Vierter Teil Die gegenwärtige Lage der Menschheit
Lorenz-1983
10. Das technokratische System
Prinzipieller Optimismus (203) Stabilisierungsmechanismen des Systems (205)
Der Wegfall der Selektion (208) Die pseudo-demokratische Doktrin (211)
Hospitalismus als Beispiel (214) Die Verschiebung des Wirklichkeitsbewußtseins (218)
Der unerwünschte »autonome« Mensch (221) Dressurmethoden (224)
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Prinzipieller Optimismus
Die Lage, in die die Menschheit sich durch ihre eigenen Geistesleistungen gebracht hat, ist - kurz gesagt - verzweifelt. Dennoch teilen wir nicht die Anschauung Oswald Spenglers, daß. das Schicksal unserer Kultur besiegelt sei. Wer Karl Popper gelesen hat, ist ganz im Gegenteil davon überzeugt, daß jeder Versuch, die Zukunft vorauszusagen, logisch unmöglich ist. Das System der menschlichen Gesellschaftsordnung, mit dessen Erkrankungen wir es in diesem Buche zu tun haben, ist ganz eindeutig das komplizierteste System auf unserem Planeten.
Ich habe mich in diesem Buch bemüht, die Reihenfolge der Abschnitte so zu gestalten, daß die Krankheitserscheinungen verständlich werden, die von den im zweiten Teil behandelten Fehlleistungen des menschlichen Geistes hervorgerufen worden sind. Wenn wir die jetzt herrschende Gesellschaftsordnung als das »technokratische System« bezeichnen, so deshalb, weil die Technik sich als Tyrann der Menschheit zu etablieren droht. Eine Tätigkeit, die ihrem Wesen nach Mittel zum Zweck sein sollte, wurde zum Selbstzweck. Die der Technologie zugrundeliegenden Wissenschaftszweige werden überbewertet, die Bedeutung aller anderen wird unterschätzt. Der Szien-tismus (3. Kapitel] und alle seine gefährlichen Auswirkungen stehen mit der Technokratie in ursächlicher Wechselwirkung.
Die Komplikation des technokratischen Systems macht eine genaue Einsicht in die Einzelheiten seines Wirkungsgefüges grundsätzlich unmöglich. Wir müssen uns daher von vornherein darüber im klaren sein, daß der menschliche Geist hier ein System geschaffen hat, dessen Komplikationen zu überblicken seine eigene Komplexität nicht ausreicht. Dennoch ist es sinnvoll, eine Darstellung der Störungen zu unternehmen, die die weitere Funktion des Systems bedrohen. Auch ohne vollkommene Einsicht in das gestörte System kann man die Ursachen von Störungen erkennen und sinnvolle Gegenmaßnahmen ergreifen. Auch ohne eine durchdringende Einsicht in alle Einzelheiten der herrschenden Gesellschaftsordnung beginnt sich bei jungen Menschen die Meinung durchzusetzen, daß das explosive Wachstum von Bevölkerung und Wirtschaft zur Katastrophe führen muß und daß die fortschreitende Arbeitsteilung und Überorganisation zur geistigen Verarmung der Menschheit und zum Verlust wesentlicher Menschenrechte zu führen droht.
Stabilisierungsmechanismen des Systems
Das herrschende System hat in Wirtschaft und Technik Entwicklungsvorgänge in Gang gesetzt, die schwer oder nicht rückgängig zu machen sind und die Menschheit als Spezies mit dem Untergang bedrohen. Ich habe diesen Gefahren das Buch »Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit« gewidmet. Hier ist von anderen Gefahren die Rede, die zwar mit den oben genannten zusammenhängen, aber nicht den Tod der Menschheit, sondern den Abbau ihrer Menschlichkeit betreffen. Es besteht durchaus die Möglichkeit, daß die Menschheit dem Untergang durch Vergiftung, Überbevölkerung, Radioaktivität usw. entgeht, daß aber dabei eine starre staatliche Organisation der Menschheit entsteht, von der ihre weitere Entwicklung in eine absteigende Bahn gezwungen wird.
Kommerzielle Unternehmen werden um so stabiler, je größer sie werden. Es ist durchaus denkbar, daß sich die Großkonzerne aller Länder zu einer weltbeherrschenden Macht vereinen. Damit wäre die offene Gesellschaft, von deren Existenz, wie Karl Popper überzeugend gezeigt hat, das Weiterbestehen unseres Menschentums abhängt, vernichtet. Eine geschlossene Gesellschaft ist per definitionem unmenschlich. Aldous Huxley hat in seinen Büchern »Brave New World« und »Brave New World Revisited« ein schauerliches Bild einer zukünftigen Kultur entworfen:
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In dieser Welt hält eine strenge Organisation große Menschenmassen in erzwungener und bis in kleinste Einzelheiten tyrannisch festgelegter Arbeitsteilung - eine Organisation, die sich auf einen ungeheuren Schatz gesamtmenschlicher »wissenschaftlicher« Information gründet, dem Einzelmenschen jedoch gezielt nur einen minimalen Anteil dieses Gesamtwissens zugänglich macht. Dennoch fühlt sich der Einzelmensch glücklich und zufrieden, weil ihm von der Wiege an eine wohlerprobte Indoktrinierung aufgezwungen und Zufriedenheit durch Psychopharmaka ermöglicht wird.
