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III. Das Klima-Kaleidoskop   85 Seiten:  165-250

I. Kaskaden   II.Elemente    III.Kaleidoskop   IV.Prinzip 


3.1-Erzählungen (167)      3.2-Krisenwirtschaft (184)      3.3-Die Kirche der Technologie (199) 
3.4-Konsumpolitik (215)    3.5-Geschichte jenseits des Fortschritts (228)     3.6-Ethik am Ende der Welt  (236-250)

 

   3.1  Erzählungen  

167-184

Es sollte keine Auszeichnung sein, das Ende der Welt richtig vorausgesagt zu haben. Doch die Menschen erzählen diese Geschichte seit Jahrtausenden unaufhörlich, und mit jedem Fantasie-Armageddon verschieben sich die Lektionen, die daraus zu lernen sind.

Man sollte meinen, eine Zivilisation, deren Kultur von den Zeichen der Apokalypse durchzogen ist, wüsste, wie man mit aufrüttelnden Umweltnachrichten umzugehen hat. Doch stattdessen reagieren wir auf die Wissen­schaftler, die uns die Hilferufe der Erde übermitteln, als schlügen sie blinden Alarm. Unsere Filme mögen vom Ende der Welt handeln, doch wenn es darum geht, sich mit den Gefahren der realen Erderwärmung ausein­ander­zusetzen, herrscht bei uns ein unglaublicher Mangel an Vorstellungskraft.

Das ist das Klima-Kaleidoskop: Die Gefahr direkt vor unseren Augen kann uns in den Bann schlagen, ohne dass wir sie klar und deutlich sehen.  Auf unseren Leinwänden und Bildschirmen sind Klimaverheerungen allgegenwärtig, aber sie stehen nie im Mittelpunkt, ganz so, als würden wir unsere Ängste in Bezug auf die Erderwärmung auf Bühnen auslagern, auf denen wir selbst über das Geschehen und die Gestaltung bestimmen - vielleicht als beruhigendes Signal, dass das Ende aller Tage ein »Fantasieprodukt« bleibt.559

 wikipedia  Kaleidoskop        wikipedia A_Quiet_Place 

Game of Thrones beginnt mit einer unmiss­verständ­lichen Klimaprophezeiung, aber sie lautet: »Der Winter naht.« Die Ausgangssituation in Interstellar wird bestimmt durch eine Umweltkatastrophe, allerdings eine Pflanz­en­krankheit. In Children of Men ist die Zivilisation halb zusammengebrochen, jedoch durch Unfruchtbarkeit. Mad Max: Fury Road wirkt auf den ersten Blick wie ein Panorama der Erderwärmung, ein rasanter Trip durch eine Welt, die sich in eine Wüste verwandelt hat, doch die politische Krise resultiert hier aus dem Schwund der Ölvorräte.

Der Protagonist in The Last Man on Earth ist durch ein tödliches Virus zu eben diesem letzten Mensch auf Erden worden, die Familie in A Quiet Place wird von riesigen Insektenmonstern, die in der Wildnis lauern, zu einem Leben in absoluter Stille gezwungen, und die zentrale Katastrophe der »Apokalypse«-Staffel von American Horror Story ist eine Bedrohung aus der Vergangenheit - ein nuklearer Winter. In den vielen Zombie-Apokalypsen dieses Zeitalters der Umweltängste sind die Zombies stets eine fremdartige, keine einheimische Macht. Also nicht so wie wir.  

Was bedeutet es, sich von fiktiven Weltuntergängen unterhalten zu lassen, während wir der Möglichkeit eines realen ins Auge sehen?

Eine Aufgabe der Popkultur besteht immer darin, uns Geschichten zu liefern, die uns ablenken, auch wenn sie den Eindruck erwecken, uns zum Nachdenken anzuregen - sie dienen der Sublimierung und der Zerstreuung.

In einer Zeit des kaskadenartigen Klimawandels versucht Hollywood zudem, unser sich veränderndes Verhältnis zur Natur zu erkunden - der Natur, die wir lange aus einer gewissen Distanz betrachtet haben, die aber nun als chaotische Kraft zurückgekehrt ist, wofür wir uns auf einer gewissen Ebene dennoch selbst die Schuld geben. Das Eingeständnis dieser Verantwortung ist ebenfalls etwas, was die Unterhaltungsbranche erreichen kann, während das Rechtssystem und die Politik versagen, obwohl unsere Kulturwelt ebenso wie die Politik darauf spezialisiert ist, anderen die Schuld zuzuweisen - zu projizieren, statt ein Verschulden zuzugeben.

Außerdem greift hier eine Art emotionale Schutzfunktion: Vielleicht suchen wir in fiktiven Darstellungen der Klimakatastrophe nach Katharsis und versuchen uns kollektiv davon zu überzeugen, dass wir überleben könnten.

Schon heute, bei einer Erwärmung um nur ein Grad, wimmelt es in den Nachrichten von Berichten über Waldbrände, Hitzewellen und Wirbelstürme, und diese Erscheinungen drohen auch in unser eigenes Dasein und in unser Innenleben vorzudringen, sodass unsere heutige, von Untergangsszenarien durchsetzte Kultur dann vergleichsweise naiv erschiene. Endzeit-Albträume werden eine Blütezeit erleben, auch in den Schlaf­zimmern unserer Kinder, wo Geschwister einst Schreckensgeschichten über den Tod, die Auswirkungen von Gottlosigkeit oder die Möglichkeit eines bevorstehenden Atomkriegs flüsterten. Bei ihren Eltern wird der Begriff »Klimatrauma« in den Wortschatz der Küchenpsychologie eingehen, wenn auch zumeist als Sündenbock für persönlicheren Frust und Ängste.

