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Kaskaden-3

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Manche Klimakaskaden werden weltumspannend ablaufen - und ihr Ausmaß sorgt dafür, dass ihre Auswirkungen durch den merkwürdigen Taschen­spielertrick der Umwelt­veränderungen fast unbemerkt bleiben.

Eine wärmer werdende Erde führt zum Abschmelzen des arktischen Eises, was bedeutet, dass weniger Sonnenlicht reflektiert und dafür mehr absorbiert wird, wodurch sich die Erde noch schneller erwärmt, was wiederum dazu führt, dass die Meere weniger Kohlendioxid aus der Luft aufnehmen und sich die Erde noch schneller erwärmt.

Eine wärmer werdende Erde lässt auch den Permafrostboden in der Arktis auftauen, der 1800 Gigatonnen Kohlenstoff bindet(81) - mehr als doppelt so viel, wie sich momentan in der Erdatmosphäre befinden -, und der, wenn der Boden taut, teilweise in Form von Methan entweichen könnte, das auf ein Jahrhundert gerechnet ein 34-mal stärkeres Treibhausgas ist als Kohlendioxid.(82) Auf zwei Jahrzehnte betrachtet wirkt es sogar 86-mal so stark.

Eine heißere Erde ist unterm Strich schlecht für die Pflanzenwelt, was ein Waldsterben auslösen würde - Dschungelgebiete so groß wie ganze Länder und Dickichte, die sich über so viele Kilometer erstrecken, dass sie Mythen und Legenden hervorgebracht haben, würden verkümmern und schrumpfen -, was der natürlichen Fähigkeit des Planeten, Kohlendioxid aufzunehmen und in Sauerstoff umzuwandeln, einen schweren Schlag versetzen würde, was zu noch höheren Temperaturen führt, was noch mehr Waldsterben auslöst und so weiter.

Höhere Temperaturen bedeuten mehr Waldbrände, was wiederum weniger Bäume bedeutet, was eine geringere CO2-Aufnahme bedeutet, was mehr Kohlendioxid in der Luft bedeutet, was eine noch wärmere Erde bedeutet - und so weiter.

Eine wärmere Erde steigert den Wasserdampf in der Atmosphäre, und da Wasserdampf ein Treibhausgas ist, lässt auch das die Temperatur ansteigen - und so weiter.

Wärmere Meere können weniger Hitze absorbieren, was heißt, dass mehr davon in der Luft verbleibt, und weniger Sauerstoff in sich lösen, was dem Phytoplankton zusetzt, das im Ozean das erledigt, was die Pflanzen auf dem Land übernehmen: Es vertilgt Kohlenstoff und produziert Sauerstoff. Sein Verschwinden lässt die Kohlendioxidmenge steigen, was die Erde weiter erwärmt - und so weiter.

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Das ist es, was die Klimaforscher »Rückkopplungen« nennen, und es gibt noch mehr solche Systeme.(83) Manche wirken in die entgegengesetzte Richtung und schwächen den Klimawandel ab. Doch deutlich mehr von ihnen würden den Temperaturanstieg beschleunigen, wenn wir sie erst einmal auslösen. Und wie genau sich diese komplexen, gegenläufigen Systeme aufeinander auswirken - welche Effekte durch Rückkopplungen verstärkt und welche unterlaufen würden - ist unbekannt, was alle Bemühungen, für unsere Klimazukunft zu planen, in eine dunkle Wolke der Ungewissheit hüllt.

Wir wissen, wie der bestmögliche Ausgang des Klimawandels aussieht - so unrealistisch er auch sein mag -, weil dieses Szenario der Welt, in der wir heute leben, ziemlich ähnlich sähe. Aber wir haben noch kaum einen Gedanken auf die Kaskaden verwendet, die uns in den höllenähnlichen Bereich der Glockenkurve befördern könnten.

Andere Kaskaden wirken sich regional aus, sie brechen über bestimmte Menschengruppen herein und zwingen sie in die Knie. Und das kann durchaus im Wortsinn gemeint sein - die Anzahl der vom Menschen verursachten Lawinen nimmt ständig zu, zwischen 2004 und 2016 kosteten sie weltweit 50.000 Menschen das Leben.(84) In der Schweiz hat der Klimawandel aufgrund von sogenannten »Regen auf Schnee«-Ereignissen eine ganz neue Form von Lawinen hervorgebracht, wie sie auch zum Überlaufen des Oroville-Staudamms in Nordkalifornien und den Überschwemmungen im kanadischen Alberta im Jahr 2013 führten, die Schäden in Höhe von fünf Milliarden Dollar anrichteten.(85)   wikipedia  Oroville_Dam

Aber schon jetzt gibt es auch andere Arten von Auswirkungen.

Der klimabedingte Wassermangel und Ernteausfälle drängen Klimaflüchtlinge in die Nachbarregionen, die ohnehin schon unter Ressourcenknappheit leiden.

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Der Anstieg des Meeresspiegels überspült Anbauflächen mit Salzwasser; er verwandelt Ackerland in Brackwassersümpfe, die denjenigen, die auf sie angewiesen sind, nicht mehr genügend Nahrung liefern; er setzt Elektrizitäts­werke unter Wasser und sorgt dadurch gerade dann, wenn der Strom am dringendsten gebraucht wird, für Ausfälle; und er beschädigt Chemiefabriken und Atomkraftwerke, sodass diese ihre giftigen Gase in die Luft blasen.