Ein Herrschaftsapparat mit einem System von Doktrinen, wie das von Aldous Huxley so erschreckend ausgemalte, entwickelt bei längerem Bestehen stets Mechanismen, die dazu angetan sind, jede Häresie zu unterdrücken. Alle menschlichen Reaktionen der Treue, Loyalität, Begeisterung werden gezielt motiviert und kanalisiert, um Dissidenten als dumm, schlecht, verräterisch zu brandmarken oder für verrückt zu erklären. Je größer ein solches System wird, je größer die Massen werden, die an seine Satzungen glauben, desto größer wird auch seine suggestive Wirkung, und desto wirksamer werden die in Rede stehenden Erscheinungen der »Selbst-Immunisierung«, wie T. Kuhn sie genannt hat. Es ist eine alarmierende Tatsache, daß die Erscheinungen der Selbstimmunisierung auch im Bereich der wissenschaftlichen Meinungsbildung schon bemerkbar werden. Offenbar ist dies eine Folge der »Vermassung« der Wissenschaft:
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Es sind deren zu viele, die neue Gedankengänge nicht anerkennen wollen. Die Selbstimmunisierung wissenschaftlicher Meinung könnte zum völligen Versiegen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis führen.
Man kann es auf etwas makabere Weise als ein Glück bezeichnen, daß Menschen von der heute durchschnittlichen genetischen Veranlagung die totale Einordnung in die technokratische Gesellschaftsordnung nicht ertragen würden. Wir sind mit Erich Fromm der Meinung, daß nur ein völlig abwegig veranlagter Mensch unter den Lebens-zwängen der heutigen Zivilisation schweren psychischen Störungen entgehen kann.
Die gewaltige Menge der heute lebenden Menschen bietet einen gewissen Rückhalt gegen schnelle genetische Veränderungen, es ist aber nicht vorauszusagen, wie lange der »gene pool« der heutigen Menschheit, so groß er auch sein mag, einem Selektionsdruck standhalten wird, der in schärfster Weise Bereitschaft zur kritiklosen Unterordnung und Indoktrinierbarkeit bevorzugt. Immerhin ist es den Menschen innerhalb verhältnismäßig kurzer historischer Zeiträume gelungen, bei seinen Haustieren den Drang nach Selbständigkeit und Bewegungsfreiheit so gut wie völlig »wegzuzüchten«.
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Der Wegfall der Selektion
Die schöpferischen Faktoren der Evolution, vor allem die freie Erbänderung und die Selektion, haben den menschlichen Geist geschaffen. Dann aber hat der menschliche Geist die Wirkung der Selektion außer Kraft gesetzt, indem er es fertigbrachte, fast alle feindlichen Einwirkungen der Außenwelt - Raubtiere, Klima, Infektionskrankheiten usw. - so gut wie völlig auszuschalten. Jetzt steht der Mensch aufrecht auf dem Gipfel der Schöpfung: »Steh oder falle!« Die Labilität seines aufrechten Standes kann fürwahr als Symbol für die Unsicherheit seiner Lage gelten!
Wie ich im 5. Kapitel zu zeigen versuchte, tragen viele von den angeborenen und auch traditionellen Verhaltensnormen des Menschen, die »eben noch«, vor historisch kurzer Zeit, wohlangepaßte Programmierungen des sozialen und wirtschaftlichen Verhaltens gewesen waren, heute zum Untergang des Menschlichen bei. Wie schon gesagt, geht die kulturelle Veränderung so schnell vor sich, daß keinerlei Hoffnung auf eine phylogenetische Anpassung an die neuen Verhältnisse zu erwarten ist.
Die schöpferische Wirkung der Selektion ist jedoch nicht nur fortgefallen; sie hat sich in ihr Gegenteil verkehrt. Die heute noch wirksame Selektion zielt in Richtung der Verderbnis. Die Hoffnung, daß eine kulturelle Entwicklung der genetischen »Sacculinisierung« (siehe 2. Kapitel, Seite 52) entgegenwirken könnte, scheint gering.
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Es besteht guter Grund zu der Annahme, daß die kulturelle Höherentwicklung nicht anders als die phyletische wesentlich davon abhängt, daß jenes Spiel universeller Wechselwirkung, das offenbar die Voraussetzung für als »aufwärts« gerichtete kreative Entwicklung bildet, sich zwischen verschiedenen Kulturen vollzieht.