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Was wird bei einer Erwärmung um zwei Grad passieren, oder um drei? Wahrscheinlich wird der Klimawandel, der dann unser Leben und unsere Welt verdunkelt und beherrscht, auch den Sachbuchbereich dominieren - so sehr, dass er zumindest von einigen Menschen als das einzige wirklich relevante Thema betrachtet werden könnte.

In fiktionalen Erzählungen, in Unterhaltungsformaten und in dem, was einst als »Hochkultur« gepriesen wurde, scheint ein anderer, merkwürdiger Weg wahrscheinlich.

Den Anfang könnte eine Wiederbelebung eines antiquierten Genres namens »sterbende Erde« machen, im englischsprachigen Raum einst von Lord Byron durch sein Gedicht »Finsternis« eingeführt, das dieser im soge­nannten »Jahr ohne Sommer« verfasste, als ein Vulkanausbruch in Niederländisch-Indien der nördlichen Hemisphäre schlechtes Wetter bescherte.560

Die Umweltbefürchtungen im viktorianischen Zeitalter spiegelten sich auch in anderen Werken wider, darunter Die Zeitmaschine von H. G. Wells, der Darstellung einer weit entfernten Zukunft, in der die meisten Menschen als Sklaven in Höhlen leben und sich unter der Erdoberfläche für eine verwöhnte und sehr kleine Elite oben abrackern; in einer noch weiter in der Zukunft liegenden Zeit ist dann fast alles Leben von der Erde verschwunden.

Unsere neue Version könnte ein endloses Wehklagen enthalten, ein Aufblühen dessen, was bereits heute »Klimaexistenzialismus« genannt wird.561 Eine Wissenschaftlerin beschrieb das Buch, an dem sie gerade schrieb, mir gegenüber kürzlich als "Mischung aus Zwischen mir und der Welt und Die Straße".    

    perlentaucher  zwischen-mir-und-der-welt    

Aber das Ausmaß der Veränderungen könnte diesem Genre schnell wieder ein Ende bereiten - es könnte jeden Versuch, die Erderwärmung in eine Geschichte zu fassen, unmöglich machen, weil das Thema selbst für Hollywood zu groß, weil allumfassend, wäre. Man kann Texte »über« den Klimawandel schreiben, solange er noch eine Randerscheinung des menschlichen Lebens oder das überwältigende Ereignis im Leben von Menschen am Rande unseres Lebens ist. Aber bei einer Erwärmung um drei oder sogar vier Grad wird es kaum jemanden geben, der nicht von den Auswirkungen betroffen ist - oder Lust darauf hätte, sich etwas auf dem Bildschirm anzuschauen, was auch vor seinem Fenster passiert.

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Daher könnte der Klimawandel, wenn er sich immer weiter ausbreitet - und langsam unausweichlich, absolut erscheint - aufhören, ein Thema zu sein, und stattdessen zum alles beherrschenden Schauplatz werden. Dann wäre er kein Teil der Erzählung mehr, sondern das, was die Literaturtheoretiker als »Meta-Narrativ« bezeichnen, und würde als solches die ablösen, die unser Leben vorher dominiert haben - etwa der Wahrheits­anspruch der Religion und der Glaube an den Fortschritt.562 In einer solchen Welt hätte niemand große Lust auf epische Dramen über Öl und Gier, aber selbst romantische Komödien ständen ganz im Zeichen der Erderwärmung, so wie Screwball-Komödien von den Ängsten der Wirtschaftskrise in den 1930er-Jahren geprägt waren.(563)   wikipedia  Screwball-Komödie

Science-Fiction würde als noch prophetischer betrachtet, aber die Bücher, in denen die Krise gespenstisch treffend vorausgenommen wurde, würden nicht mehr gelesen, ähnlich wie Upton Sinclairs Der Dschungel oder Theodore Dreisers Schwester Carrie heute: Warum ein Buch über die Welt lesen, die man vor dem eigenen Fenster erlebt? Im Augenblick bereiten uns Geschichten über die Erderwärmung immer noch ein eskapistisches Vergnügen, auch wenn dieses Vergnügen oft in Form eines Gruseleffekts daherkommt. Aber wenn wir nicht mehr so tun können, als wären derartige Klimaprobleme - zeitlich oder räumlich - weit weg, werden wir aufhören, sie als Stoff zu verarbeiten, und uns stattdessen darin einrichten müssen.

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In Die große Verblendung, einem Essay in Buchlänge, fragt sich der indische Schriftsteller Amitav Ghosh, warum die Erderwärmung und Naturkatastrophen noch kein Thema der zeitgenössischen Literatur sind, warum wir nicht in der Lage zu sein scheinen, uns das bevorstehende Klimachaos angemessen auszumalen, warum die Literatur uns die Gefahren der Erwärmung noch nicht ausreichend »real« vor Augen geführt hat und warum noch nicht reihenweise Romane aus dem Genre vorliegen, das sich mit der »Unheimlichkeit der Welt um uns herum« befasst und das er im Grunde halb herbeidenkt.(564)

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Andere bezeichnen das als »Cli-Fi«: fiktionale Texte, die in Bezug auf die Umwelt Alarm schlagen, Abenteuergeschichten mit didaktischer Absicht, oft mit klarer politischer Agenda.565 Doch Ghosh hat etwas anderes vor Augen: den großen Klimaroman. »Man denke nur an die Geschichten, die sich um solche Fragen wie >Wo warst du, als die Berliner Mauer fiel?< oder >Wo warst du am elften September?< verdichtet haben. Wird jemals jemand die Frage stellen, >Wo warst du bei 400 ppm?< oder >Wo warst du, als das Larsen-B-Schelfeis auseinanderbrach?<«

