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1.1 - Ein Szenario, das es noch nicht gab

Taxacher-2012 

 

19-35

Die Apokalypse der Moderne hat ihre Propheten weit vorausgeschickt. Die Warnungen sind genauso alt wie die technisch geprägten Fortschritts­utopien. Mitunter konnten die Propheten - ähnlich wie Huxley in »Brave New World« die genetische Manipulation - techno­logische Gefahren schon erkennen, bevor es die Technik tatsächlich gab.

So beschrieb der englische Lord Edward Bulwer-Lytton in seinem 1871 erschienenen utopischen Roman »Das kommende Geschlecht« eine Zivilisation, die auf der elektrisch-magnetischen Universalenergie »Vril« beruht. Sie dient als unerschöpfliche Quelle eines potenziell unendlichen zivilisatorischen Fortschritts, beschert Wohlstand, ist aber zugleich in der Lage, die gesamte Zivilisation zu zerstören. Lyttons damals bei Liberalen ebenso wie bei Sozialisten unerhörte These lautete: Es stecken »in der Technik selbst Gefahren, die unabhängig von gesellschaftlichen Interessen­konstellationen gegeben sind«.(2, Saage)

Es mussten weit über hundert Jahre vergehen, bis diese Erkenntnis einer breiten Öffentlichkeit nach Tschernobyl und Fukushima für die Lytton völlig unbekannte Atomenergie aufging.

   Nie da gewesen, aber lange gewusst  

1864 schrieb George Perkins Marsh in den USA in seinem Buch »Men and Nature«:

»Die Verwüstungen, die der Mensch angerichtet hat, bringen die Naturbeziehungen durcheinander und zerstören das von der Natur eingerichtete Gleichgewicht, und nun rächt sie sich selbst an dem Störenfried, indem sie ihren destruktiven Energien freien Lauf lässt. ... Die Erde ist nahe daran, für ihren vornehmsten Bewohner unbewohnbar zu werden; ein weiteres Zeitalter vergleichsweiser menschlicher Kriminalität und Kurz­sichtigkeit - und sie wäre endgültig in einen Zustand herabgesetzter Produktivität, einer zerstörten Erdoberfläche, klimat­ischer Extreme versetzt, so dass allgemeines Elend, Barbarei, wenn nicht gar die Auslöschung der menschlichen Rasse die Folge wären.«(3)

Von der Vernichtung der Wälder, von Wasserverunreinigung, Erosion der Böden und der Verschlechterung des Klimas im Zuge der Industrial­isierung sprach Charles Fourier sogar schon um 1830.(4; bei Saage)

Nun beruhigen frühe Untergangspropheten die Nachgeborenen meist, weil es mit ihren Vorhersagen ja nicht so schnell ging und nicht so schlimm wurde, wie angekündigt. Aber es spricht doch einiges dafür, dass diese Vorfahren der Ökologen den Countdown der ökologischen Apokalypse recht genau da anzuzählen begannen, als er tatsächlich ausgelöst wurde.

Die apokalyptische Qualität der ökologischen Krise besteht in einer nie da gewesenen Veränderung der natürlichen Rahmenbedingungen für das Leben der Menschheit, sowohl im Hinblick auf ihr Ausmaß als auch im Hinblick auf ihr Tempo. Und diese Veränderung ist eine, welche Menschen verursachen. In ein breites öffentliches Bewusstsein rückte diese Diagnose mehr als ein Jahrhundert nach den zitierten Propheten, nämlich 1972 durch den Bericht des Club of Rome: »Grenzen des Wachstums«. Die Autoren des Berichts haben ihn 1992 und 2004 nochmals überprüft und fort­geschrieben, mit verschärftem Ergebnis: Die Menschheit »nutzt ihre Ressourcen und schafft Abfalle in einem Ausmaß, das auf die Dauer nicht durchhaltbar ist«.(5)

Kritiker haben diesen Bericht gern auf die Vorratsfrage reduziert, als ginge es beim Club-of-Rome-Alarm allein darum, »dass unsere Ressourcen bald zur Neige gehen«.(6) Tatsächlich lag die Kernthese der »Grenzen des Wachstums« jedoch in einem in der Geschichte noch nie dagewesenen, sich steigernden Missverhältnis von Belastung und Regeneration unserer natürlichen Lebensgrundlagen insgesamt. Es ging schon 1972 darum, dass die industrielle Zivilisation - mit einem erst später populär gewordenen Begriff gesagt - nicht nachhaltig wirtschaftet.

Diese Situation ist geschichtlich wirklich neu und lässt sich nicht durch den Verweis auf die Naturausbeutung früherer Kulturen relativieren. »Es gibt etwas Neues unter der Sonne«, konstatiert ein Umwelthistoriker: »Die Stellung der Menschheit in der natürlichen Umwelt hat sich geändert. In dieser Hinsicht sind die modernen Zeiten anders als die früheren.«(7, McNeill) Und ein Kollege ergänzt:

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»Historisches Bewusstsein bedeutet heutzutage in Umweltfragen zuallererst, sich den aus der gesamten bisherigen Geschichte vollkommen herausfallenden Charakter der gegenwärtigen Wirt­schafts­weise vor Augen zu halten ... Das Neue ist dabei nicht so sehr die Ausbeutung nicht erneuerbarer Ressourcen als solche, sondern das rasant beschleunigte Tempo und die flächendeckende und weltweite Dimension dieses Prozesses(8, Ratkau)