Das technokratische System, das heute die Welt beherrscht, ist im Begriff, alle kulturellen Verschiedenheiten einzuebnen. Alle Völker der Erde, mit Ausnahme der sogenannten unterentwickelten, produzieren mit der gleichen Technik die gleichen Artikel, pflügen mit den gleichen Traktoren die Felder der gleichen Monokulturen und kämpfen mit den gleichen Waffen. Vor allem aber konkurrieren sie auf demselben Weltmarkt und tun ihr Bestes, mit den gleichen Propagandamethoden einander den Rang abzulaufen. Die qualitativen Verschiedenheiten, die im Zusammenspiel schöpferisch wirksam werden könnten, verschwinden mehr und mehr. Der Verfall kultureller Werte entspricht, wie B.-O. Küppers gezeigt hat, dem Schwinden natürlicher Vielfalt.
Es ist ein verderblicher wirtschaftswissenschaftlicher Irrtum, daß die »natürliche Selektion« der freien Marktwirtschaft ebenso sicher als schöpferische Segensmacht betrachtet werden dürfe wie die des Artenwandels. Die Auslesekriterien im Wirtschaftsleben sind ausschließlich solche des schnellen Machtgewinns.
Das wirtschaftswissenschaftliche Wertkonzept hat nach Küppers ausgesprochen normativen Charakter
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und verliert damit automatisch seine zeitliche Allgemeingültigkeit.
Wie ich im Abschnitt über kulturelle Evolution (im 3. Kapitel) zu zeigen versuchte, erzeugt übergroße Konservativität »lebende Fossilien«, allzu große Veränderlichkeit dagegen lebensunfähige Monstren. Das gilt für die Kulturentwicklung ebenso wie in der Stammesgeschichte.
Die allzuschnelle Entwicklung einer von Technik beherrschten Kultur bringt es mit sich, daß oft kurzsichtig Richtungen eingeschlagen werden, aus denen es kein Zurück gibt. Viele Vorgänge in unserer technischen Zivilisation sind Regelkreise mit positiver Rückkoppelung und, einmal in Gang gesetzt, schwer aufzuhalten. Wirtschaftswachstum und die beim Konsumenten durch Propaganda erzeugte Bedürfnissteigerung sind ein Beispiel hierfür. Das Krasseste aber ist die Nutzung von Kernenergie: Ein Kernkraftwerk hat eine Lebensdauer von höchstens 20 bis 30 Jahren, bleibt aber für ungefähr 20.000 Jahre - die Halbwertszeit des Atommülls - unverändert radioaktiv. Da jedes Kernkraftwerk die erzeugte Energie verkaufen will und muß, lockt es alsbald eine entsprechende Industrie hervor, die nach den erwähnten 20 bis 30 Jahren den Bau eines neuen Kernkraftwerkes erforderlich macht. Derartige Gefahren von irreversiblen Entwicklungen werden von den Verantwortlichen niemals erwähnt.
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Wirtschaftlich-technische Programme werden in kurzsichtigen und unverantwortlichen Entscheidungen von Menschen festgelegt, die nicht nur ökologisch ahnungslos, sondern für die Werte der lebenden Natur blind sind. Die Mehrzahl der heutigen Menschen kann aber nur passiven Widerstand gegen eine phylogenetische Abwärtsentwicklung in dem im 2. Kapitel besprochenen Sinne leisten.
Die einzige legitime »Einnahme« unseres Planeten ist die Sonnenstrahlung, und jedes Wirtschaftswachstum, das mehr Energie verbraucht, als die Sonne uns sendet, verstrickt die Weltwirtschaft in Schulden, und zwar bei einem völlig herzlosen und unnachgiebigen Gläubiger. Der sogenannte Meadows Report, vom Massachusetts Institute of Technology ausgearbeitet, besagt nichts anderes; dennoch wurde jüngst in Wien auf der »Tagung der Energiewirtschaft« behauptet, die Atomgegner würden »hauptsächlich von emotionellen Gründen« bewegt. Ich gestehe, daß ich angesichts dieser Darstellung allerdings Emotionen empfinde.
Die pseudodemokratische Doktrin
Zu den Faktoren, die das technokratische System stabilisieren, gehört die Doktrin von der absoluten Gleichheit aller Menschen, mit anderen Worten, der Irrglaube, daß der Mensch als »tabula rasa« geboren, das heißt, daß seine gesamte Persönlichkeit erst im Laufe seines Lebens durch Lernvorgänge bestimmt werde. Diese Doktrin, an die leider auch heute noch viele Menschen
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mit geradezu religiöser Inbrunst glauben, stammt, wie Philip Wylie in seinem Buch »The Magic Animal« gezeigt hat, aus einer Verdrehung eines berühmten Satzes aus der amerikanischen »Declaration of Independence«, die im wesentlichen Thomas Jefferson verfaßte. Es heißt dort: »... all men are created equal.« Diese Worte wurden geschrieben, als es galt, die Negersklaven zu befreien und den Farbigen gleiches Recht wie den Weißen zu verschaffen - was bekanntlich leider bis heute nicht ganz gelungen ist. Sehr wirksam war dagegen die folgende doppelte logische Verdrehung dieses Satzes: Die erste falsche Deduktion ist, daß sich alle Menschen, hätten sie ideale Entwicklungsbedingungen, zu idealen Wesen entwickeln würden. Aus dieser falschen Folgerung schloß man in einem weiteren logischen Salto mortale, daß alle Menschen bei Geburt schlechterdings identisch seien. J. B. Watson hat sich bekanntlich zu der Behauptung verstiegen, er könne aus jedem ihm zur Erziehung überlas-senen gesunden Neugeborenen »auf Bestellung« einen Violinvirtuosen, einen Mathematiker oder ein Finanzgenie machen. Die falsche Annahme dabei ist, daß es im Zentralnervensystem des Menschen überhaupt keine genetisch festgelegten Programme gebe und alle individuellen Unterschiede des menschlichen Verhaltens aus der Verschiedenheit der individuellen Erfahrung als konditioniert zu erklären seien. Eben dies besagt die »Empty-organism«-Theorie von B. F. Skinner. Die Annahme, daß dem Menschen, abgesehen
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von dem, was ihm durch »conditioning« beigebracht wird, keinerlei Normen des sozialen Verhaltens innewohnen, hat automatisch zur Folge, daß die Schuld an jedem Fehlverhalten und jedem Verbrechen der Erziehung des Delinquenten zur Last gelegt werden kann. Der Einzelmensch wird hierdurch von jeder moralischen Verantwortung befreit; daß er damit gleichzeitig eines Menschenrechtes, nämlich der Verantwortlichkeit, beraubt wird, wird meist übersehen.