Amitav Ghoshs Antwort: Wahrscheinlich nicht, weil die Dilemmata und Dramen des Klimawandels einfach nicht mit den Geschichten vereinbar sind, die wir uns über uns selbst erzählen, vor allem in konventionellen Romanen, die meist auf einer hoffnungsvollen und positiven Note enden und das Bewusstsein eines Einzelnen in den Mittelpunkt stellen anstatt das Schicksal aller.566 Das ist natürlich eine sehr eng gefasste Definition von Roman, aber fast jedes Element unserer Erzähltraditionen legt nahe, dass der Klimawandel ein absolut unpassendes Thema für die Werkzeuge ist, die uns zur Verfügung stehen. Ghoshs Frage bezieht sich sogar auf Comicverfilmungen, die sich theoretisch mit der Erderwärmung befassen könnten: Wer wären die Helden? Und was würden sie tun? Diese Problematik erklärt wohl auch, warum so viele Unterhaltungsformate, die sich den Klimawandel vornehmen, etwa The Day After Tomorrow, so kitschig und pedantisch daherkommen: Kollektives Handeln ist - dramaturgisch betrachtet - todlangweilig.

Noch akuter ist das Problem in Videospielen, die sich als neues Medium zu Büchern, Filmen und Fernsehserien hinzugesellen oder sie sogar ersetzen und von ihrer Erzählstruktur her noch stärker auf den Protagonisten ausgerichtet sind - das heißt auf den Spieler. Sie versprechen zumindest eine Simulation eines eigenen Handelns. Das könnte sich in den kommenden Jahren zu einem immer größeren Trost für uns entwickeln, sollten wir weiterhin wie Zombies auf den Untergang zuwanken. Schon heute fordert das beliebteste Videospiel der Welt, Fortnite, die Spieler dazu auf, während eines Extremwetterereignisses um knappe Ressourcen zu kämpfen - als könne man in einem solchen Szenario allein bestehen und das Problem lösen.

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Neben dem Heldenproblem gibt es auch ein Schurkenproblem. In die gehobene Literatur mögen epische Geschichten, für die sich der Klimawandel als natürlicher Schauplatz anbietet, nicht passen, aber mindestens in den Genres Roman und Blockbusterfilm sind eine Reihe entsprechender Handlungsschemata verbreitet, von den Superheldensagas bis hin zur »Alien Invasion«-Erzählung. Die Geschichten, die sich unter dem Thema »Mensch gegen Natur« zusammenfassen lassen, könnten kaum urgewaltiger oder vertrauter sein.567 Aber in Moby Dick, Der alte Mann und das Meer oder vielen weniger hochklassigen Beispielen diente die Natur meist als Metapher für eine theologische oder metaphysische Kraft, denn sie blieb rätselhaft, unerklärlich. Auch das hat der Klimawandel geändert. Wir wissen heute, was die Wetterextreme und die Naturkatastrophen bedeuten, auch wenn sie immer noch mit prophetischer Gewalt eintreffen: Sie bedeuten, dass weitere solche Ereignisse folgen werden und dass wir es selbst verschuldet haben. Es wären gar nicht viele Änderungen nötig, um Independence Day in ein Cli-Fi-Werk zu verwandeln. Aber gegen wen würden die Helden anstelle der Außerirdischen kämpfen? Gegen uns selbst?

In Geschichten, in denen die Bedrohung der nukleare Vernichtungskrieg war - das Gegenstück zum Klimawandel, das die amerikanische Unterhaltungskultur eine Generation lang dominierte -, war die Frage nach den Bösewichten leichter zu beantworten. Das war der Dreh- und Angelpunkt von Stanley Kubricks Dr. Seltsam - dass das Schicksal aller in den Händen einiger weniger Verrückter lag; wenn sie die Welt in die Luft jagen würden, wüssten wir genau, wer daran schuld war. Diese moralische Eindeutigkeit war nicht auf Kubrick oder seinen Nihilismus zurückzuführen, ganz im Gegenteil: Sie war Teil des Allgemeinwissens über die geopolitische Lage im damals noch jungen atomaren Zeitalter.

Genauso war die Verantwortung auch in Dreizehn Tage verteilt, Robert Kennedys Erinnerungen an die Kubakrise, die unter anderem deshalb so viel gelesen wurden, weil sie sich so genau mit den Erlebnissen der normalen Bürger in diesen Wochen im Jahr 1962 deckten: Man sah zu, wie die Gefahr der Auslöschung der gesamten Welt wuchs und wieder abnahm, allein durch eine Reihe von Telefonaten zwischen zwei Männern und ihren relativ kleinen Beraterstäben.

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Doch wenn es um die moralische Verantwortung für den Klimawandel geht, ist die Situation deutlich verworrener. Die Erderwärmung ist nichts, was eventuell passieren könnte, falls ein paar Leute einige extrem kurzsichtige Entscheidungen treffen; sie geschieht bereits heute, überall auf der Welt - und ohne, dass es direkte Zuständige dafür gäbe. Der Atomkrieg wäre theoretisch auf ein paar Dutzend Menschen zurückzuführen gewesen; bei der Klimakatastrophe sind es Milliarden, über einen langen Zeitraum und über weite Teile der Erde hinweg.