Von daher lässt sich feststellen, dass »das 20. Jahrhundert hinsichtlich der Intensität der ökologischen Veränderungen aus dem Rahmen fällt.«.(9, McNeill Bei genauerem Hinsehen zeigt sich sogar noch eine Beschleunigung in der Beschleunigung: Weltweit ist die Subsistenzwirtschaft, also eine Lebenserhaltung bei relativ geringer Produktivitätssteigerung, erst nach 1945 auf breiter Front verändert worden. Zuvor waren die Zentren indus­trieller Produktion und insbesondere industrieller Landwirtschaft regional begrenzt, weshalb »eine der tiefsten Zäsuren der gesamten Alltags- und Umwelt­geschichte in allerneuster Zeit liegt«. Diese Zäsur bedeutet, dass »der Mensch als Gattung vor einem entwicklungs­geschichtlich riskanten Umbruch steht.«(10)

Wir sind Zeitzeugen einer Entwicklung, die es in Ausmaß und Geschwindigkeit noch nicht gegeben hat »Der Film der Geschichte läuft in Zeitraffer­geschwindigkeit.«(11)

Diese Feststellung ist auch von euphorischen Optimisten der industriellen Revolution getroffen worden, denn zunächst hat die Katastrophe tatsächlich das Gesicht des Fortschritts: Die Großeltern erlebten die ersten Dampfzüge, die Kinder die elektrisch erleuchteten Städte, die Enkel den Flugverkehr.

»Nie zuvor hat es auf der Erde eine so rapide Entwicklung gegeben, die der im 20. Jahrhundert gleicht.«(12) Das Wirtschaftswachstum ist heute 120 Mal schneller als um 1500, aber seine größten Sprünge macht es erst seit 1820 und dann nochmals erheblich gesteigert seit 1950. Die Produktivität steigerte sich im Zuge der Industrialisierung des Wirtschaftens von 1750 bis 1990 um das 200-fache.(13) Entsprechend entwickelte sich aber auch der Energieverbrauch: »Die Menschheit hat seit 1900 wahrscheinlich mehr Energie verbraucht als während der gesamten Zeit vorher zusammengenommen.«(14)

Man kann nicht einerseits die Rasanz der wünschenswerten Entwicklungen preisen, dieselbe Rasanz in der ökologischen Katastrophe jedoch durch historische Vergleiche nivellieren. Niemand wird den technischen Fort­schritt mit Hinweis auf die Erfindung des Rades im Neolithikum leugnen wollen, und ebenso ist der Hinweis auf die Brandrodung durch Buschmänner angesichts der Vernichtung der tropischen Wälder lächerlich. »Veränd­erungen in der Quantität können zu einem Qualitätssprung führen. Ein solcher Sprung vollzog sich im 20. Jahrhundert: Umweltveränderungen, die über Jahrhunderte hinweg lediglich lokal begrenzte Auswirkungen hatten, gewannen plötzlich globale Bedeutung.« Das heißt aber: »Im 20. Jahrhundert hat die Menschheit begonnen, mit der Welt zu spielen, ohne jedoch alle Regeln des Spiels zu kennen. Unbeabsichtigt hat sie auf der Erde ein gigantisches, unkontrolliertes Experiment in Gang gesetzt.«(15)

Die nie da gewesene Qualität von Umweltzerstörung lässt sich als die Kumulation quantitativ überstürzt anwachsender Einzelfaktoren definieren, die in ihrem Zusammenwirken zu irreversiblen Zerstörungs­prozessen führen. Irreversibel wird die Zerstörung dadurch, dass im Einzelnen und in der Kumulation der Faktoren Grenzen des von Ökosystemen Verkraftbaren so überschritten werden, dass die Folgen auch dann noch eintreten würden, wenn die Menschheit ihre Eingriffe unverzüglich stoppen würde - ähnlich wie der Bremsweg eines Tankers die Havarie unvermeidlich macht, auch wenn die Fahrt längst abgebremst wurde.

Zudem fährt unser Tanker noch munter weiter. »Es ist höchst unwahrscheinlich, dass die Weltwirtschaft noch vor Erreichen der Grenzen automatisch ihr Wachstum bremst. Wenn sie sich keine Selbstbeschränkung auferlegt, ist die Grenzüberziehung unvermeidlich, eben wegen der verzögerten Signale aus der Umwelt.«(16, Meadows) Die Rasanz des Fortschritts hat einen parallelen Fortschritt des Zusammenbruchs losgetreten, der längst in sich selbst und deshalb einer punktuellen Beeinflussung davonläuft.

Die Sortenzahl der weltweit in die Umwelt eingebrachten synthetisch hergestellten Stoffe wird auf 48.000 geschätzt, wovon »weniger als tausend einer Prüfung auf ihre akuten Auswirkungen hin unterzogen« wurden.(17) Angeblich hat »jeder Nordamerikaner in seinem Körper mindestens 500 Chemikalien, die vor dem Ersten Weltkrieg noch völlig unbekannt waren«.(18, Barlow)

»Umweltverschmutzung« ist ein anachronistischer Begriff geworden, der den Eindruck erweckt, als ginge es um einen - den Funktions­zusammen­hängen letztlich doch äußerlich bleibenden - Eintrag, den man durch ent­sprech­ende Kläranlagen wieder entfernen könne. In Wahrheit ist Umweltverschmutzung »ein höfliches Wort für die mögliche Selbstzerstörung der Menschheit durch Zerrüttung des ökologischen Gleichgewichts«.(19, Amery)

In den Computermodellen des Meadows-Teams treten an die Stelle dieses euphemistischen Wortes neue Begriffe wie »Erosions-Rückkopplung«, »Erosions-Regelkreise« oder »Verschmutzung der natürlichen Anti-Verschmutzungs­prozesse«.(20,Meadows)

All diese Begriffe drücken aus, dass die Umwelt des modernen Menschen in einem bislang unbekannten Maß sein Werk geworden ist, in dessen Abläufe er seine Handlungen einprogrammiert hat wie der Hacker einen Virus ins Computerprogramm.