Der Glaube an die unbegrenzte Formbarkeit des Menschen ist natürlich allen Leuten willkommen, für die es vorteilhaft wäre, wenn der Mensch keinerlei angeborene Fähigkeiten und Leistungen besäße und somit unbegrenzt manipulierbar wäre. Hieraus erklärt sich, daß die pseudodemokratische Doktrin von der Lobby der Großindustrie ebenso zur Staatsreligion gemacht wurde wie von den Ideologen des Kommunismus. Die pseudodemokratische Doktrin hat heute noch großen Einfluß auf die öffentliche Meinung und auf die Psychologie. Das hängt ganz sicher mit den Bevölkerungszahlen und der durch sie notwendig gewordenen Überorganisation der zivilisierten Menschheit zusammen, in der individuelle Unterschiede nicht genügend berücksichtigt werden können. Man verstößt gegen die Forderung der »Chancengleichheit«, wenn man sagt, ein Mensch sei intelligent oder dumm oder unehrlich, obwohl jeder Mensch weiß, daß es Dumme und Gescheite, Ehrliche und Unehrliche gibt. Die unbestreitbare Aussage,
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daß es, von eineiigen Zwillingen abgesehen, keine zwei Menschen mit völlig identischer genetischer Programmierung gibt, kann, wie Philip Wylie richtig sagt, heute mancherorts ebenso gefährlich werden wie im Mittelalter die Behauptung, daß die Erde um die Sonne kreise und nicht diese um jene.
Hospitalismus als Beispiel
Die szientistisch und technomorph denkende Menschheit hat, wie gesagt, verlernt, mit lebendigen Wesen umzugehen. Vor einigen Jahrzehnten galt das sogar für ihren Umgang mit den eigenen Nachkommen. Wenn man alles Gefühlsmäßige für Illusion hält, wenn man eine Psychologie ohne Seele anstrebt, dann empfindet man folgerichtig auch kein Mitleid mit einem menschlichen Baby, das, im abgedunkelten Schlafzimmer alleingelassen, verzweifelt um Hilfe schreit. Zeitweise galt es als aufgeklärt, die Kinder schreien zu lassen und sie auch nicht nach ihrem jeweiligen Bedürfnis, sondern nach der Uhrzeit zu füttern. Vor allem war es geradezu ein Glaubenssatz, daß das Kleinkind daran gewöhnt werden müsse, allein in einem Zimmer zu schlafen. Jedes noch von Brutpflege abhängige Jungtier einer tagaktiven Art ist dem nahezu sicheren Tod ausgeliefert, wenn es in tiefem Dunkel seine Familie verliert. Es ist ein teleonom völlig sinnvolles Programm, daß das Baby, sei es nun ein Gänse- oder ein Menschenkind, in einem solchen Fall die gesamte, ihm verfügbare nervliche und muskuläre Energie darauf verwendet, Hilferufe auszusenden.