Das soll aber nicht heißen, dass alle gleichermaßen dafür verantwortlich wären: Obwohl das letztendliche Ausmaß des Klimawandels dadurch bestimmt wird, wie die Industrialisierung in den Entwicklungsländern abläuft, sind die heutigen Verursacher größtenteils die Wohlhabenden der Welt - die reichsten 10 Prozent der Weltbevölkerung erzeugen die Hälfte aller Emissionen.568 Diese Verteilung deckt sich weitgehend mit dem weltweiten Einkommens­gefälle, was einer der Gründe dafür ist, dass die politische Linke mit dem Finger auf das übergeordnete System zeigt und dem industriellen Kapitalismus die Schuld gibt.569

Das stimmt auch. Aber das benennt noch keinen Gegner, sondern nur ein toxisches Investitionswerkzeug, an dem ein Großteil der Welt Anteile hält, die meist mit großem Eifer gekauft wurden. Und diese Menschen genießen ihren augenblicklichen Lebensstil. Das trifft mit großer Wahrscheinlichkeit auch auf Sie und mich und alle anderen zu, die sich mit ihrem Netflix-Abo die Flucht aus dem Alltag erkaufen. Gleichzeitig stimmt es nicht ohne Weiteres, dass die sozialistischen Länder der Welt in Bezug auf Kohlendioxid verantwortungsbewusster handeln würden, weder heute noch in der Vergangenheit.570

Mitschuld ist eine schlechte Voraussetzung für spannende Unterhaltung. Moderne Moralstücke benötigen Antagonisten, und das Verlangen nach solchen wird stärker, wenn die Schuldzuweisung zu einer politischen Notwendigkeit wird, was mit Sicherheit bald eintritt.

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Das ist sowohl für fiktionale als auch für nichtfiktionale Erzählungen ein Problem, denn beide beziehen ihre Logik und ihre Energie aus dem jeweils anderen. Die naheliegenden Bösewichte sind die Ölkonzerne - und tatsächlich ergab eine kürzlich angestellte Untersuchung von Filmen, in denen es um die Klimaapokalypse geht, dass die Mehrheit von habgierigen Unternehmen handelte.571

Aber der Impuls, ihnen allein die Schuld zuzuweisen, wird dadurch erschwert, dass die Industrie und das Transportwesen nicht einmal 40 Prozent der weltweiten Emissionen ausmachen.572 Die Abstreitungs- und Desinform­ations­kampagnen dieser Unternehmen machen es zwar leichter, diese zu Schurken zu erklären - eine groteskere Zurschaustellung unternehmerischer Durchtriebenheit ist kaum vorstellbar, und schon in der kommenden Generation wird die Leugnungshaltung der Ölindustrie wahrscheinlich als eine der abscheulichsten Verschwörungen gegen die Gesundheit und das Wohl der Menschen gelten, die die moderne Welt je gesehen hat.

Aber Bösartigkeit ist nicht das Gleiche wie Verantwortung, und es gibt bisher nur eine politische Partei in einem Land der Welt, die sich das Leugnen des Klimawandels auf die Fahnen geschrieben hat - in einem Land, in dem nur zwei der zehn größten Ölkonzerne ansässig sind.(573)

Die Tatenlosigkeit der Amerikaner bremste den weltweiten Fortschritt im Bereich Klima sicherlich aus, in einer Zeit, in der es nur eine Supermacht auf der Welt gab, aber außerhalb der Grenzen der USA, die [USA] nur für 15 Prozent der weltweiten Emissionen verantwortlich sind, gibt es einen derartigen Klimaskeptizismus nicht.(574)

Zu glauben, dass allein die republikanische Partei oder ihre Unterstützer aus der Ölindustrie die Schuld an der Erderwärmung trügen, ist eine Form des amerikanischen Narzissmus. Dieser Narzissmus, davon gehe ich aus, wird durch den Klimawandel gebrochen werden.

Im Rest der Welt, in dem die Maßnahmen gegen den Kohlendioxidausstoß genauso langsam voranschreiten und der Widerstand gegen einen echten Politikwandel ebenso stark ist, ist die Leugnung schlicht kein Problem. Der Einfluss der fossilen Brennstoffindustrie spielt natürlich eine Rolle, aber das gilt auch für die Trägheit, die Verlockung kurzfristiger Profite und die Vorlieben der Arbeiter und Konsumenten der Welt, und alles zusammen ergibt ein breites Spektrum der Verantwortung, das sich von wissentlichem Egoismus über wahre Ahnungslosigkeit bis hin zu reflektierter, aber naiver Selbstzufriedenheit erstreckt.

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Wie formt man daraus eine Erzählung?

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Abseits der Frage, wer der Bösewicht ist, geht es um die Natur und unsere Beziehung zu ihr.575 Dieser Aspekt war lange Zeit auf die einfache Logik von Parabeln und Allegorien beschränkt. Der Klimawandel wird alles, was wir über die Natur zu wissen meinten, verändern, einschließlich der moralischen Grundstrukturen dieser Erzählungen. Wir bekommen sie immer noch in jedem Alter zu hören und zu sehen, angefangen bei animierten Filmen für Kleinkinder, die noch nicht lesen können, über Märchen aus alten Zeiten bis hin zu Katastrophenfilmen und Zeitschriftenartikeln über das Schicksal gefährdeter Arten und Berichten über Extrem­wetter­ereignisse in den Abendnachrichten, in denen die Erderwärmung selten erwähnt wird.

Parabeln sollen eine Lehre vermitteln und funktionieren wie die gläsernen Schaukästen in Naturkundemuseen: Man geht an ihnen vorbei, betrachtet den Inhalt, glaubt, dass er uns etwas lehrt - aber nur innerhalb der Logik der Metapher, weil wir eben keines der ausgestopften Tiere in der dargestellten Szene sind, sondern außerhalb dessen stehen, jenseits davon, als Betrachter statt als Beteiligte. Diese Logik wird von der Erderwärmung auf den Kopf gestellt, weil sie die empfundene Distanz zwischen Mensch und Natur einreißt - zwischen uns und der Szene im Schaukasten.