Die Regenfälle, die auf das Camp-Fire folgten, überschwemmten die Zeltstädte, die hastig für die Opfer der ersten Katastrophe errichtet worden waren. Im Fall der Erdrutsche von Santa Barbara verwandelte die Dürre einen ganzen Staat zunächst in trockenes Buschwerk, das nur auf einen Funken wartete, dann folgte ein Jahr mit außergewöhnlich starkem, monsunähnlichem Niederschlag, der die Pflanzen wachsen und gedeihen ließ, bevor die Brände sich durch die Landschaft fraßen und die Berghänge von allen Pflanzen befreiten, deren Wurzelwerk die Millionen Tonnen loser Erde des hoch aufragenden Küstengebirges, wo sich oft Wolkenberge auftürmen und abregnen, hätte festigen können.

So manch einer, der das Ganze aus der Ferne beobachtete, fragte sich ungläubig, wie ein Erdrutsch so viele Menschenleben kosten konnte. Die Antwort lautet: Genauso wie Wirbelstürme und Tornados - indem die Landschaft zur Waffe wird, sei sie »menschengemacht« oder »natürlichen Ursprungs«. Das Tödliche an Windkatastrophen ist nicht der Wind, so heftig er auch sein mag, sondern es sind Bäume, die aus der Erde gerissen werden und sich in Keulen verwandeln, Stromleitungen, die zu Peitschen und elektrisch geladenen Schlingen werden, Häuser, die über zusammengekauerten Bewohnern einstürzen, und Autos, die durch die Gegend wirbeln. Und dann sind da noch die Folgen - die Unterbrechung der Nahrungsmittel- und Medikamentenversorgung, die verschütteten Straßen, die den Ersthelfern den Zugang versperren, die zerstörten Telefonleitungen und Funkmasten, die dafür sorgen, dass alte und kranke Menschen still und ohne Unterstützung leiden und aufs Überleben hoffen müssen.

Doch ein Großteil der Welt ist nicht Santa Barbara mit seinem dick aufgetragenen, scheinbar unendlichen Wohlstand im Stil der spanischen Missionen.   wikipedia  Santa_Barbara_Kalifornien

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In den kommenden Jahrzehnten werden viele der schlimmsten Klimakatastrophen genau diejenigen Menschen treffen, die sich am wenigsten dagegen wehren und davon erholen können. Das ist es, was oft als das Problem der »Klimagerechtigkeit« bezeichnet wird - ein treffenderer, weniger schwammiger Begriff wäre »Klimakastenwesen«. Dieses Problem stellt sich auch innerhalb von Staaten, selbst reichen, wo die Bedürftigsten in den Sumpf­gebieten, den Überflutungszonen, den unzureichend an die Wasserversorgung angeschlossenen Landstrichen leben, in denen die Infrastruktur am empfindlichsten ist - unterm Strich eine unbeabsichtigte Umwelt­apartheid. Allein in Texas leben 500.000 arme Latinos in heruntergekommenen Siedlungen namens »colonias«, wo es kein Abpumpsystem für die immer häufiger auftretenden Überschwemmungen gibt.86

Weltweit betrachtet geht die Schere noch weiter auseinander: Die ärmsten Bevölkerungsgruppen werden in unserer neuen heißen Welt stärker leiden. Mit Ausnahme von Australien verfügen alle Länder, in denen die Temperaturen am deutlichsten ansteigen, über ein niedriges Bruttoinlandsprodukt (BIP), und das, obwohl weite Teile des globalen Südens die Erdatmosphäre bisher noch nicht in großem Maße verschmutzt haben.87 Das ist eine der vielen historischen Ironien des Klimawandels, die man eigentlich eher als Grausamkeiten bezeichnen müsste, so gnadenlos ist das Leid, das dadurch entsteht.

Doch auch wenn die Verheerungen durch die Erderwärmung hauptsächlich die Ärmsten des Planeten treffen werden, kann doch auch die industrialisierte Welt sie nicht von sich fernhalten, so sehr die Bewohner der nörd­lichen Hemisphäre es sich - in einem wenig ehrenwerten Impuls - auch wünschen mögen. Dafür schlägt die Klimakatastrophe zu wahllos zu.

Der Glaube, dass das Klima von irgendeiner heute bestehenden Institution oder einem vom Menschen geschaffenen Instrument sinnvoll gelenkt oder beherrscht werden kann, ist vielmehr ein weiterer naiver Klima­irrglaube.

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Die Erde hat viele Jahrtausende überstanden, ohne dass es so etwas wie eine Weltregierung gegeben hätte - sogar fast die gesamte Geschichte der menschlichen Zivilisation über, die meist aus miteinander konkurr­ierenden Stämmen, Sippen, Reichen und Nationalstaaten bestand und erst nach zwei brutalen Weltkriegen begann, häppchenweise eine Art Kooperationsplan zu entwerfen - nicht nur in Form des Völkerbundes und der Vereinten Nationen, sondern später auch in Form der Europäischen Union und sogar der globalisierten Märkte, die trotz all ihrer Schwächen dennoch eine Vision einer nationenübergreifenden Beteiligung verfolgen, geprägt durch den neoliberalen Ethos, dass das Leben auf Erden ein Positivsummenspiel sei.

Wenn man eine Bedrohung erfinden wollte, die groß und global genug ist, um tatsächlich ein System echter internationaler Zusammenarbeit herbeizuführen, käme dabei der Klimawandel heraus - die allgegenwärtige, überwältigende und absolute Gefahr. Und dennoch haben wir jetzt gerade, da eine derartige Kooperation dringend benötigt wird - ja, sogar unerlässlich ist, um die Welt, die wir kennen, in irgendeiner Form zu erhalten -, nichts Besseres zu tun, als diese Allianzen abzubauen, in unsere nationalistischen Schlupfwinkel zu kriechen und uns von der kollektiven Verantwortung und (von) einander zurückzuziehen. Auch dieser rasante Vertrauens­verlust zählt zu den Kaskaden.