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Weit bedenklichere Folgen hatte das technomorphe Denken für die »aufgeklärte« und »rationelle« Behandlung von Kindern in Kinderheimen und Spitälern. Hier herrschte lange Zeit die Meinung, daß allen Bedürfnissen des Kindes Genüge getan werde, wenn es regelmäßig die vorgeschriebene Menge an Nahrung sowie an Vitaminen erhalte und ausreichend reingehalten werde. Was dabei vernachlässigt wurde, ist eine damals noch nicht bekannte, sehr fest programmierte Phase in der Individualentwicklung menschlichen sozialen Verhaltens: Zwischen dem fünften und dem achten Lebensmonat entwickelt sich die Fähigkeit zur Unterscheidung von Einzelpersonen und gleichzeitig damit die Bindung an bestimmte Individuen, unter natürlichen Umständen selbstverständlich an die Mutter. In der Sprache der weisen Frauen heißt dies, »das Kind beginnt zu fremdeln«. Sein Lächeln, das bisher durch jeden sich über das Bettchen beugenden, lächelnden und freundlich blickenden Kopf ausgelöst werden konnte, gilt von nun ab nur noch einer ganz bestimmten Bezugsperson. Rene Spitz hat die Entwicklung des Lächelns und der es auslösenden Schlüsselreize genau untersucht. Ihm gebührt der Ruhm, als erster die Natur des angeborenen Auslösemechanismus untersucht und die sogenannte Reiz-Sum-
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men-Regel erfaßt zu haben - obwohl die letztgenannte Erkenntnis zunächst zwischen den Zeilen stehenblieb. Schon das ganz kleine Kindchen lächelt, wenn man über seinem Bettchen einen Luftballon mit aufgemalten Augen und Augenbrauen nickend bewegt; seine Reaktion verstärkt sich, wenn ein freundlich grinsender Mund hinzugefügt wird. Rene Spitz konnte zunächst nicht verstehen, warum sein Lächeln und Nicken weniger stark auslösend wirkte als das seiner dunkelhaarigen Assistentin. Erst als er sich selbst aus dem Blickwinkel des Kindes nickend im Spiegel beobachtete, erkannte er, daß das Nicken seiner Assistentin die Farbe des gespiegelten Bildes zwischen rosa und schwarzbraun wechseln ließ, während das seine, seiner Glatze wegen, unverändert rosa wirkte. Als er sich eine dunkle Zipfelmütze aufsetzte, war der Unterschied in der auslösenden Wirkung verschwunden.
Wenige Wochen später lösen plumpe Attrappen das Lächeln nicht mehr aus, wohl aber alle normalen Menschenköpfe, zumal, wenn sie nik-ken und lächeln. Zur Zeit des »Fremdeins« wird die Reaktion noch selektiver, nämlich an ein bestimmtes Individuum gebunden. Die nun folgende Periode ist für die gesamte Weiterentwicklung des Kindes höchst kritisch: es beginnt seine Gefühle an eine bestimmte Person zu binden. Alle anderen Menschen lehnt es ab. Wenn nun im Kinderheim diese kritische Periode eintritt und das Kind sich an eine bestimmte Schwester als seine Mutter zu binden begonnen hat, zer-
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stört der routinemäßige Personalwechsel diese keimende Beziehung. Das unglückliche Baby versucht nun, mit einer bereits wesentlich zaghafteren Reaktion, sich an die nächste Ersatzmutter anzuschließen; wenn ihm auch diese entrissen wird, mit einer noch schwächeren an die nächste; schließlich gibt es alle Versuche auf, eine Mutterbindung herzustellen. Es wehrt von nun an alle von Artgenossen kommenden Reize ab, kehrt das Gesicht zur Wand, und manche dieser Kinder werden zu Autisten oder sterben.
Diese Bindung an eine bestimmte, individuelle Mutterfigur fördert die allgemeine Fähigkeit zur sozialen Bindung an Mitmenschen schlechthin. Die Fähigkeit zur Menschenliebe ist eine jener offenbar recht zahlreichen nervlichen Organisationen des Menschen, die bei ihrem Heranreifen sofort beansprucht werden müssen, wenn sie nicht einer schwer oder im Extremfalle gar nicht wiedergutzumachenden Inaktivitätsatrophie anheimfallen sollen.
Mit der Entwicklung der Fähigkeit zu Liebe und Freundschaft ist merkwürdigerweise die zum explorativen Verhalten, zur Neugierde, eng verbunden, wie die österreichische Kinderpsychologin G. Czerwenka-Wenkstetten festgestellt hat. Das leere, spannungslose Gesicht des in dieser Weise geschädigten Jugendlichen ist ein unverkennbares »pathognomisches« Symptom dieses offenbar schwer oder nicht heilbaren Zustan-des. Wer »auf nichts neugierig« ist, der langweilt sich unvermeidlicherweise.
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Dieser Zustand aber ist höchst gefährlich, weil die persönliche Freundschaft zu einem Menschen und die Menschenfreundlichkeit im allgemeinen aggressives Verhalten hemmen. Schon bei höheren Fischen läßt sich nachweisen, daß persönliche Bekanntschaft Aggressivität hemmt.
Es wäre zu untersuchen, wie bei Gewaltverbrechern mit offensichtlich ungenügender Hemmung der Aggressivität, etwa bei Terroristen, die soziale Entwicklung in frühester Kindheit, besonders zur Zeit des »Fremdeins«, vor sich gegangen ist. Es ist eine Hypothese, die keineswegs der Begründung entbehrt, daß eine allgemeine Förderung der Aggressivität, d. h. also eine Abnahme der Hemmung, Mitmenschen Böses anzutun, aufs engste mit der Behinderung der Entwicklung von zwischenmenschlichen Beziehungen im kritischen Zeitalter frühester Kindheit zusammenhängt.
