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III  Klimakaleidoskop  

  3.3 - Die Kirche der Technologie  

 

199-215

Falls uns etwas retten kann, ist es die Technik. Aber wir brauchen mehr als nur Phrasen, um den Planeten zu erhalten. Vor allem die Technologen der auf Zukunftsvisionen fixierten Bruderschaften im Silicon Valley haben wenig mehr zu bieten als Märchen.

Im Verlauf des letzten Jahrzehnts hat die Verehrung durch die Kunden diese Gründer und Kapitalgeber in den Stand von Schamanen erhoben, die durch eine Art Gläserrücken Blaupausen für die Zukunft der Welt erstellen. Doch verdächtig wenige von ihnen scheinen sich ernsthaft Sorgen über den Klimawandel zu machen. Stattdessen investieren sie kleinere Summen in erneuerbare Energien (mit Ausnahme von Bill Gates) und noch weniger Geld in wohltätige Organisationen (ebenfalls mit Ausnahme von Bill Gates) und berufen sich häufig auf eine Aussage von Eric Schmidt: Das Problem des Klimawandels sei im Grunde bereits gelöst, weil die Lösung durch die Geschwindigkeit des technologischen Wandels - oder sogar durch die Einführung einer sich selbst weiterentwickelnden Technologie, nämlich der künstlichen Intelligenz (KI) - unvermeidlich sei.(605)

Diese Weltanschauung könnte man als blindes Vertrauen bezeichnen, obwohl viele Leute im Silicon Valley künstlicher Intelligenz eher mit blinder Panik entgegensehen. Man könnte auch sagen, dass die Zukunftsdenker der Welt die Technik mittlerweile als übergeordnete Struktur verstehen, in der alle anderen Probleme - und ihre Lösungen - enthalten sind. So gesehen kann die einzige Bedrohung der Technik von der Technik selbst ausgehen, was vielleicht der Grund dafür ist, dass sich so viele Leute im Silicon Valley weniger Sorgen über einen unkontrollierbaren Klimawandel machen als über eine unkontrollierbare künstliche Intelligenz. Die einzige Furcht einflößende Macht, die sie ernst nehmen würden, ist diejenige, die sie selbst erschaffen haben.

Das ist eine seltsame Entwicklung für eine Weltanschauung, die in der durch und durch von der Gegenkultur geprägten Region der Bay Area entstand und durch Stewart Brands Selbstversorger- und Bastler-Bibel Whole Earth Catalog befördert wurde.  

  wikipedia  Eric_Schmidt  *1955 In Washington DC     wikipedia  Stewart_Brand *1938 in Illinois   wikipedia  Whole_Earth_Catalog 

Und vielleicht liefert sie eine Erklärung dafür, warum die Chefs der Social-Media-Konzerne so spät erkannten, welch eine Bedrohung die Politik der realen Welt für ihre Plattformen darstellte - und warum die Furcht der Silicon-Valley-Leute vor zukünftigen KI-Überwesen verdächtige Anklänge einer unterbewussten, vernichtenden Selbstkritik enthält, wie der Science-Fiction-Schriftsteller Ted Chiang meint, und somit eine Angst vor den Geschäfts­praktiken andeutet, welche die Tech-Titanen selbst verkörpern:

Bedenken Sie: Wer verfolgt monomanisch seine Ziele, ohne auch nur einen Gedanken auf mögliche negative Folgen zu verschwenden? Wer setzt auf eine Verbrannte-Erde-Taktik, um seine Marktanteile zu steigern? Die theoretische, Erdbeeren pflückende künstliche Intelligenz tut genau das, was sich jedes Start-up aus der Technologiebranche für sich selbst wünscht - sie erfährt ein exponentielles Wachstum und zerstört ihre Konkurrenten, bis sie das absolute Monopol hält. Das gängige Konzept einer Superintelligenz ist so schwammig, dass man sie sich in fast allen Formen vorstellen kann, ohne dass eine davon legitimer wäre als andere, sei es das wohlwollende Genie, das alle Probleme der Welt löst, oder die mathematische Instanz, die ihre gesamte Zeit damit verbringt, Theoreme zu beweisen, die so abstrakt sind, dass der Mensch sie sich nicht einmal vorstellen kann. Aber wenn das Silicon Valley über eine Superintelligenz nachdenkt, kommt eine Verkörperung des hemmungslosen Kapitalismus dabei heraus.606