Ganz grundsätzlich hat schon Anfang der 1970er Jahre ein - im Übrigen durchaus nicht pessimistischer - Zukunftsforscher die geschichtliche Ver­änder­ung der Situation in der Gegenwart auf den Punkt gebracht: »Der Mensch ist nicht mehr der Mensch. Die Natur ist nicht mehr die Natur. Die ... Beziehungen zwischen dem Lebewesen und seiner Umwelt sind nicht mehr dieselben.«  (21, Closets Wenigstens in einigen Grundzügen sollte man sich das konkrete Szenario hinter dieser Diagnose vor Augen führen.

Ich wähle deshalb in einer nur der Anschaulichkeit dienenden Systematisierung den Ausgang beim Faktor Mensch sowie einen Durchgang durch die antiken Elemente Luft, Wasser und Erde bis hin zum Gesamt­zusam­men­hang Leben.   wikipedia  Umweltsimulation 

   Mensch  

Die Katastrophe trägt, gerade im Blick auf den Verursacher, den Menschen, die Züge eines ungeheuren Erfolgs. Der Erfolg unserer Art heißt inzwischen »Bevölkerungsexplosion«, und die ereignet sich genau parallel zu der beobachteten Beschleunigung der Umweltzerstörung seit dem 19. Jahrhundert und nochmals dynamisiert in den vergangenen fünfzig Jahren. Dass es sich zunächst tatsächlich um einen gewaltigen Erfolg, einen echten Fortschritt handelt, wird allein daran deutlich, dass »sich die Lebenserwartung in den letzten hundert Jahren mehr als verdoppelt« hat - natürlich nicht, weil wir alle doppelt so alt werden, sondern in erster Linie, weil »viel weniger Menschen früh sterben«. (22)

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Um Missverständnissen vorzubeugen: Dieser Erfolg als solcher ist keineswegs eine Katastrophe. Er spiegelt wirklich gestiegene Lebensqualität. Auch die Folge ist zunächst ganz natürlich: Wenn weniger Menschen früh sterben, bekommen mehr Menschen Nachkommen, selbst dann, wenn die durchschnittliche Zahl der Kinder pro Eltern nicht ansteigt.

Mehr Überlebende sind ein Gut und mehr Lebende sind an sich kein Übel. Und doch ist der Erfolg des Wachsens und Mehrens unserer Art zu einer Bedrohung für sie geworden.

Der Fluch des Erfolgs ist dem Menschen in Lebensverhältnissen, in denen er sich der Begrenztheit der natürlichen Ressourcen sehr bewusst sein musste, offensichtlich nicht entgangen. So erzählt ein Mythos der südwest­afrikanischen Xosa, in Urzeiten hätten die Häuptlinge der Erde beraten, »ob es nicht zum Heil der Menschen wäre, wenn der Tod auf die Erde käme, da die Leute sich zu sehr vermehrten und bald nicht mehr Raum auf Erden hätten«.(23) Schließlich habe man eine Delegation zu den Göttern geschickt, die daraufhin der ursprünglichen Unsterblichkeit der Menschen ein Ende bereiteten.

Geradezu zynische Wünsche nach mehr Tod löste in den 1970er Jahren die Fernsehsendung »Stirbt unser blauer Planet?« von Heinz Haber aus. Damals wurden einer breiten Öffentlichkeit die Zahlen der so genannten Bevölkerungsexplosion erstmals bekannt und manche Reaktionen glichen dem Spruch: »Wären die Armen doch weniger, dann hätten wir weniger Probleme.«

Setzt man die Geschichte des Homo sapiens auf rund 100.000 Jahre an, dann wuchs diese Art in 98.000 Jahren lediglich auf 250 Millionen Exemplare an. Auch das tat sie erst spät: Vor etwa 10.000 Jahren, also zu Beginn der Erfindung der Landwirtschaft und damit der Sesshaftigkeit, umfasste die Weltbevölkerung geschätzt zwischen zwei und zwanzig Millionen Menschen. Erst von da an beschleunigte sich ihr Wachstum allmählich um das 10- bis schließlich 1000-fache.(24) Aber Beschleunigung ist relativ: Was gegenüber der Steinzeit rasant wirkt, ist aus heutiger Perspektive immer noch flach. Zur Zeit Christi waren 250 Millionen Menschen erreicht und erst um 1500, am Ende des europäischen Mittelalters, waren es doppelt so viele. Die nächste Verdoppelung brauchte dann nur noch 300 Jahre. Zuletzt betrug die Spanne für eine Verdoppelung der Menschheit nur noch etwa 35 Jahre. (25)

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Also auch hier die Diagnose eines »Nie da gewesen«: »Das 20. Jahrhundert ist aus demografischer Sicht einzigartig. Es wird als das Jahrhundert mit der größten Bevölkerungszunahme in die Geschichte eingehen.«(26)