Wenn meine Annahme richtig ist, so ist ein wenn auch schwacher Grad von Hospitalismus einer der wesentlichen Faktoren, die zur »Sinnentleerung« der modernen Welt beitragen.
Die Verschiebung des Wirklichkeitsbewußtseins
Eng mit dem technomorphen Denken verknüpft und wie dieses eine der stabilisierenden Stützen des technokratischen Systems ist eine Verschiebung des Wirklichkeitsbewußtseins. Wie schon erwähnt, haben Peter Berger und Thomas Luck-
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mann gezeigt, daß jeder Mensch zwangsläufig dasjenige für das Wirkliche hält, mit dem er persönlich am meisten zu tun hat, mit dem er in Wechselwirkung steht und das seine Gedanken am meisten beschäftigt. Merkwürdig spät, erst in der allerjüngsten Zeit, hat sich die Zahl der Naturwissenschaftler gemehrt, die mit medizinischem Blick die Gefahren erkannten, die das lebende System unseres Planeten bedrohen.
Ich erinnere mich mit erheblicher Beschämung, daß ich vor etwa zwanzig Jahren einen Vortrag von William Vogt gehört habe und von der Berechtigung seiner Warnungen in keiner Weise überzeugt war. Die sozialen Verhaltensweisen gewisser Vögel waren für mich damals viel wirklicher als die Gefährdung der menschlichen Umwelt.
Jeder Mensch, der seinem Beruf hingegeben ist, vor allem jeder, der nach selbstgesetzten Zielen strebt, hält diese für das Wirklichste und vor allem auch für das Wichtigste auf dieser Welt. Der Großunternehmer, der mit Hingebung und wirklichem Idealismus für die Entstehung und Entwicklung seiner Firma gekämpft hat, empfindet diese ganz selbstverständlich als das einzige »Interessante«, das einzige Wirkliche. Alle die im 5. Kapitel erwähnten Fehlleistungen menschlicher Neigungen, wie Ordnungsliebe, Freude am Wachstum, Funktionslust usw., bestärken ihn in seiner Überzeugung. Zu dieser trägt außerdem noch die szientistische und behavioristische Weltanschauung bei: Für ihn ist richtig und wahr, was sich quantifizierend verifizieren läßt, und der Geldgewinn erfüllt alle diese Forderungen optimal.
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Alle diese Faktoren zusammen bewirken, daß Menschen in Finanz- und Produktionsorganisationen den höchsten Wert der Welt darin sehen, daß der Produktionsapparat auf möglichst hohen Touren läuft und maximale Gewinne abwirft.
Die schon besprochene Funktionslust kann dazu führen, daß das Mittel sich zum Selbstzweck aufschwingt. Der Mensch wird dadurch zum Sklaven des Produktionsapparates. Damit ist der Teufelskreis des Wirtschaftswachstums geschlossen, der die Menschheit in seinen Malstrom reißt.
Die Vertreter der Industrien, die unseren Globus beherrschen, scheinen bei all ihrer Intelligenz fest an die Wirklichkeit ihrer subjektiven Werte zu glauben. Sie scheinen blind für zwei un-bezweifelbare Tatsachen, die jedes Schulkind begreifen kann: erstens, daß ein unbegrenztes Wachstum im endlichen Raum auf die Dauer nicht möglich ist, und zweitens, daß kein Haushalt mehr ausgeben kann, als er einnimmt. Die für die gegenwärtige Gesellschaftsordnung Verantwortlichen sind durchaus in der Lage, diese Tatsache zu verstehen; sie sind auch nicht so unmoralisch, daß sie ihre eigenen Kinder und Enkelkinder einem gräßlichen Untergang preisgeben wollten; sie glauben nicht an die Wirklichkeit der Gefahren, die die Menschheit bedrohen, weil für sie andere Dinge wirklich und somit wichtig sind.
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Das Paradoxe an dieser verbreiteten Überzeugung liegt darin, daß ihre Vertreter aller Schichten zu übersehen scheinen, daß, wie schon gesagt, Geld und Gold nur Symbole sind und daß man auch mit sehr viel Geld nicht kaufen kann, was es nicht mehr gibt: Daß man nur das essen kann, was die grüne Pflanze in Photosynthese herstellt, wollen sie nicht glauben. Zwei österreichische Sprichworte sagen genau, was die halbe Welt ignoriert: »Goldene Nockerln kann man nicht essen« und »Wo nichts ist, hat der Kaiser sein Recht verloren«. Vollends grotesk aber ist es, daß gerade diese Leute sich selbst für nüchterne Realisten und für gute Ökonomen halten, den ökologisch orientierten Umweltschützer aber für einen »nostalgischen Träumer«.
Der unerwünschte »autonome« Mensch
Den Anforderungen des technokratischen Systems kann ein normal veranlagter Mensch nicht gerecht werden. Es gibt angeborene Verhaltenssysteme, die Menschenrechte sind und deren Unterdrückung zu schweren seelischen Störungen führt. Das technokratische System, dessen Entstehungsweise und Struktur ich hier in grob vereinfachender Weise darzustellen versuche, bewirkt zwangsläufig, daß bestimmte konstituierende Eigenschaften und Leistungen des Menschen nicht nur unnötig, sondern im höchsten Grade störend werden. Die Bindung des Einzelmenschen an einen individuellen Freund z. B. wird in totalitären Erziehungssystemen nach Möglichkeit unterdrückt; zumindest darf die Liebe zum Freund nicht größer sein als die zum System.