Eine Botschaft des Klimawandels lautet: Wir leben nicht außerhalb des Geschehens, sondern mitten darin, und sind all jenen Schrecken ausgeliefert, die auch das Leben der Tiere beeinträchtigen. Genau genommen sind die Auswirkungen der Erderwärmung auf den Menschen bereits jetzt so heftig, dass wir den Blick gar nicht mehr auf irgendetwas anderes richten müssten, auf vom Aussterben bedrohte Tierarten und gefährdete Ökosysteme, um das Fortschreiten des furchtbaren Sturmlaufs des Klimas zu verfolgen. Aber wir tun es, weil uns gestrandete Eisbären und die Geschichten absterbender Korallenriffe so traurig machen.

Wenn es um Klimaparabeln geht, gefallen uns diejenigen am besten, in denen es um Tiere geht, die stumm wären, wenn wir ihnen nicht unsere Stimme verleihen, und die durch unsere Hände verenden - 2100 wird die Hälfte von ihnen ausgestorben sein, schätzt der Biologe E. O. Wilson.(576)

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Trotz der zerstörerischen Auswirkungen des Klimawandels auf das Leben der Menschen blicken wir immer noch auf diese Tiere, zum Teil, weil der »klägliche Fehlschluss«, wie John Ruskin die Übertragung menschlicher Eigenschaften auf die Natur nannte, immer noch trägt: Es ist seltsamerweise manchmal leichter, mit den Tieren zu fühlen, vielleicht weil wir uns lieber nicht mit unserer Verantwortung auseinandersetzen wollen. Im Angesicht des Sturms, den wir Menschen ausgelöst haben und weiterhin jeden Tag auslösen, fühlen wir uns in einer angelernten Position der Machtlosigkeit anscheinend am wohlsten.

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Die Plastikpanik ist ein weiteres Beispiel für eine Klimaparabel, vor allem, weil sie gleichzeitig eine falsche Fährte darstellt. Sie gründet auf der bewundernswerten Absicht, weniger Spuren auf dem Planeten zu hinterlassen, und dem natürlichen Erschrecken darüber, wie sehr unser Müll die Umwelt verschmutzt und unsere Luft, unser Essen, unseren Körper durchdringt. In dieser Hinsicht bedient sich die Plastikpanik der überaus modernen Fixierung auf Hygiene und Zurückhaltung als Verbrauchertugenden (einer Besessenheit, die uns vom Thema Recycling vertraut ist). Doch obwohl die Plastikproduktion einen ökologischen Fußabdruck hinterlässt, hat diese Verschmutzung keinen Einfluss auf die Erderwärmung - hat sich aber dennoch in unser Blickfeld geschoben, zumindest zeitweilig, und das Verbot von Plastikstrohhalmen verdrängt, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick, die viel größere und umfassendere Bedrohung durch den Klimawandel.

Eine weitere derartige Parabel ist das Bienensterben.577 Seit dem Jahr 2006 machen die interessierten Leser Bekanntschaft mit einer neuen Umweltfabel, denn seitdem erleiden die Honigbienenvölker in den USA fast jährlich ein Massensterben: In einem Jahr verschwanden 36 Prozent von ihnen, im nächsten 29, dann 46, dann 34. Doch jedem Menschen mit einem Taschenrechner wird schnell klar, dass das nicht ganz stimmen konnte, denn wenn jedes Jahr so viele Bienenvölker wegbrächen, würde die Zahl schnell gegen null gehen, statt stetig anzusteigen, wie es in der Realität der Fall ist.

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Das liegt daran, dass die Imker, die zum großen Teil keine liebenswerten Amateure sind, sondern industrielle Nutztierbetriebe, die ihre Bienen ständig durchs ganze Land karren, um sie gegen Bezahlung Blüten bestäuben zu lassen, jedes Jahr neue Völker heranzüchten, um die verschwundenen zu ersetzen, was sich bei den Gewinnen, die die Tiere ihnen einbringen, mehr als lohnt.

Es ist ganz natürlich - falls man das so sagen kann -, Tiere zu vermenschlichen; darauf basiert beispielsweise die gesamte Animationsbranche. Aber es ist etwas merkwürdig, ja, sogar fatalistisch, wenn derart eitle Geschöpfe wie wir uns so stark mit Lebewesen identifizieren, denen der freie Wille und die individuelle Eigenständigkeit in einem Maße abgehen, dass viele Fachleute sich nicht sicher sind, ob wir die einzelne Biene oder das Bienenvolk als Organismus betrachten sollten. Bei meinen Recherchen für einen Artikel über das Bienensterben erzählten mir Bienenliebhaber oft, hinter ihrer Sorge um das Wohlbefinden der Tiere stände Bewunderung für das beeindruckende Zusammenspiel des Bienenstaats. Aber ich ertappte mich oft bei der Frage, ob nicht eher das Gegenteil das Bienensterben zu einem derart großen Thema machte: die absolute Machtlosigkeit des Individuums angesichts des unvermeidlichen, das gesamte Volk betreffenden Selbstmords.