#    wikipedia  Äsop    #

Wie sehr die Welt unter unseren Füßen uns tatsächlich fremd sein wird, ist noch nicht klar, und wie sich die Veränderungen bemerkbar machen, bleibt eine offene Frage. Den Umweltfreunden, die die Natur lange als außer­weltlichen Rückzugsort angepriesen haben, ist es zu verdanken, dass wir ihre Zerstörung nun als etwas betrachten, das fernab unseres modernen Lebens abläuft - so weit davon entfernt, dass die Verheerungen die bequemen Formen einer Parabel annehmen, wie Geschichten von Äsop; wir ästhetisieren sie, auch wenn wir wissen, dass die Verluste tragisch sind. 

Der Klimawandel könnte bald schon bewirken, dass sich Bäume im Herbst einfach braun färben, und dann werden wir ganze Malerschulen, in denen sich jahrhundertelang alles darum drehte, die Rot- und Orangetöne zu treffen, die wir nicht mehr zu Gesicht bekommen, wenn wir auf der Straße aus dem Autofenster schauen, in einem völlig anderen Licht betrachten.88

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Die Kaffeepflanzen in Lateinamerika werden keine Früchte mehr tragen, und die Häuser am Strand werden trotz immer höherer Stelzen trotzdem noch überschwemmt werden.89 In vielen Fällen reicht schon der Blick in die Gegenwart. Allein in den letzten 40 Jahren sind laut dem World Wildlife Fund mehr als die Hälfte aller Wirbeltierarten ausgestorben, und die Anzahl der fliegenden Insekten ist in den letzten 25 Jahren um drei Viertel zurückgegangen, wie eine Studie deutscher Naturforscher ergab.90 Der empfindliche Tanz der Blumen und ihrer Bestäuber ist gestört,91 ebenso wie das Wanderverhalten des Kabeljaus, der von der amerikanischen Ostküste Richtung Arktis geflohen ist und sich so den Fischern entzieht, die seit Jahrhunderten mit ihm ihren Lebensunterhalt verdienen.92

Ebenfalls gestört ist der Winterschlaf des Schwarzbären, viele der Tiere bleiben jetzt das ganze Jahr über wach.93 Tierarten, die sich über Millionen Jahre auseinanderentwickelt haben, aber durch den Klimawandel örtlich zusam­mengeführt wurden, vermehren sich erstmals miteinander, was ganz neue Mischlingsformen hervorbringt, etwa den Pizzly-Bär und den Coywolf. Zoos sind bereits heute Naturkundemuseen, Kinderbücher hoff­nungs­los veraltet.(94)

Auch ältere Fabeln werden umgeschrieben: Die Geschichte von Atlantis, die seit Jahrtausenden existiert und fasziniert, wird sich mit der wahren Geschichte der Marshallinseln und von Miami Beach messen müssen, beides Orte, die sich durch ihr Versinken in Schnorchelparadiese verwandeln. Das merkwürdige Märchen vom Weihnachtsmann und seiner Geschenkewerkstatt in der Polarregion wird noch seltsamer klingen, wenn die Sommer in der Arktis eisfrei bleiben, und die Frage, wie wir die Odyssee lesen werden, wenn sich der Mittelmeerraum in eine Wüste verwandelt hat,95 wie der Glanz der griechischen nseln darunter leiden wird, wenn eine Decke aus Saharastaub dort dauerhaft den Blick in den Himmel trübt,96 oder was es für den Stelenwert der Pyramiden bedeutet, wenn der Nil austrocknet,97 löst schmerzliche Empfindungen aus. Außerdem werden wir die Grenze zwischen den USA und Mexiko wohl ganz anders betrachten, wenn sie nur noch eine Linie im trockenen Flussbett des Rio Grande ist - er wird schon heute »Rio Sand« genannt.98


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Der arrogante Westen hat fünf Jahrhunderte lang verächtlich auf diejenigen hinabgeschaut, die von tropischen Krankheiten heimgesucht wurden, und man fragt sich, wie sich das verändern wird, wenn die Malaria und Denguefieber übertragenden Moskitoarten auch in Kopenhagen und Chicago umherschwirren.

Wir verstehen Geschichten über die Natur jedoch schon so lange als Allegorien, dass wir anscheinend nicht in der Lage sind, zu erkennen, dass die Bedeutung des Klimawandels über eine Parabel hinausgeht. Er umgibt uns, beherrscht uns auf ganz reale Weise - unsere Ernteerträge, unsere Pandemien, unser Migrationsverhalten und unsere Bürgerkriege, Kriminalitätswellen und häusliche Gewalt, Hurrikans, Hitzewellen, Sturzregenfälle und Megadürren, den Verlauf unseres Wirtschaftswachstums und das, was damit zusammenhängt - und das ist heute nahezu alles.

Allein in Südasien könnten sich laut der Weltbank die Lebensumstände von 800 Millionen Menschen bis 2050 rapide verschlechtern, wenn wir bei den Emissionen so weitermachen wie bisher,99 und vielleicht würde eine Verlangsamung des Klimawandels sogar zeigen, dass der Wohlstand dessen, was der schwedische Humanökologe Andreas Malm als »fossilen Kapitalismus« bezeichnet,100 nur eine Illusion ist, die allein dadurch ein paar Jahrhunderte lang aufrechterhalten wurde, dass wir den Energiewert der fossilen Brennstoffe zu dem hinzugerechnet haben, was vor Holz, Öl und Kohle eine ewige malthusianische Falle war.

