faktor« werden wird, oder ob es vielleicht mehrere sind. Wir wissen nur, daß der Wind zu wehen begonnen hat, der zum tödlichen Sturm anwächst. Die Stärke des Orkans ist noch nicht erreicht, aber die Barometer fallen schon, und von oben, aus der Sicht der Erdsatelliten, unsichtbar noch für den irdischen Beobachter, formiert sich die Wolkenspirale. Wir Menschen aber sitzen mit unseren Hirnen in einem zerbrechlichen Boot und kümmern uns vor allem um die Verteilung der Sitzplätze und des Proviants. Unser Stolz hat uns blind gemacht für die Zeichen des nahenden Desasters. 

Die Mittel, es abzuwenden, haben wir nicht mehr. Wir haben sie nie gehabt, weil unser Gehirn für das Überleben des einzelnen in einer Umwelt programmiert ist, die groß und leer war, nicht aber für das Überleben innerhalb einer rasend sich vermehrenden Menschenmasse in einer von Beton und Stahl verstellten Umwelt. Wir haben die Mittel aus der Hand gegeben, als wir beschlossen, uns in einem vorgegebenen Lebensraum gegen dessen ebenso vorgegebene Gesetze zu verhalten.

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  Versuch und Irrtum (1974)