Lebenserwartung und Sterblichkeit folgen geschichtlich sich verändernden, diskontinuierlichen Faktoren. Ohne Industrialisierung und frühe Globalisierung hätte es diese steile Kurve nicht gegeben. Aber gerade in den reichen Industrienationen ist sie schon wieder gebrochen worden. Deshalb rechnet die UNO heute mit einem sich allmählich abflachenden Bevölkerungswachstum. Ende Oktober 2011 begrüßten die UN-Statistiker den sieben­milliardsten Erdenbürger und erhofften für 2070 das Abklingen des Wachstums. Dann wird die Menschheit gut zehn Milliarden Mitglieder haben und ihre Zusammensetzung hätte sich gegenüber heute nochmals gravierend verschoben: »90 Prozent des zukünftigen Bevölkerungswachstums wird auf die ärmeren Länder entfallen.«(27)

Bezeichnenderweise setzt Meadows' Team den von ihm prognostizierten großen Crash der Weltwirtschaft aufgrund überzogener ökologischer Konten etwa um die Mitte des 21. Jahrhunderts an(28), also um die Zeit, in der laut Bevölkerungsprognosen das Wachstum gerade erst abflacht. Damit es das tatsächlich tut, darf es zu so einem Crash jedoch nicht kommen. Denn die Berechnungen einer stabilen Bevölkerungsentwicklung kalkulieren mit einer Entwicklung in den armen Ländern, die hier ähnlich wie in unseren Breiten allmählich zur Wohlstands-Kleinfamilie tendiert. Eine desolate Wirtschaft, ökologisch immer widrigere Lebensverhältnisse und auch die weltweite Überalterung, wenn das Wachstum tatsächlich nachlässt, würden kaum drei bis vier Milliarden Menschen mehr verkraften, als wir heute zählen.

Nach allem, was in diesem Kapitel noch zu erörtern ist, sieht es jedenfalls nicht danach aus, als könnte uns die Bevölkerungsprognose beruhigen.

 

   Luft  

Da wir die Luft zum Atmen ununterbrochen brauchen, alarmieren uns ökologische Krisensymptome besonders, wenn sie stinken. Entsprechend massiv wirkte sich das Auftreten von Smog in den westlichen Großstädten politisch aus. Grenzwerte der Luftreinheit wurden eingeführt, höhere Schornsteine sowie Filter in Fabrikanlagen und Katalysatoren in Autos sorgen für eine geringere Belastung der Atemluft. Für große Teile der Menschheit jedoch nimmt die Luftverschmutzung weiter zu. Deshalb beruhigt es wenig, genauer gesagt: nur wenige, dass die Schadstoffpartikel in der Luft tatsächlich »drastisch verringert« wurden, wenn diese These ausschließlich aufzählen aus der EU und den USA beruht.(29) Die höchsten Bleiwerte im Blut von Kindern findet man heute in Mexiko, Indonesien und Afrika.

Global hat der Mensch etwa seit den 1980er Jahren erstmals mehr Spurenelemente in der Luft verbreitet als natürliche Ursachen wie Vulkane und Brände zusammen.(30) »Luftverschmutzung, die ganze Regionen in Mitleidenschaft zieht, gab es vor dem 20. Jahrhundert nur selten und eine Verschmutzung der gesamten Erdatmosphäre durch den Menschen noch niemals zuvor.«(31)

Dass die moderne Produktions- und Konsumtionsweise das Makrosystem Atmosphäre spürbar verändern kann, wurde der Öffentlichkeit erstmals bewusst, als die Rede vom so genannten Ozonloch aufkam. Die Ozon­schicht brauchte Millionen Jahre, um sich aufzubauen, und hat die Entwicklung von Leben auf diesem Planeten überhaupt erst vor der tödlichen Strahlung der Sonne abgeschirmt.32 Dem Menschen gelang es jedoch innerhalb weniger Jahrzehnte, durch den Ausstoß der Chemikalie FCKW aus Sprühdosen und Klimatechnik diese Schutzschicht nachhaltig zu schädigen. Da sich die Kausalität dieses Problems recht schnell klären ließ - von der chemischen Ursache über die atmosphärische Folge bis zur Steigerung der Hautkrebsraten -, und da die Ursache industriell relativ leicht ersetzbar war, reagierten Politik und Wirtschaft erstaunlich effektiv durch Verbote und Umstellung. Das Ozonloch verschwand zumindest aus den Nachrichten und wurde dort durch die sommerlichen Durchsagen der Ozonwerte am Boden ersetzt. Seither wird der Ozonloch-Alarm gern als gelungenes Beispiel für die Abwendung ökologischer Schreckensszenarien angegeben. Tatsächlich aber ist mit einer ähnlich einfachen Lösung weder bei Dieselruß, noch bei der Chlorchemie und erst recht nicht bei den Treibhausgasen zu rechnen.

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Und selbst beim Ozonloch ist das Maß des erlaubten Jubels noch umstritten: Die einen rechnen damit, dass es sich in 50 Jahren gänzlich geschlossen haben wird33, andere erwarten, dass es wegen der Bremsweg­verzögerung chemischer Prozesse sogar noch weiter wachsen und der kommenden Generation vererbt wird.34

Inzwischen hat sich gegenüber dem Luft- das Klimaproblem in den Vordergrund geschoben. Das Klima ist aber ein so umfassendes System, dass auch Kundige den Einfluss des Menschen mitunter kleinrechnen. Tatsächlich hat es Klimakatastrophen wie die Eiszeiten ja ohne menschlichen Einfluss gegeben. Und gab es im Mittelalter nicht eine Wärmeperiode, in der Grönland seinen Namen Grünland tatsächlich verdiente und der Nordatlantik weitgehend eisfrei war?35