In dem Fall müssten wir das Bild, dass der Verlauf der Geschichte unaufhaltsam mit materiellem Fortschritt verbunden ist, korrigieren - zumindest in Bezug auf zuverlässigen und weltweiten Fortschritt - und irgendwie damit zurechtkommen, wie sehr dieses falsche Bild selbst unser Denken geprägt hat, oft auf tyrannische Art und Weise.

Anpassungen an den Klimawandel werden oft nur unter dem Gesichtspunkt betrachtet, was sie dem Markt einbringen, aber in den kommenden Jahrzehnten wird sich diese Sichtweise wohl drehen: Dann ist begrenzter Wohlstand etwas, das die aggressiveren Maßnahmen mit sich bringen.

wikipedia  Andreas_Malm *1977     wikipedia  Verkehrssprache        40


Jeder Grad Erwärmung, hat man errechnet, kostet ein Land in den gemäßigten Breiten, beispielsweise die USA, etwa ein Prozent des BIP, und laut einer kürzlich veröffentlichten Studie würde ein Temperaturanstieg um zwei statt um 1,5 Grad die Welt 20 Billionen Dollar kosten.101 Denken Sie noch ein oder zwei Grad weiter, und die Zahl schießt nach oben - das ist der Zinseszins der Umweltkatastrophe; eine Erderwärmung um 3,7 Grad würde Schäden im Wert von 551 Billionen Dollar verursachen,102 haben Untersuchungen ergeben; dabei beträgt das weltweite Vermögen heute gerade 280 Billionen Dollar.(103)

Wenn sich unser CO2-Ausstoß weiter so entwickelt wie bisher, ist die Erde 2100 vier Grad wärmer; setzt man pro Grad ein Prozent des BIP an, ist bis dahin jede Chance auf Wirtschaftswachstum mehr oder weniger vertan, denn das hat seit mehr als 40 Jahren nie die Grenze von 5 Prozent überstiegen.104 Eine Randgruppe besorgter Wissenschaftler nennt diese Aussicht »stationäre Wirtschaft«105, aber letztendlich bedeutet sie eine umfassende Abkehr von der Wirtschaft als Leitstern und vom Wachstum als Lingua franca, in der wir im modernen Leben all unsere Hoffnungen und Ziele ausdrücken.

Der Begriff »stationär« passt auch zur schleichenden Angst, dass die Geschichte eben doch keine fortschreitende Entwicklung ist, wie wir eigentlich erst seit wenigen hundert Jahren glauben, sondern eher zyklisch abläuft, wie wir es in den Jahrtausenden zuvor für gesichert hielten. Mehr noch: In dem Bild, das uns das Konzept der stationären Wirtschaft von einem naturgegebenen Wettkampf um die Ressourcen vermittelt, erscheint alles von der Politik über den Handel bis hin zum Krieg wie ein brutales Nullsummenspiel.

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Jahrhundertelang haben wir die Natur als Spiegel betrachtet, auf den wir uns erst projizieren und in dem wir uns dann beobachten. Aber worin besteht die Moral? Wir können nichts aus der Erderwärmung lernen, weil wir nicht genügend Zeit oder Abstand dazu haben, um über ihre Lehren nachzudenken. Schließlich erzählen wir die Geschichte nicht nur, sondern leben sie. Das heißt, wir versuchen es - die Bedrohung ist gewaltig. Wie gewaltig?

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Ein Aufsatz aus dem Jahr 2018 geht auf die furchtbaren Details ein. In der Fachzeitschrift Nature Climate Change versuchte ein Forscherteam rund um Drew Shindell, das Leiden, das vermieden werden könnte, falls wir es schaffen, die Erwärmung auf 1,5 statt auf zwei Grad zu beschränken, in Zahlen zu fassen - anders formuliert: wie viel zusätzliches Leid nur dieses halbe Grad mehr ausmachen würde. Die Antwort: In einer um zwei Grad wärmeren Welt würden 150 Millionen Menschen mehr an Luftverschmutzung sterben als in einer um 1,5 Grad wärmeren Welt.106 Im gleichen Jahr erhöhte der Weltklimarat den Einsatz noch einmal: Die Lücke zwischen 1,5 Grad und zwei Grad gefährde Hunderte Millionen Leben.107

Derart große Zahlen können schwer zu fassen sein, aber 150 Millionen entsprechen 25 Holocausts. Es sind dreimal so viele Tote wie während des »Großen Sprungs nach vorn«, dem tödlichsten nichtmilitärischen Ereignis in der Geschichte der Menschheit, und doppelt so viele wie beim tödlichsten Ereignis in der Geschichte der Menschheit überhaupt - dem Zweiten Weltkrieg. Und natürlich steigen die Zahlen nicht erst, sobald 1,5 Grad erreicht sind. Es dürfte nicht überraschen, dass das bereits jetzt der Fall ist; jährlich finden mindestens sieben Millionen Menschen durch die Luftverschmutzung den Tod - jedes Jahr ein Holocaust, betrieben und geschützt durch welche Art von Nihilismus genau?(108)

Das ist damit gemeint, wenn der Klimawandel als »existenzielle Krise« bezeichnet wird - ein Drama, in dem wir planlos zwischen zwei höllischen Polen improvisieren. Der bestmögliche Ausgang wären Tod und Leiden im Ausmaß von 25 Holocausts, im schlechtesten Fall ständen wir vor dem Aussterben.