Dann ginge es gar nicht nur um die Bienen: Wir bekommen ständig vermittelt, dass unsere eigene Welt kollabieren könnte - durch mysteriöse Todesfälle aufgrund von Ebola, der Vogelgrippe oder anderen Pandemien, durch die befürchtete Roboterapokalypse, durch den IS, China und die Jade-Helm-Militärübung in Texas, durch die galoppierende Inflation infolge des Ankaufs von Staatsanleihen, die nie eintraf, oder durch den Sturm auf Gold, den die Inflationsängste auslösten und der tatsächlich eintraf.   heise  Buergeruebung-gegen-Militaeruebung  2015, Jade Helm

Wer den Wikipediaartikel über die Honigbiene aufruft, rechnet nicht damit, auf Theorien über das bevorstehende Ende der Welt zu stoßen. Aber je mehr man über das Bienensterben liest, desto mehr Erstaunen verspürt man darüber, wie sehr das Internet heute als Wünschelrute dient, um damit einen vermeintlichen Weltuntergang zu erspüren.

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Wie sich herausstellte, war das Sterben der Bienen an sich nicht weiter rätselhaft - es ließ sich voll und ganz durch ihre Arbeitsbedingungen erklären: Der Hauptauslöser war der Kontakt mit einer neuen Art von Insekten­schutzmittel, den Neonicotinoiden, die, wie der Name schon sagt, alle Bienen quasi in Nikotinjunkies verwandelten. Anders formuliert: Es könnte sein, dass die fliegenden Insekten aufgrund der Erderwärmung sterben - eine kürzlich erschienene Studie besagt, dass bereits heute möglicherweise 75 Prozent von ihnen verschwunden sind, was uns immer näher an eine Welt ohne Bestäuber heranrückt, laut Wissenschaftlern ein »ökologisches Armageddon« -, aber das Bienensterben hat im Grunde nichts damit zu tun.578

Trotzdem widmeten viele Zeitschriften der Bienenfabel auch 2018 noch lange Artikel.579 Der Grund dafür ist vermutlich nicht, dass es den Lesern Freude bereitet, in Bezug auf die Bienen falsch gelegen zu haben, sondern dass es irgendwie beruhigend ist, eine offenkundige Krise als Fabel zu behandeln - so als lagere dies das Problem in eine Erzählung aus, deren Bedeutung wir kontrollieren können.

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Als der Journalist und Umweltaktivist Bill McKibben 1989 »das Ende der Natur« verkündete, stellte er uns überspitzt betrachtet vor ein epistemologisches Rätsel: Wie nennt man es, wenn die Wildnis und das Wetter, das Tier- und das Pflanzenreich durch das menschliche Tun so verändert worden sind, dass man sie nicht mehr als wirklich »natürlich« bezeichnen kann?

Die Antwort folgte einige Jahrzehnte später mit dem Begriff »Anthropozän«, der aus der Besorgnis um die Umwelt heraus entstand und einen viel chaotischeren und instabileren Zustand andeutet als »Ende«. Umwelt­schützer, Outdoor-Fans, Naturliebhaber und Romantiker verschiedener Spielarten - die Liste derer, die das Ende der Natur betrauern würden, ist lang. Aber es gibt buchstäblich Milliarden Menschen, die von den Kräften, die das Anthropozän freisetzt, in naher Zukunft in Angst und Schrecken versetzt werden.

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In großen Teilen der Welt ist es bereits so weit: Im Nahen Osten und in Südasien kommt es fast jährlich zu tödlichen Hitzewellen, und an vielen Orten herrscht ständig Angst vor Überschwemmungen wie derjenigen, die 2018 den indischen Bundesstaat Kerala heimsuchte und Hunderte Todesopfer forderte. Diese Überschwemmung hat in den USA und in Europa kaum Reaktionen erzeugt, da die Nachrichtenkonsumenten dort seit Jahrzehnten darauf abgerichtet sind, derartige Katastrophen als durchaus tragische, aber gleichzeitig unvermeidliche Folgen des Entwicklungsrückstands zu betrachten - und damit als »Naturereignisse« und als weit entfernt.

Das Auftreten von Klimaerscheinungen dieses Ausmaßes im modernen Westen wird eine der großen und furchtbaren Erzählungen der kommenden Jahrzehnte sein. Denn mindestens dort herrscht seit langem die Überzeugung vor, dass die Moderne die Natur vollständig zurückgedrängt hat, Fabrik für Fabrik und Einkaufszentrum für Einkaufszentrum. Befürworter des Geoengineerings wollen sich als Nächstes den Himmel vornehmen, nicht nur, um die Temperatur der Erde zu stabilisieren, sondern möglicherweise auch, um »Wunschklimata« zu erzeugen, die auf die Bedürfnisse einzelner Regionen abgestimmt sind - um das Ökosystem dieses einen Riffs zu retten oder jene Kornkammer zu erhalten.580 Die Zonen, um die es geht, könnten dabei immer kleiner werden, bis hin zu bestimmten Agrarbetrieben, Fußballstadien oder Strandresorts.

Derartige Eingriffe liegen, falls sie jemals Realität werden, noch mindestens einige Jahrzehnte in der Zukunft. Aber selbst schnell umsetzbare und alltäglich wirkende Projekte werden die Welt prägen. Im 19. Jahrhundert war die Baukultur der meisten fortschrittlicheren Länder auf die Ansprüche der Industrie ausgerichtet - ein Beispiel sind die Eisenbahnschienen, die quer durch ganze Kontinente verlegt wurden, um Kohle zu transportieren. Im 20. Jahrhundert spiegelte sie die Vorgaben des Kapitals wider - man denke an die weltweite Verstädterung, durch die Arbeitskräfte für die neue Dienstleistungsgesellschaft zusammengezogen wurden.