Das Klima-System ist jedoch seiner Größe wegen mitnichten besonders stabil. Es genügen um wenige Grad veränderte Durchschnittstemperaturen der Weltmeere, um ganze Strömungssysteme im Kalt-Warm-Wasser-Austausch - wie etwa den atlantischen Golfstrom - umzudrehen oder lahmzulegen. Solche Strömungen tragen dazu bei, dass auf gleichen Breitengraden (etwa in Rom und New York) ein recht unterschiedliches Klima herrscht. Die schnellen großen Klimaschwankungen, die zu den Eiszeiten führten, erklären Klimaforscher denn auch durch »sprunghafte Änderungen der Meeresströme im Nordatlantik. Wahrscheinlich benötigen diese Strömungs­änderungen nur einen minimalen Auslöser.«36 Fachleute bezeichnen die »thermohaline Zirkulation« von wärmerem und kälterem Wasser in den Ozeanen deshalb als »Achillesverse des Klimasystems«.37 Das Klima ist also ein träges Großsystem, bei dem dennoch oder gerade deshalb das Drehen an vergleichsweise kleinen Reglern nicht mehr beherrschbare Auswirkungen haben kann.

Mit dem Ende der letzten Eiszeit etablierte sich das Klima, welches wir kennen. Es ermöglichte die Entwicklung menschlichen Kulturschaffens. Dieses Klima samt der globalen Nord-Süd-Meeresströmung ist gerade einmal 10.000 Jahre alt.(38) Es erscheint wie ein Zeitfenster, das sich für die menschliche Zivilisation öffnete. Wir sind gerade dabei, dieses Fenster wieder zu schließen.

Und mehr als das: Der Zwerg Menschheit dreht seit der Industrialisierung an den Klimareglern in einer Weise, wie es die außermenschliche Natur bisher nicht getan hat, seit vor einigen Millionen Jahren die Hominisation unserer Vorfahren-Arten begann.

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Das lässt sich - etwa durch Untersuchung von pflanzlichen Fossilien und durch Bohrungen im ewigen Eis - nachweisen: So war zumindest »seit 160.000 Jahren die Konzentration von Kohlendioxid und Methan nie auch nur annähernd so hoch, wie sie heute ist«.39 Klimaforscher müssen inzwischen sogar »etliche Millionen Jahre in der Klimageschichte zurückgehen ..., um ähnlich hohe CO2-Konzentrationen zu finden. Wir verursachen derzeit also Bedingungen, mit denen es der Mensch noch nie zu tun hatte, seit er den aufrechten Gang gelernt hat.«40 Der damit untersuchte Zeitraum umfasst die gesamte Evolution der Menschheit einschließlich der von ihr bewältigten Eis- und Erwärmungsperioden.

Auch die Folgen sind seriös nicht mehr auf natürliche Schwankungen zu schieben: »In den letzten fünf bis zehn Jahren hat sich die globale Erwärmung als Signal von dem >Hintergrundrauschen< der natürlichen Klima­schwankungen abgehoben.«41 Alle Klimaprognosen erwarten derzeit eine globale Erwärmung zwischen zwei und vier Grad42, wobei die Restunsicherheit sowohl durch wissenschaftliche Vorsicht in den Berechnungen, als auch durch unterschiedliche Annahmen über die künftigen klimapolitischen Maßnahmen zustande kommt. Ebenso umstritten sind noch die genauen Ausmaße der zu erwartenden Eisschmelze an den Polen und damit des Anstiegs der Meeresspiegel. Vorsichtige Schätzungen rechnen bis zum Jahr 2100 mit mindestens einem Meter höherem Wasser, was schon für zahlreiche Inseln, aber auch für Küstenländer wie Bangladesch das Aus bedeuten würde; insgesamt wären etwa ein Drittel der Menschheit direkt betroffen.43

Wegen der durch das Abtauen einsetzenden Rückkoppelungseffekte zwischen Erwärmung, Niederschlägen, Gletscherfließgeschwindigkeiten und schwindender Eis-Reflexion von Sonnenlicht rechnen Forscher darüber hinaus langfristig, also für die kommenden Jahrhunderte, mit einem Ansteigen des Wasserspiegels von drei bis sieben Metern.44 Denn der Klimawandel, einmal eingetreten, würde sich ja auch durch eine dann erst einsetzende neue Energiepolitik nicht mehr rückgängig machen lassen.

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Würde die Menschheit gar alle heute bekannten fossilen Energieträger verfeuern, dann könnte sie Temperaturen erzeugen, die denen vor 200 Millionen Jahren entsprächen, und die Flut stiege dann auf unvorstellbare zehn bis zwanzig Meter über heutigem Normal.45

Der Rückgang des Dauerfrosts gefährdet nicht nur die Küsten. In weiten arktischen Regionen und Tundren von Kanada über Skandinavien bis Sibirien ebenso wie in den Bergländern der Alpen oder der Anden werden Morast, Lawinen und Bergrutsche Menschen auf Dauer zum Rückzug zwingen.46 Auf der anderen - der subtropischen und tropischen - Seite dagegen drohen Dürren, Wüstenausbreitungen und wiederum riesige Überschwemmungen etwa durch Veränderungen der Monsunperioden. All diese Phänomene kennen wir jetzt schon, und »jedes einzelne Ereignis könnte ohne weiteres riesige Flüchtlingsströme auslösen«.47