Wenn es um den Klimawandel geht, fehlen uns oft die richtigen Worte, denn die einzigen sachlich angemessenen Formulierungen gehören zu denen, die in unserer Kultur des heiteren Alles-wird-gut-Optimismus kategorisch als Übertreibungen abgetan werden.

Doch die Fakten sind grotesk und die Dimensionen des Dramas, das sich zwischen diesen beiden Polen entfalten wird, unvorstellbar gewaltig - so gewaltig, dass es nicht nur um die gesamte heute lebende Menschheit geht, sondern auch um alles, was noch kommen könnte.

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Die Erderwärmung hat es irgendwie geschafft, die gesamte Geschichte unserer Zivilisation in zwei Generationen zu pressen. Da war zunächst das Projekt, die Erde so umzugestalten, dass sie unbestreitbar uns gehört - ein Projekt, dessen Abgase, die Gifte der Emissionen, sich nun so schnell durch über Jahrtausende hinweg entstandene Eisschichten fressen, dass man sie mit bloßem Auge schmelzen sehen kann, und dabei die Umwelt­bedingungen zerstören, die buchstäblich die gesamte Geschichte der Menschheit über stabil waren. Das ist das Werk einer einzigen Generation. Die zweite Generation sieht sich einer ganz anderen Aufgabe gegenüber: dem Projekt, uns allen eine Chance auf eine Zukunft zu bewahren, die Zerstörung abzuwenden und einen anderen Weg zu finden.

Es gibt einfach nichts, was damit vergleichbar wäre, sofern man Mythen und religiöse Traktate - oder vielleicht auch die Perspektive der drohenden Atomschlacht im Kalten Krieg - nicht in Betracht zieht.

Kaum jemand fühlt sich angesichts der Klimaerwärmung wie ein Gott, aber dass wir auf die Übermacht des Klimawandels derart lethargisch reagieren müssten, ist ein weiterer Irrglaube.

In der Folklore, in Comics, im Gottesdienst oder in Filmen lösen Geschichten über das Ende der Welt beim Publikum oft eine seltsame Passivität aus, und vielleicht sollte es uns nicht überraschen, dass es bei der Bedrohung durch den Klimawandel nicht anders ist. Als der Kalte Krieg zu Ende ging, hatte die Aussicht auf einen nuklearen Winter die Popkultur und die Psychologie bis in den letzten Winkel durchdrungen - als allgegen­wärtiger Albtraum, dass dem gesamten menschlichen Experiment durch das taktische Ringen zweier stolzer Rivalen, durch einige wenige zuckende Hände über den Selbstzerstörungsknöpfen des Planeten ein Ende bereitet werden könne.

Die Bedrohung durch den Klimawandel ist noch schlimmer, und letzten Endes demokratischer, weil wir alle selbst jetzt, da wir vor Angst zittern, unseren Anteil daran haben. Dennoch ist uns die Gefahr nur teilweise bewusst; wir haben sie wie üblich weder konkret noch im Detail erfasst, sondern schieben bestimmte Sorgen weg und erfinden dafür andere.

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Wir ignorieren bewusst die düsteren Aspekte der möglichen Zukunft und lassen unseren politischen Fatalismus und unseren Technikglauben vor unserem inneren Auge zu einer erstaunlich vertrauten Konsumfantasie verschwimmen: Irgendjemand wird das Problem schon für uns lösen, ohne dass es uns etwas kostet. Diejenigen, die sich am meisten Sorgen machen, führen oft ein kaum weniger selbstzufriedenes Dasein; sie leben mit dem Klimafatalismus, als handle es sich um Klimaoptimismus.

In den vergangenen Jahren, als die Schläge des Klimas immer unausweichlicher wurden, sind die Skeptiker dazu übergegangen, nicht mehr den Klimawandel an sich zu bestreiten, da die Extremwetterereignisse das unmöglich machten, sondern darauf zu beharren, dass seine Gründe nicht klar seien - die Veränderungen, die wir sehen, seien die Folge natürlicher Abläufe, nicht des menschlichen Handelns und Eingreifens. Das ist ein sehr seltsames Argument, denn wenn die Erde sich rasend schnell und beängstigend stark erwärmt, sollte es uns doch wohl mehr Sorgen machen, nicht weniger, wenn diese Entwicklung sich unserer Kontrolle - und vielleicht sogar unserem Verständnis - entzieht.

Das Wissen, dass die Erderwärmung menschengemacht ist, sollte ein Trost sein, kein Grund zur Verzweiflung, so unfassbar groß und komplex die auslösenden Prozesse auch sein mögen; das Wissen, dass wir selbst für all diese schlimmen Auswirkungen verantwortlich sind, sollte uns im besten Sinne bestärken. Schließlich ist die Erderwärmung ein Machwerk des Menschen. Und die Kehrseite unserer Schuldgefühle ist, dass wir immer noch alles in der Hand haben.

Egal, wie sehr das Klimasystem - mit seinen tosenden Wirbelstürmen, den beispiellosen Hungersnöten und Hitzewellen, den Flüchtlingskrisen und Klimakonflikten - außer Rand und Band geraten ist, wir alle sind die Urheber. Manche, wie die Ölkonzerne und ihre politischen Unterstützer, sind fleißigere Urheber als andere. Aber die Last der Verantwortung ist zu groß, um sie nur auf einige wenige Schultern zu verteilen - so bequem der Glaube auch ist, es müssten nur ein paar Schurken gehen, und schon wäre alles gut.