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Der Abbau des Menschlichen, von dem dieses Buch handelt, ist nicht auf totalitäre Systeme beschränkt, es ist vielmehr unvermeidlich, daß soziale Gebilde, deren Mitgliederzahl gewisse Maße übersteigt, mit der Zunahme an Größe einen mehr und mehr totalitären Charakter annehmen, auch wenn sie sich selbst als Demokratien bezeichnen. Die Gesetze, die diesen Vorgang beherrschen, sind die der Technokratie und nicht die der politischen Ideologien. In Demokratien wie in Diktaturen vereinigt sich die Macht über größere und größere Zahlen von Menschen in den Händen einer immer kleiner werdenden Zahl von Menschen in Machtstellungen. Man hat errechnet, daß die Zahl der Aristokraten, in deren Händen die Macht im zaristischen Rußland lag, ungefähr gleich der Zahl der ausschlaggebenden Lobbyisten im heutigen Amerika ist und wohl auch der Kopfzahl der sogenannten Nomenklatura in der heutigen UdSSR entsprechen dürfte. Diese Zahl wird mit zwei bis vier Prozent der Untertanen angegeben.
Unabhängig von ideologischen Bekenntnissen besteht in allen heutigen Regierungssystemen die Tendenz, die Persönlichkeit des Einzelmenschen zu vernachlässigen. Unabhängiges Denken und Entscheiden des Einzelmenschen ist um so
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weniger erwünscht, je größer das Staatsgebilde ist. Man weiß, daß kleine Staaten bessere Möglichkeiten zu wirklicher Demokratie haben als sehr große. Je größer die Menschenmassen, die einer bestimmten Ideologie anhängen, desto größer wird deren Suggestivkraft und desto mehr Macht gewinnt die entsprechende Doktrin. Je größer die Menge der zu beherrschenden Menschen wird, desto beengender wird notwendigerweise die Überorganisation und desto weiter entfernt sich das Staatsgebilde vom Ideal der Demokratie. Aldous Huxley hat in klaren Worten gesagt, daß die Freiheit des Einzelmenschen im umgekehrten Verhältnis zur Größe des Staates stehe, dessen Untertan er ist.
Die Abwertungen der Individualität, die sich in großen Staatsgebilden auch der gegensätzlichsten politischen Bekenntnisse und dementsprechend auf sehr unterschiedliche Weise vollziehen, sind sich ihrem Wesen nach ungemein ähnlich.
Der auf seine Individualität und auf seine Menschenrechte pochende autonome Mensch ist in großen Staaten nicht beliebt, und zwar weder bei der Obrigkeit noch in der öffentlichen Meinung. Diese schreibt sehr genau vor, was »man« tut oder nicht tut; wer sich anders verhält, ist zu-mindestens verdächtig oder wird für nicht normal angesehen.
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Dressurmethoden
Die Überzeugungskraft jeder Doktrin wächst mit der Zahl der von ihr beherrschten Menschen, und deshalb wachst leider auch die Stabilität jeder Gesellschaftsordnung mit der Zahl ihrer Untertanen. Die Machthaber der großen Staatssysteme lassen es aber keineswegs bei dieser Wirkung bewenden, sondern befleißigen sich verschiedener Verfahren der Dressur. Die altbewährten Methoden des Konditionierens sind Strafe oder Belohnung. Systeme, die ihren totalitären Charakter offen bekennen, scheuen sich nicht, mittels strenger Bestrafung jedes ihnen unerwünschten Verhaltens zu regieren. Die Bevölkerung lebt in dauernder Angst, kann aber merkwürdigerweise - denn so ist der Mensch leider beschaffen - gleichzeitig echte Begeisterung für seine Tyrannen empfinden. In seinem Buch »Ani-mal Farm« hat George Orwell eine treffende und schauerliche Karikatur einer totalitären Schrek-kensherrschaft entworfen. Die Art und Weise, auf die er zeigt, wie sich die meisten Menschen dem Regime nur aus Furcht unterwerfen und nur die naivsten sich gutgläubig für seine Ideale begeistern, ist ebenso erschütternd wie überzeugend. Diese Darstellung entspricht der faschistischen Staatsordnung wie der sowjetischen, vor allem ihrer früheren Praxis. Doch wird in der Sowjetunion allmählich die Dressur durch Belohnung mehr und mehr bevorzugt wie in anderen Großstaaten auch. In China scheint sich Analoges abzuspielen.
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Was die Dressurmethoden durch Strafe und durch Belohnung wesentlich unterscheidet, sind die verschiedenen Arten der Opposition, die jede von ihnen hervorruft. Das Regieren mit der Peitsche erzeugt eine geradezu heldenhafte Opposition. Die kapitalistische Massenbeherrschung durch Belohnung und allmähliche Verwöhnung bringt keine Helden hervor.