Der nicht mehr zu leugnende Klimawandel macht denn auch Optimisten wie Björn Lomborg zu schaffen. »Der Treibhauseffekt ist heute das beherrschende Umweltproblem«, gibt er zu: »Es steht außer Frage, dass die Mensch­heit die atmosphärischen CO2-Werte beeinflusst hat und weiter zunehmen lässt und sich dies auf die Temperaturen auswirkt.«48 Seine Strategie, sich die Gelassenheit dennoch zu bewahren, besteht in der bei diesem komplexen Thema beliebten Methode, die Modell-Rechnungen dadurch zu relativieren, dass sie natürlich stets hypothetisch sind. Die genaue »klimatische Grundempfindlichkeit« sei kaum festzulegen, die »Temperatur­prognose in erster Linie vom gewählten Computermodell« abhängig, »präzise Modelle frühestens in zehn Jahren zu erwarten«.49

Einmal abgesehen davon, dass sich diese Modelle seither eher stabilisiert haben, arbeitet eine solche Argumentation mit Binsenweisheiten, ist doch jede komplexe wissenschaftliche Prognose von Vorannahmen und darauf basierenden Modellen abhängig. Das bestreiten die Experten gar nicht, die sich in ihren Berechnungen um einen gewissen Schwankungskorridor herum aber recht einig sind. Dass wir nicht ganz genau wissen, wie es tatsächlich kommen wird, heißt leider nicht, dass wir nicht genau wissen können, dass es schlimm kommt.

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  Wasser 

Was die industrialisierte Menschheit dem Lebensrohstoff Wasser zu schlucken gibt, steht der »Luftveränderung« in nichts nach. Auch hier freut man sich in den reichen Ländern über den Sieg von Umweltschützern über die Dünnsäureverklappung in der Nordsee und den verbesserten Gewässerschutz bei heimischen Flüssen. Aber »neunzig Prozent der Abwässer in der Dritten Welt gelangen ungeklärt in die Flüsse«. Im Senegal und im Niger gibt es kaum noch Fische, ebenso in 80 Prozent aller größeren Flüsse Chinas, und in Russland fallen laut Eigenangaben 75 Prozent der Flüsse wegen Verschmutzung für die Trinkwassergewinnung aus.50  

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Die Verölung der Weltmeere geschieht nicht nur durch große Tankerkatastrophen oder den Untergang von Ölbohrplattformen, sondern ununterbrochen durch illegale Tankreinigung, lecke Schiffe und Pipelines. »Etwa ein Drittel aller Korallenriffe - die mit ihrem unverhältnismäßig hohen Anteil aller im Meer beheimateten Arten das Gegenstück zu den tropischen Regenwäldern bilden - sind bereits schwer geschädigt.«51 In einigen Gebieten ist das Meer tatsächlich tot: So haben die Stickstoffabfälle im Golf von Mexiko schon vor der BP-Katastrophe eine Meeresregion von der Größe Sachsens geschaffen, »in der kein Leben mehr existiert«.52

Richtig eng wird es bald beim Süßwasser werden, das für uns lebensnotwendig ist, aber nur »ein halbes Prozent sämtlichen Wassers auf Erden«53 ausmacht. Während die Industrie nach UN-Schätzungen im Jahr 2025 doppelt so viel Wasser wie heute verbrauchen wird, werden zur gleichen Zeit mindestens die Hälfte und bis zu zwei Drittel der Menschheit unter akutem Wassermangel leiden.54 Dadurch steigt die Versuchung, Tiefengrundwasser abzupumpen, dass sich nicht annähernd in der Geschwindigkeit regenerieren kann, in der es verbraucht wird: So pumpt Mexiko City 50 bis 80 Prozent mehr Wasser aus Tiefenlagern, als sich in der gleichen Zeit wieder auffüllen. In Saudi-Arabien könnten die Aquifere in 50 Jahren restlos verbraucht sein55, und die Farmer in Kansas/USA beuten den über Jahrtausende entstandenen Ogallala-Aquifer so rasant aus, dass mit dem völligen Verschwinden des Reservoirs in den nächsten zwanzig Jahren zu rechnen ist.56

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Anderswo wird das kostbare Grundwasser weiterhin bei der Hochdruck-Ölförderung benutzt und verschmutzt.57 Der Klimawandel wird die Situation wegen unregelmäßigerer und regional verschobener Niederschläge noch deutlich verschärfen.

Auch Björn Lomborg, meine stete optimistische Instanz der Gegenprüfung, muss zugeben, dass »in vielen Regionen das Wasser knapp wird« und »der Anteil der Menschen, die in Ländern mit Wasserknappheit leben,... steigen wird«.58 Auch er kritisiert den Raubbau an Tiefen-Grundwasser, mehr noch aber, dass »die Haushalte in der Dritten Welt im Durchschnitt nur 35 Prozent des tatsächlichen Wasserpreises« zahlen: Das seien »versteckte Wassersubventionen«: »Höhere Wasserpreise, die der Verschwendung einen Riegel vorschieben, sind Teil der Lösung.«59

Wenn man die »Wasserverschwendung« in der so genannten Dritten Welt mit der in der Industrie oder etwa in Kalifornien vergleicht und sich bewusst ist, dass »tatsächliche Wasserpreise« schlicht die sind, an denen Wasserkonzerne verdienen, dann kann man diese Äußerung wohl nur als neoliberale Ignoranz bezeichnen. Wasser für die gewinnorientierte Bewirtschaftung freizugeben wird in den armen Ländern nicht zu Sparsamkeit führen, sondern zu blanker Not und sozialem Sprengstoff.60

 