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Jeder von uns schadet unserer Zukunft schon dann ein kleines bisschen, wenn er nur den Lichtschalter betätigt, ein Flugticket kauft oder nicht zur Wahl geht. Jetzt sind wir gemeinsam dafür zuständig, den nächsten Akt zu schreiben. Wir haben einen Weg gefunden, für Zerstörung zu sorgen, und müssen jetzt auch einen Weg wieder hinausfinden - oder besser gesagt einen Weg hin zu einem ramponierten Zwischenzustand, der einer neuen Generation aber trotzdem noch die Möglichkeit bietet, ihre eigenen Wege zu gehen, vielleicht in eine bessere Klimazukunft.

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Seit ich über das Klima schreibe, bin ich oft gefragt worden, ob ich irgendeinen Anlass dafür sehe, optimistisch zu sein. Ich muss sagen: Ich bin optimistisch. Angesichts der Tatsache, dass die Menschen ein Klima erschaffen haben, das im Verlauf der kommenden Jahrhunderte sechs oder acht Grad wärmer werden könnte - und damit weite Teile der Erde nach unseren heutigen Definitionen unbewohnbar macht -, betrachte ich den ramponierten Zwischenzustand als eine ermutigende Aussicht.

Eine Erwärmung um drei oder 3,5 Grad würde die Menschen schlimmer leiden lassen, als sie es in vielen Jahrtausenden voller Anstrengungen, Qualen und Krieg erlebt haben. Aber es ist kein fatalistisches Szenario, sondern deutlich besser als das, worauf wir gerade zustreben.

Und wenn es um die Frage der Kohlenstoffabscheidung geht, also die Rückholung von CO2 aus der Luft, oder um Geoengineering, bei dem die Erde abgekühlt würde, indem man Gas in die Atmosphäre ausbringt, oder irgendeiner anderen heute noch unvorstellbaren Technik, könnten wir neue Lösungen finden, die unseren Planeten näher an einen Zustand heranrücken, den wir aus heutiger Sicht nur als düster, nicht als katastrophal bezeichnen würden.

Ich bin auch schon oft gefragt worden, ob es eigentlich moralisch vertretbar ist, sich unter diesen Klimabedingungen fortzupflanzen, ob es verantwortungsvoll ist, Kinder zu bekommen, ob es dem Planeten oder - vielleicht noch wichtiger - den Kindern gegenüber fair ist.(109)

Wie es der Zufall will, bin ich, während ich dieses Buch schrieb, Vater einer Tochter geworden, Rocca. Das ist zum Teil bedingt durch einen Irrglauben, durch bewusste Blindheit:

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Ich weiß, dass uns schreckliche Klimaentwicklungen bevorstehen, die sicherlich auch meine Kinder betreffen werden - das ist damit gemeint, wenn es heißt, dass die Erderwärmung eine allumfassende, flächendeckende Gefahr ist.

Aber was genau passieren wird, ist noch nicht entschieden. Wir zementieren es, wenn wir nichts tun, doch unser Handeln kann es aufhalten. Der Klimawandel verheißt Finsteres für die kommenden Jahrzehnte, aber ich glaube nicht, dass die richtige Reaktion darauf der Rückzug, die Kapitulation ist. Ich glaube, dass wir alles tun müssen, was in unserer Macht steht, um die Welt zu einem lebenswerten und blühenden Ort zu machen, statt vorzeitig aufzugeben, bevor der Kampf gewonnen oder verloren ist, und uns auf eine trostlose Zukunft einzustellen, herbeigeführt von anderen, die sich weniger Gedanken über das Klima machen.

Und der Kampf ist definitiv noch nicht verloren - er wird nie verloren sein, solange wir noch nicht ausgestorben sind, denn egal, wie warm die Erde wird - das folgende Jahrzehnt kann immer mehr oder weniger Leid mit sich bringen.

Und ich muss zugeben, dass ich auch schon gespannt bin, was Rocca und ihre Brüder und Schwestern alles sehen, miterleben, tun werden. Sollte sie selbst Kinder bekommen, werden diese wahrscheinlich rund um das Jahr 2050 aufwachsen, wenn es viele Dutzende Millionen Klimaflüchtlinge gibt; und ins hohe Alter käme Rocca gegen Ende des Jahrhunderts, zum Endpunkt aller unserer Voraussagen in Bezug auf die Erderwärmung.

Dazwischen wird sie mit ansehen, wie die Welt gegen eine wahrhaft existenzielle Bedrohung ankämpft und die Vertreter ihrer Generation sich und den Generationen, die sie selbst hervorbringen, eine Zukunft auf diesem Planeten verschaffen. Und sie wird nicht nur zuschauen, sondern auch mitwirken - an der buchstäblich größten Geschichte, die je erzählt wurde.

Diese könnte durchaus ein gutes Ende nehmen. Welchen Anlass gibt es zu dieser Hoffnung? Das Kohlendioxid bleibt für Jahrzehnte in der Luft, und einige der schlimmsten Rückkopplungen laufen über einen noch längeren Zeitraum ab - was der Erderwärmung den furchtbaren Anstrich einer endlosen Bedrohung gibt.

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Aber der Klimawandel ist kein uraltes Verbrechen, das wir heute lösen müssen; wir zerstören unseren Planeten Tag für Tag, oft mit einer Hand, während wir mit der anderen versuchen, ihn zu bewahren.