Im 21. Jahrhundert werden sich daraus die Zwänge durch den Klimawandel ablesen lassen: Schutzwälle gegen das Meer, Anlagen zur Kohlendioxidabscheidung und Solaranlagen so groß wie ganze Staaten.

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Enteignungen, die im Kampf gegen den Klimawandel geschehen, werden nicht mehr als Übergriffe der staatlichen Autoritäten gelten, auch wenn es sicherlich weiterhin wütende Proteste der Betroffenen geben wird - selbst im Zeitalter der Klimakrise werden manche Leute immer noch einen Weg finden, ihre eigenen Interessen vor die aller anderen zu stellen.

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Unsere Umwelt ist bereits heute deformiert - durchaus stark deformiert. Dass wir dadurch ein ganzes geologisches Zeitalter zum Abschluss gebracht haben, ist die große Lehre des Anthropozäns. Das Ausmaß der Veränderungen ist dennoch erstaunlich, selbst für diejenigen von uns, die inmitten dieser Prozesse aufwuchsen und alle Vorteile, die sich daraus ergaben, für selbstverständlich hielten. Allein zwischen 1992 und 2015 wurden 22 Prozent der Landmassen der Erde vom Menschen verändert.581 Geht man nach Gewicht, sind 96 Prozent der Säugetiere auf der Welt heute Menschen und ihr Nutzvieh, nur 4 Prozent sind wilde Tiere.582 Wir haben alle anderen Arten einfach verdrängt - durch unsere Anzahl, unser Verhalten oder pure Gewalt -, teilweise bis an die Grenze des Aussterbens oder schlimmer. E.O. Wilson meint, unser Zeitalter müsste eigentlich eher »Eremozän« heißen - »Epoche der Einsamkeit«.(583)

Aber die Erderwärmung hält eine noch beunruhigendere Botschaft für uns bereit: Wir haben die Natur gar nicht besiegt. Es gab keine abschließende Eroberung, keine endgültige Herrschaft über sie, sondern genau genommen nur das Gegenteil: Was auch immer das für die anderen Tiere auf der Erde bedeutet - durch die Erderwärmung haben wir unwissentlich Anspruch auf ein System erhoben, das wir im Alltag weder steuern noch zähmen können. Schlimmer noch: Durch unser fortwährendes Handeln haben wir das System nur weiter aus dem Lot gebracht. Die Natur ist gleichzeitig vorbei, ein Ding der Vergangenheit, und überall um uns herum, von wo aus sie uns überwältigt und bestraft - und das ist die größte Lehre aus dem Klimawandel, die er uns fast jeden Tag erteilt.

Wenn die Erderwärmung sich auch nur ansatzweise so weiterentwickelt wie bisher, wird sie alles prägen, was uns auf diesem Planeten beschäftigt, von der Landwirtschaft über die Migrationsbewegungen über die Industrie bis hin zur psychischen Gesundheit; sie wird nicht nur unser Verhältnis zur Natur, sondern auch das zu Politik und Geschichte verändern und das gesamte Wissenssystem der Moderne auf den Kopf stellen.

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All das ist den Forschern jetzt schon seit einer Weile bekannt. Aber ihre Worte klingen oft anders.

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Seit Jahrzehnten scheuen diejenigen, die sich mit dem Klimawandel beschäftigen, kaum etwas mehr als den Vorwurf der »Panikmache«. Das ist relativ ungewöhnlich für eine beunruhigte Berufsgruppe; Gesundheits­experten rufen ja für gewöhnlich auch nicht explizit zur Vorsicht auf, wenn es beispielsweise um die Beschreibung der Risiken von krebserregenden Stoffen geht. Der Klimaforscher James E. Hansen, der das Thema Erderwärmung 1988 als Erster vor dem amerikanischen Kongress zur Sprache brachte, hat dieses Phänomen »wissenschaftliche Zurückhaltung« genannt und warf seinen Kollegen 2007 vor, ihre Beobachtungen so vorsichtig zu formulieren, dass sie verbargen, wie ernst die Bedrohung wirklich war.584

Diese Tendenz hat sich im Verlauf der Zeit verstärkt, obwohl die Erkenntnisse seitdem ironischerweise noch unheilvoller geworden sind; und so kam es, dass über einen langen Zeitraum hinweg jede große Veröffent­lichung von einer Wolke aus Kommentaren über die richtige Einordnung und den angemessenen Tonfall begleitet wurde - bei vielen der Artikel wurde das angeblich fehlende Gleichgewicht zwischen schlechten Nachrichten und Optimismus bemängelt, was ihnen das Urteil »fatalistisch« einbrachte. Manche erhielten sogar das abschätzige Etikett »katastrophengeil«.

Das ist recht vage, wie alle guten Beleidigungen, aber es trug erfolgreich dazu bei, zu definieren, welche Betrachtungsweisen des Klimawandels als »vernünftig« galten. Und deshalb ist die wissenschaftliche Zurückhaltung ein weiterer Grund dafür, dass wir die Bedrohung durch den Klimawandel nicht klar sehen - die Fachleute haben stets deutlich gemacht, dass es verantwortungslos sei, die besorgnis­erregenderen möglichen Auswirkungen der Erderwärmung offen zu kommunizieren, so als trauten sie der Welt nicht zu, mit den Informationen, über die sie selbst verfügten, zurechtzukommen oder sie richtig zu interpretieren und entsprechend zu reagieren.