Philosophische Menschenfreunde haben früh gesehen, welche im wahrsten Sinne entmenschenden Folgen die Dressur durch Verwöhnung nach sich ziehen kann. Vance Packard hat schon vor Jahrzehnten in seinem Buch »The Hidden Persuaders« überzeugend dargestellt, daß es vor allem der Komfort des Einzelmenschen ist, der ihn die Produkte der großen Produzenten kaufen läßt. Jeder dieser neuen Artikel macht das Leben noch etwas bequemer, als der vorhergehende es schon getan hat. Wir leben ja auch in einer Zeit der »Auto-Kratie«, d. h. der Tyrannis des Automobils. An dieser Lokomotionsprothese läßt sich eine ganze Reihe der schon besprochenen Erscheinungen demonstrieren, die unserer Generation so gefährlich werden: Funktionslust, Rangordnungsstreben und Verwechslung des Mittels mit dem Zweck. Der Autoproduzent verführt den Konsumenten mit zunehmendem »Fahrkomfort«; die Freude am Fahren verführt uns dazu, immer neue Modelle zu kaufen.
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Wenn man einem älteren Menschen des Mittelstandes zumuten würde, seinen gegenwärtigen Wagen mit dem vorigen oder vorvorigen Modell zu vertauschen, so würde ihm peinlich bewußt, wie sehr er dabei »von Seide auf Stroh« geraten würde, wie rasch er sich an Servobremsen und Servolenkung gewöhnt und wie gründlich er das Schalten mit Zwischengas verlernt hat - mit anderen Worten, wie gut es den Produzenten gelungen ist, ihn von immer neuen technischen Errungenschaften abhängig zu machen. Auch kenne ich keinen einzigen Fall, in dem das neue Modell eines bestimmten Autotyps langsamer gewesen wäre als die vorangehenden.
Die Gewöhnung von Stroh auf Seide geht um ein Vielfaches schneller als die Rückgewöhnung von Seide auf Stroh. Es ist uns heute kaum mehr bewußt, wie unbequem das Leben vor weniger als einem Jahrhundert war. Ich habe lange genug gelebt, um mich genau zu erinnern, wie im Hause wohlhabender Bürger täglich unzählige Petroleumlampen geputzt und an jedem Wintertag eine ganze Anzahl von Öfen angeheizt werden mußten. Wer heute ein Zimmer mit der Heizung, Beleuchtung und Waschgelegenheit bewohnt, das dem Geheimrat von Goethe oder der Herzogin Anna Amalia von Weimar durchaus annehmbar erschien, empfindet sich als anspruchslos, selbst wenn andere die Arbeit für ihn tun.
Man weiß seit alters her, daß es für den Menschen gefährlich ist, wenn es ihm »zu gut geht«, wenn er allzu erfolgreich in seinem natürlichen Bestreben ist, Lust zu gewinnen und Unlust zu vermeiden. Wir haben allzu gut gelernt, unlustbetonten Situationen aus dem Weg zu gehen; Technik und Pharmakologie helfen uns dabei. Wir Zivilisationsmenschen werden immer unfähiger, Schmerz und Leid zu ertragen. Dieser Grad unserer Angst vor Unlust und die Methoden, diese zu vermeiden, grenzen an Laster.
In meinem Buch »Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit« habe ich auseinandergesetzt, welche Folgen für den Gewinn von Lust und Freude dieses übertriebene Vermeiden aller Unlust hat. Die alte Maxime aus Goethes Schatzgräber »Saure Wochen, frohe Feste« besagt, daß wahre Freude durch wehleidige Unlustvermeidung unerreichbar gemacht wird. »Genuß« kann allenfalls noch gewonnen werden, ohne in Gestalt saurer Arbeit den ehrlichen Preis von Unlust dafür zu bezahlen, nicht aber der »Freude schöner Götterfunken«. Die zunehmende Unlust-Intoleranz des zivilisierten Menschen verwandelt die naturgewollten Höhen und Tiefen des menschlichen Lebens in eine langweilige, künstlich eingeebnete Fläche von einförmigem Grau, ohne Kontrast von Licht und Schatten. Kurz, sie erzeugt Langeweile und ist damit die Ursache für das große Unterhaltungsbedürfnis vieler Menschen.
Das Bedürfnis, »unterhalten« zu werden, ist ein Symptom eines außerordentlich bedauernswerten Seelenzustandes, woferne ich mein eigenes Erleben verallgemeinern darf. Das Bedürfnis, einen Kriminalroman zu lesen oder das Fernsehen einzuschalten, empfinde ich nämlich nur dann, wenn ich so müde oder auf andere Weise inaktiviert bin, daß ich zu nichts Gescheiterem mehr imstande bin. Passives Sich-unterhalten-Lassen ist das genaue Gegenteil; Spielen dagegen der Inbegriff jener schöpferischen Aktivität, ohne die wahres Menschentum nicht bestehen kann.
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