Was bedeutet, wie es der amerikanische Umweltschützer Paul Hawken auf die vielleicht besonnenste Weise gezeigt hat, dass wir auf die gleiche Weise auch aufhören können, die Erde zu zerstören - gemeinsam, ohne festen Plan, durch ganz alltägliche Handlungen neben spektakulär wirkenden Maßnahmen.110 Das Vorhaben, eine ganze industrialisierte Welt von den fossilen Brennstoffen zu entwöhnen, ist überwältigend und muss ziemlich rasch umgesetzt werden - bis 2040, meinen viele Wissenschaftler. Aber in der Zwischenzeit stehen uns viele Wege offen - weit offen, wenn wir nicht zu faul, zu borniert und zu selbstsüchtig sind, um sie zu gehen.

Sage und schreibe die Hälfte der britischen Emissionen, hat man vor Kurzem errechnet, sind auf ineffiziente Baumethoden sowie auf weggeworfene und ungenutzte Lebensmittel, Elektrogeräte und Kleidung zurück­zuführen,111 in den USA werden zwei Drittel der Energie verschwendet,112 und laut einer Untersuchung unterstützen wir die fossile Brennstoffindustrie jährlich weltweit mit Subventionen in Höhe von fünf Billionen Dollar.113 Das kann man alles ändern.

Zurückhaltung bei den Maßnahmen gegen den Klimawandel, hieß es in einem anderen Artikel, würde die Welt allein bis 2030 26 Billionen Dollar kosten.114 Dagegen kann man vorgehen. Die Amerikaner schmeißen ein Viertel ihrer Lebensmittel weg, was bedeutet, dass der ökologische Fußabdruck jeder Mahlzeit im Durchschnitt ein Viertel größer ist, als er sein müsste.115 Das kann man ändern.

Vor fünf Jahren kannte kaum jemand abseits der dunkelsten Ecken des Internets die Kryptowährung Bitcoin, heute schluckt das »Mining« mehr Strom, als alle Solarpanels der Welt zusammen erzeugen, was wiederum dazu führt, dass wir innerhalb weniger Jahre ein Programm geschaffen haben, dass die Erfolge mehrerer langer, hart erarbeiteter Generationen von grünen Energieinnovationen zunichtemacht, und das nur, weil wir einander und den Staaten hinter den Papiergeldwährungen misstrauen.116 Das hätte nicht so kommen müssen. Und eine einfache Veränderung des Algorithmus könnte den Fußabdruck der Bitcoins vollständig verschwinden lassen.

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Das sind nur ein paar Gründe, warum das, was der kanadische Aktivist Stuart Parker als »Klimanihilismus« bezeichnet hat, ein weiterer Irrglaube ist.

Was von nun an geschieht, liegt voll und ganz in unserer Hand. Die Zukunft unseres Planeten hängt größtenteils davon ab, wie das Wachstum in den Schwellen- und Entwicklungsländern verläuft - denn dort leben die meisten Menschen, in China und Indien und vermehrt auch in dem Teil Afrikas, der südlich der Sahara liegt. Aber das ist kein Freifahrtschein für den Westen, wo der Durchschnittsbürger allein durch seine Gewohnheiten deutlich mehr Kohlendioxid erzeugt als fast jeder Bewohner Asiens. Ich werfe Tonnen verdorbener Lebensmittel weg und recycle fast nichts, ich lasse die Klimaanlage laufen, ich bin zu Hoch-Zeiten in den Bitcoin-Markt eingestiegen. Auch das ist alles nicht nötig.

Aber es ist auch nicht nötig, dass die Menschen im Westen den Lebensstandard der Armen übernehmen. 70 Prozent der Energie, die der Planet hervorbringt, gehen Schätzungen zufolge in Form von Wärme verloren.(117) Wenn der durchschnittliche Amerikaner seinen ökologischen Fußabdruck dem seines europäischen Gegenstücks anpassen müsste, würde der CO2-Ausstoß der USA um mehr als die Hälfte sinken.118 Wenn die reichsten 10 Prozent der Erde sich auf diesen Fußabdruck beschränkten, würden die weltweiten Emissionen um ein Drittel zurückgehen.119

Und warum sollten sie das nicht müssen? Während die Nachrichten aus der Wissenschaft immer düsterer werden, verschaffen sich die Liberalen im Westen fast schon als Prophylaxe gegen die Klimaschuld dadurch ein ruhiges Gewissen, dass sie ihr eigenes Konsumverhalten in ein moralisch und umwelttechnisch betrachtet makelloses Lehrstück verwandeln - weniger Fleisch, mehr E-Autos, weniger Transatlantikflüge. Aber einzelne Lebensstil­entscheidungen bringen insgesamt gesehen kaum etwas, wenn sie nicht in die Politik eingehen. Abseits der Überbleibsel der amerikanischen Klimapartei sollte das eigentlich nicht unmöglich sein, wenn man versteht, was hier auf dem Spiel steht.

Genau genommen darf es nicht unmöglich sein.

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Die Auslöschung des Menschen ist nur das sehr schmale Ende der sehr langen Glockenkurve, und nichts hindert uns daran, diesem Schicksal entgegenzuwirken. Aber das, was zwischen uns und dem Aussterben liegt, ist schrecklich genug, und wir haben noch nicht einmal angefangen, darüber nachzudenken, wie ein Leben unter solchen Bedingungen aussehen würde - wie es sich auf unsere Politik, unsere Kultur und unser emotionales Gleichgewicht auswirken wird, auf unsere Wahrnehmung der Geschichte und unsere Beziehung zu ihr, unsere Wahrnehmung der Natur und unsere Beziehung zu ihr, wenn wir in einer Welt leben, die wir durch unsere eigene Hand zerstört haben und in der uns Menschen wenige Chancen bleiben.