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Was auch immer das bedeutet: Seit Hansens erster Aussage und der Gründung des Weltklimarates sind mittlerweile 30 Jahre vergangen, und die Besorgnis über die Auswirkungen des Klimawandels hat immer mal wieder zu- und abgenommen, aber nie einen großen Sprung gemacht. Was die Reaktion der Öffentlichkeit angeht, ist das Ergebnis noch dürftiger. In den Vereinigten Staaten haben die Leugner des Klimawandels eine der zwei großen Parteien gekapert und verhindern quasi jede Gesetzesinitiative. Auf der internationalen Bühne hat es eine Reihe hochkarätiger Konferenzen, Abkommen und Vereinbarungen gegeben, aber sie wirken immer mehr wie ein reines Bühnenspektakel - die Emissionen steigen weiter ungehindert an.

Auf ihre Weise ist die wissenschaftliche Zurückhaltung jedoch auch absolut nachvollziehbar, denn der Fluss der rhetorischen Vorsicht speist sich aus vielen Nebenströmen. Der erste davon ist das Temperament: Klima­forscher sind in erster Linie Wissenschaftler, die sich bewusst für ihren Job entschieden und ihren Scharfblick trainiert haben. Der zweite ist die Erfahrung: Viele von ihnen, vor allem in den USA, kämpfen teilweise schon seit Jahrzehnten gegen die Klimaskeptiker an, die jede Übertreibung und jeden Irrtum als Beweis für die Unrechtmäßigkeit der Sache oder die Böswilligkeit der Wissenschaftler ansehen. Das lässt die Forscher verständ­lich­erweise vorsichtig werden. Leider haben die Bemühungen darum, keinesfalls übertrieben pessimistisch aufzutreten, sie dazu bewogen, sich übertrieben zurückhaltend zu äußern, und zwar so gewohnheits­mäßig, dass es zu einem Berufsgrundsatz geworden ist - und gleichzeitig selbstzufrieden wirkt.

So politisch rückständig es auch erscheint, der Öffentlichkeit die furchteinflößendsten Erkenntnisse der Forschungen vorzuenthalten - es steckte auch eine weise Überlegung dahinter. Als Teilzeitaktivisten haben die Wissen­schaftler ihre Kollegen und Mitstreiter angesichts des bevorstehenden dramatischen Klimawandels und den kaum vorhandenen Gegenmaßnahmen psychisch so manches dunkle Tal durch­schreiten sehen und verzagten darüber meist auch selbst.

Deshalb befürchteten sie den großen Trübsinn und die Gefahr, dass eine aufrichtige Berichterstattung über das Klima so viele Menschen verzweifeln lassen würde, dass jegliche Versuche, die Krise abzuwenden, zum Scheitern verurteilt wären. Sie verallgemeinerten die Erfahrungen aus ihrem Umfeld und verwiesen auf eine Erkenntnis aus der Sozialwissenschaft, die besagt, Hoffnung wirke motivierender als Angst - ohne darauf einzugehen, dass Sorge nicht das Gleiche ist wie Fatalismus, dass Hoffnung nicht voraussetzt, alle schwierigen Herausforderungen zu verschweigen, und dass auch Angst ein Motivator sein kann.

Das ergab ein Aufsatz, der 2017 im Fachmagazin Nature erschien;585 in ihm wurde die volle Bandbreite der akademischen Fachliteratur untersucht: Trotz eines ausgeprägten Konsens unter den Klimaforschern in Bezug auf »Hoffnung« und »Angst« und die Frage, wie verantwortungsvolle Berichterstattung auszusehen habe, gibt es weder den einen Weg, wie man am besten über den Klimawandel erzählt, noch den einen sprachlichen Ansatz, der bei einem bestimmten Publikum funktioniert, und nichts ist zu gefährlich, um es auszuprobieren. Jede Darstellungsform, die dafür sorgt, dass etwas hängen bleibt, ist eine gute Darstellungsform.

2018 fingen die Wissenschaftler dann an, sich der Angst zu öffnen, als der Weltklimarat einen aufsehenerregenden, erschütternden Bericht veröffentlichte, dem zu entnehmen war, wie viel schlimmer sich eine Erwärmung um zwei Grad im Vergleich zu einer um 1,5 Grad auswirken würde: Dutzende Millionen Menschen mehr wären tödlichen Hitzewellen, Wassermangel und Überschwemmungen ausgesetzt. Die Studien, die im Bericht zusammengefasst wurden, waren nicht neu, und eine Erderwärmung um mehr als zwei Grad kam nicht einmal vor. Doch obwohl der Bericht diese beängstigenderen Szenarien außen vor ließ, stellte er für die Wissenschaftler der Welt quasi eine neue Art Erlaubnis, eine Freigabe dar. Die Botschaft, die er vermittelte, lautete: Ihr dürft jetzt - endlich - die Nerven verlieren. Kaum vorstellbar, dass auf diesen Bericht irgendetwas anderes folgen könnte als eine neue Welle der Furcht, ausgelöst von Wissenschaftlern, die endlich dazu ermutigt wurden, so laut zu schreien, wie sie es für richtig halten.(586)

Doch die bisherige Vorsicht war auch verständlich. Forscher haben Jahrzehnte damit verbracht, eindeutige Daten zu präsentieren und jedem, der ihnen zuhören wollte, darzulegen, was für eine Krise über die Erde kommen werde, wenn wir nichts dagegen unternehmen, nur um Jahr für Jahr erleben zu müssen, wie nichts geschah. Da ist es wenig überraschend, dass sie sich immer wieder in ihrem Besprechungsraum versammelten und sich den Kopf über rhetorische Strategien und Fragen der »Darstellung« zerbrachen. Wären sie an der Macht, wüssten sie ganz genau, was zu tun wäre, und es gäbe keinen Anlass zur Panik. Warum wollte also niemand auf sie hören?

Es musste an der Vermittlung liegen. Wie war es sonst zu erklären?

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