   Erde 

Auch Mutter Erde bzw. den »Mutterboden«, wie Humus bei uns immer noch genannt wird, behandelt die Menschheit eher stiefmütterlich, und das gerade durch die von der Agrarindustrie gepriesene »grüne Revolution«. Für die ist inzwischen ein Preis zu zahlen, der schon ins Widersinnige kippt: So »verbraucht die US-Landwirtschaft viel mehr Energie, als sie produziert, wenn man in der Bilanz die Energie, die zur Erzeugung von Kunstdünger erforderlich ist, berücksichtigt«.61 Weil die industrielle Landwirtschaft fast vollständig auf Kunstdünger beruht, reicht unsere Abhängigkeit von fossilen Energieträgern, aus denen der Dünger hergestellt wird, viel weiter, als uns in der Energiediskussion bewusst ist: »Wir ernähren uns im wahrsten Sinne des Wortes von Erdöl.«62

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Und die Landwirtschaft verbraucht inzwischen den Boden selbst: Er verschwindet einfach, wird fortgewaschen oder fortgeweht, weil ihn kein Wurzelwerk mehr hält. Auch das wusste man schon lange, schreibt doch der Fortwirtschaftler Gottlob König bereits 1840: »Wo Wälder und Bäume verschwinden, tritt Dürre und Öde an ihre Stelle ... Winde treiben den Boden in den Lüften umher und zerstören jeden neuen Keim des Lebens. Der Fall des ersten Baums war bekanntlich der Anfang, aber der Fall des letzten ist ebenso gewiss das Ende der Zivilisation.«63

Nach einer Studie von 1990 waren damals schon 430 Millionen Hektar, die siebenfache Fläche von Texas, durch Erosionsprozesse unwiederbringlich verloren.64 Mitunter verschwindet der Boden sogar dort, wo er ursprünglich Seeboden war, und auch das, weil Staaten intensive Landwirtschaft betreiben wollten, wo dies unter natürlichen Bedingungen nicht geht. So ist der Aralsee, einst ein zentral-asiatisches Binnenmeer, in der Folge sowjetischer Bewässerungsprojekte ausgetrocknet. Die Folge ist die Versalzung des Bodens sogar in 200 Kilometer Entfernung vom einstigen See, das Absinken des Grundwasserspiegels, das Verdorren der Vegetation, das Aussterben der Hälfte aller Säugetierarten und drei Viertel aller Vogelarten der Region, eine Klimaveränderung und natürlich das Abwandern eines großen Teils der Bevölkerung.65 Künstliche Bewässerung und Wüstenausbreitung gehen auch in China, Indien und Afrika Hand in Hand. So teilt etwa der Tschadsee schon weitgehend das Schicksal des Aralsees.66

Wir scheinen uns hier tatsächlich an einer kritischen Grenze zu bewegen: Das Ertragswachstum bei den Grundnahrungsmitteln Reis, Weizen und Mais geht inzwischen zurück und die Landwirtschaft verliert zur Zeit global mehr Böden, als sie neu unter den Pflug nehmen kann.67 Trotzdem setzt Lomborg auf die Weiterführung der »grünen Revolution«: »durch ertragreichere Sorten, verbesserte Verfahren und stärkeren Einsatz von Pestiziden, Düngemitteln und künstlicher Bewässerung«.68 Dabei sind es gerade diese Rezepte, welche Erosion, Versalzung und Wasserprobleme mit sich bringen. Der Teufelskreis führt Lomborg schließlich zu einer Äußerung von entwaffnender Offenheit: »Man bekommt manchmal zu hören, dass Pestizide und intensive Anbaumethoden der Umwelt schaden. Aber was haben wir bei über sechs Milliarden Menschen für eine Alternative?«69

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Man fragt sich, welche Alternative wir erst bei zehn Milliarden Menschen noch haben werden.

Die verbrauchende Gewinnung von Neuland ist im 20. Jahrhundert in ein Refugium vorgedrungen, das nie zuvor in die »neolithische Revolution« der Landwirtschaft einbezogen wurde: in die Tropen. Die Menschheit ist gewissermaßen bei ihrer letzten Reserve angekommen: »Die neuen Siedlungsbewegungen ... könnten allerdings auch das letzte Stadium einer 10.000 Jahre währenden Entwicklung bedeuten.«70

Die tropischen Regenwälder wurden bis Mitte der 1990er Jahre weltweit schon um ein Drittel ihrer Gesamtfläche reduziert. In Ländern wie Nigeria und Madagaskar existieren nur noch Waldreservate von 10 bis 15 Prozent des ursprünglichen Bestandes, in Mittelamerika sind bis zu 70 Prozent des Waldes verschwunden.71 Das sind regionale Katastrophen, die auch globale Auswirkungen haben: Die Wälder funktionieren als riesige Luftfilter. Ihre Biomasse bindet CO2 - und umgekehrt gehen wohl 20 Prozent des Treibhausgasausstoßes auf die Vernichtung von Wäldern zurück.72 Angesichts dieser Zahlen kann sich auch der Optimist Lomborg kaum mehr mit seinen Berechnungen trösten, nach der die Abholzung sich derzeit verlangsame. Denn auch dann gilt: »Langfristig wird hier das Familiensilber verhökert.«73

 

   Leben  

Der beste Gradmesser für die Kumulation einzelner Faktoren der Krise ist wohl das Artensterben. Es geht um nicht weniger als eine Bilanz menschlichen Verhaltens gegenüber den Mitlebewesen auf Erden. Dabei zeigt sich das Alleinstellungsmerkmal des 20. Jahrhunderts besonders deutlich im Umgang mit dem maritimen Leben, weil »mit ca. drei Milliarden Tonnen eine größere Menge Fisch aus dem Meer geholt wurde als in allen vorherigen Jahrhunderten des Fischfangs zusammen«.74 Die Überfischung funktioniert nach dem Muster der »Tragödie des Allgemeinguts«, nach den alten Gemeinschaftsweiden vormoderner Dörfer auch »Tragödie der Allmende« genannt: Wo sich jeder frei bedienen kann, ohne später die Verantwortung tragen zu müssen, handelt der größte Räuber durchaus rational.75