Vielleicht werden wir noch einen Deus ex machina erleben, der die Klimakatastrophe abwendet - oder besser gesagt: Vielleicht übernehmen wir die Schicksalsfügung selbst, in Form von Anlagen zur CO2-Abscheidung oder von Geoengineering, oder aber durch eine Revolution der Art und Weise, wie wir Strom oder Macht erzeugen. Aber diese Lösung wird, falls sie je eintrifft, vor einem düsteren Horizont auftauchen, den unsere Emissionen verdunkeln wie ein Glaukom.

Vor allem diejenigen, die mehrere Jahrhunderte des westlichen Triumphalismus in sich aufgesogen haben, neigen dazu, die Geschichte der Menschheit als eine unaufhaltsame Eroberung der Erde zu betrachten statt als Saga einer unsicheren Spezies, die sich wie Schimmel tastend und willkürlich ausgebreitet hat. Die Brüchigkeit, die heute alles prägt, was die Menschen auf der Erde tun, ist die große existenzielle Erkenntnis der Erder­wärmung, aber sie beginnt gerade erst an den Fundamenten des Triumphalismus zu nagen.

Hätten wir allerdings schon vor einer Generation innegehalten und diese Möglichkeiten in Betracht gezogen, würde es uns wahrscheinlich nicht überraschen, in der Weltregion, die schon jetzt am schlimmsten unter der Erwärmung leidet - im Nahen Osten -, eine neue Form des politischen Nihilismus aufkommen zu sehen, die dort durch suizidale Zuckungen religiöser Gewalt zum Ausdruck kommt. Diese Region wurde einst vollmundig die »Wiege der Zivilisation« genannt. Heute strahlt der politische Nihilismus fast in alle Richtungen, durch die vielen Kulturen hindurch, die im Nahen Osten entstanden und sich dann verzweigten.

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Wir haben das enge Zeitfenster, in dem die Umweltbedingungen dem Menschen erlaubten, sich überhaupt zu entwickeln, schon längst hinter uns gelassen, aber in dieses Zeitfenster fiel nicht nur die Entwicklung des Menschen - es umschloss alles, was wir unter dem Begriff Geschichte fassen, als wertvollen Fortschritt betrachten und im Fach Politik untersuchen.120

Wie wird es sein, außerhalb dieses Zeitfensters zu leben, wahrscheinlich weit davon entfernt? Diese Frage bildet das Thema dieses Buches.

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Nichts davon ist neu. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die in den folgenden zwölf Kapiteln aufgegriffen werden, sind Gesprächen mit Dutzenden Experten und Hunderten von Artikeln entnommen, die in den letzten zehn Jahren in den renommiertesten Fachzeitschriften erschienen. Wie in der Wissenschaft üblich, handelt es sich dabei um vorläufige Ergebnisse, die ständig überarbeitet werden, und manche der genannten Voraussagen werden sicherlich nicht genauso eintreffen. Doch es ist eine ehrliche und faire Darstellung dessen, wie die zahlreichen, sich vervielfachenden Gefahren eingeschätzt werden, denen wir alle als Bewohner eines sich erwärmenden Planeten, die hoffen, weiterhin auf unbeschränkte Zeit und ungestört dort zu leben, ausgesetzt sind.

Dabei geht es wenig um die »Natur« an sich, und gar nicht um das tragische Schicksal der Tiere auf Erden, auf das andere bereits so elegant und poetisch eingegangen sind, dass es, ähnlich wie unsere Meeresspiegel-Kurzsichtigkeit, zu verdecken droht, was die Erderwärmung für uns, das Menschentier, bedeutet. Bis heute scheint es uns weniger Mühe zu bereiten, uns in die Klimabedrängnis anderer Arten einzufühlen als in unsere eigene - vielleicht, weil es uns so schwerfällt, unsere eigene Verantwortung und Mittäterschaft bei dem, was sich gerade abspielt, anzuerkennen und zu verstehen, aber so viel leichter, die moralisch einfachere Situation der reinen Opfer zu bewerten.

Was nun folgt, ist ein Kaleidoskop der Kosten, die die Menschen dafür zahlen, so weiterzuleben, wie sie es seit einer Generation tun, und den Planeten auf diese Weise mit noch mehr Menschen zu bevölkern - der Auswirkungen, die die Erderwärmung auf die allgemeine Gesundheit hat, auf die Konflikte, die Politik, die Nahrungsmittelproduktion und die Popkultur, auf das Leben in den Städten, unsere geistige Gesundheit und die Art und Weise, wie wir uns die Zukunft vorstellen, während wir um uns herum eine Beschleunigung der Geschichte und die Verringerung der Möglichkeiten erkennen, die diese Beschleunigung wahrscheinlich mit sich bringt.

Die Vergeltung wird uns durch die Natur in Kaskaden ereilen, aber die Kosten, die die Natur dafür zahlt, sind nur ein Teil der Geschichte; wir werden alle darunter leiden.

Ich mag der einzige linke Umweltschützer sein, der nichts dagegen hätte, wenn die Welt einen Großteil dessen verlöre, was wir als »Natur« bezeichnen, solange wir so weiterleben können wie in der Welt, die wir zurücklassen. Doch das Problem ist: Das geht nicht.

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