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Im November 2006 schreckte die Öffentlichkeit eine in der Zeitschrift »Science« veröffentlichte Studie auf, nach der die Ozeane im Jahr 2048 schlicht fischfrei sein könnten, wenn wir so weitermachen wie bisher. Lomborgs beruhigende Antwort darauf besteht außer in dem Verweis auf Fischfarmen in dem Hinweis, dass Fisch für die Ernährung der Menschheit eine eher marginale Rolle spiele.76 Das ist eine naiv-anthro­pozentrische und unökologische Sichtweise: Die Ozeane sind das größte Ökosystem der Erde und die Fische darin ein vernetzter Faktor. Ihr Aussterben würde nicht nur bedeuten, dass wir zukünftig mehr Steaks essen müssen.

Meist geschieht Ausrottung jedoch nicht nach dem Muster der Überfischung, sondern indirekt, durch die Vernichtung von Lebensraum. Die komplexe Berechnung, wie weit das vom Menschen ausgelöste Artensterben schon gediehen ist, wird gern mit dem Hinweis auf die großen Aussterbewellen der Erdgeschichte relativiert: Beim berühmten Artenknick vor 65 Millionen Jahren, am Ende der Kreidezeit, als vielleicht ein Meteoriten­einschlag den Sauriern den Garaus machte, sollen etwa 11 Prozent aller Arten ausgestorben sein. Weit früher, am Ende des Perm vor etwa 230 Millionen Jahren, seien es sogar 52 Prozent gewesen.77

Kann menschliches Handeln solche Schnitte in der Geschichte des Lebens verursachen?

Entscheidend ist für die Antwort nicht die absolute Zahl ausgestorbener Arten, sondern die Verhältnisbestimmung zwischen dem natürlichen durchschnittlichen Artensterben und dem durch den Menschen bewirkten. Eine Berechnung geht davon aus, dass im evolutionären Normaltempo, das sich paläontologisch abschätzen lässt, etwa eine Art pro Jahrhundert verschwindet. Diese Aussterberate betrug jedoch schon um 1900 eine Art pro Jahr und gegenwärtig eine pro Stunde! »Einem Bericht des angesehenen Magazins Science zufolge liegt die gegenwärtige Aussterberate einhundert- bis eintausendmal höher als in der Zeit, bevor es Menschen gab.«78 Zudem könnte der Klimawandel bis Mitte des Jahrhunderts 15 bis 37 Prozent aller Arten zum Aussterben bringen.(79)

Lomborg verweist zu Recht darauf, dass diese Hochrechnungen, die sich auf alle (und damit auch auf massenhaft noch gar nicht bekannte) Arten der Erde beziehen, oft auf vager Datengrundlage beruhen. Aber auch bei seiner konservativen Gegenrechnung kommt er schließlich zu dem Ergebnis, dass erstens »die Menschheit seit langem die Hauptursache des Artenschwunds« ist und zweitens die künftige Aussterberate »etwa 1.500 mal höher als der natürliche Artenschwund« liegen dürfte.(80)

Gravierender als diese quantitativen Erhebungen ist jedoch das darin eingeschlossene qualitative Moment: Das durch den Menschen verursachte Aussterben geschieht durch die Vernichtung eines zur Lebensentfaltung nötigen Lebensraumes. Dessen zivilisatorische Umwidmung nimmt auch die natürliche Möglichkeit, den Verlust wieder auszugleichen. »Das gegenwärtige Jahrhundert wird das Ende jeder nennenswerten Evolution bei den großen Pflanzen und landbewohnenden Wirbeltieren der Tropen erleben«, also »das Ende der Artenbildung«, glaubte der Biologe Michael Soule am Ende des nun tatsächlich vergangenen 20. Jahrhunderts.(81)

Auch hier ist das historisch Ungeheure an dem Vorgang unsere Zeitzeugenschaft bei einem Prozess, den es in der Erdgeschichte so noch nie gegeben hat und der jetzt zu seinem katastrophalen Ziel kommt: »Die Gefahr des massenhaften Artensterbens ist weder Gespenstermalerei noch eine bloße Gefahr der Zukunft«, sagt Jared Diamond.(82)

Nahrungsketten und ökologische Zusammenhänge werden mit einer Brutalität zerschnitten, deren Auswirkungen völlig unkalkulierbar sind. Der Stillstand der Artenbildung zerstört große Teile des irdischen Genpools.

»Nichts führt an dem Schluss vorbei, dass zu unseren Lebzeiten dieser Planet ein Aussetzen, wenn nicht das Ende vieler ökologischer und evolutionsgeschichtlicher Vorgänge erleben wird, die seit Beginn der paläontologischen Zeiten ohne Unterbrechung andauerten.«(83,Quammen)

34-35

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wikipedia  Michael_E._Soulé    
*1936 in Kalifornien

Glaubrecht-2019: Das Ende der Evolution  

Lomburg 

Diamond 

Haber  

wikipedia  David_Quammen 
*1948 in Ohio   

   

     

 

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  www.detopia.de        Zitatnachweis    Literatur      ^^^^ 

Taxacher-2012