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Manchmal ist es schwierig, mehr als eine vernichtende Bedrohung im Blick zu behalten.

Doch Nick Bostrom - ein Pionier der philosophischen Betrachtung der künstlichen Intelligenz - hat das geschafft. 2002 zählte er in einer richtungsweisenden Einordnung dessen, was er als »existenzielle Risiken« definierte, 23 solche Bedrohungen auf, für die galt: »ein negativer Ausgang würde das auf der Erde entstandene intelligente Leben entweder auslöschen oder sein Potenzial dauerhaft und drastisch reduzieren«.607

Bostrom ist kein einsamer Weltuntergangsintellektueller, sondern einer der führenden Vordenker, die sich gegenwärtig mit den Möglichkeiten befassen, wie man das, was sie als eine die Spezies gefährdende, unkontroll­ierbare künstliche Intelligenz betrachten, einhegen oder zumindest erst einmal in Worte fassen kann.

Aber er hat auch den Klimawandel auf seine umfassende Liste gesetzt, in der Unterkategorie »Knall«, die er als die Möglichkeit definiert, dass »das auf der Erde entstandene intelligente Leben durch eine relativ plötzlich auftretende Katastrophe ausgelöscht wird, die entweder auf einen Unfall oder auf einen bewussten Akt der Zerstörung zurückgeht«. »Knall« ist die umfangreichste Kategorie auf der Liste, neben dem Klimawandel finden sich dort unter anderem die Punkte Schlecht programmierte Superintelligenz und Wir leben in einer Simulation, die abgeschaltet wird.

wikipedia  Nick_Bostrom *1955 in Schweden    Die verwundbare Welt - Hypothese Buch 2020

In dem Aufsatz geht Bostrom auch auf ein mit dem Klimawandel verwandtes Risiko ein, Ressourcenschwund oder ökologische Zerstörung. Diese Bedrohung gehört der nächsten Kategorie an, »Einbruch«, wobei ein »Einbruch« als ein Ereignis definiert ist, nach dem »das Potenzial der Menschheit, eine posthumane Entwicklungsstufe zu erreichen, dauerhaft zerstört ist, auch wenn das menschliche Leben in irgendeiner Form weitergeht«. Bostroms anschaulichstes Einbruchsrisiko ist wohl die Ausbremsung durch die Technik: »Allein die technischen Schwierigkeiten, die beim Übergang in die posthumane Welt auftreten, könnten sich als so groß erweisen, dass wir es nie schaffen.«

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Die letzten beiden Kategorien lauten »Aufschrei«, definiert als die Möglichkeit, dass »eine Form der Posthumanität erreicht wird, aber nur in sehr engen Grenzen dessen, was möglich und wünschenswert wäre«, etwa im Fall einer Übernahme durch einen transzendenten Upload oder einer mangelhaften Superintelligenz (das Gegenstück zur schlecht programmierten Superintelligenz), und »Gewimmer« - »eine posthumane Zivilisation entsteht, entwickelt sich dann aber in eine Richtung, die langsam, aber unwiderruflich entweder auf das vollständige Verschwinden dessen zuläuft, was wir schätzen, oder auf einen Zustand, wo diese Dinge nur zu einem Bruchteil dessen umgesetzt sind, was möglich gewesen wäre«.

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Wie Ihnen vielleicht aufgefallen ist, enthält keine der genannten Definitionen jenseits der Kategorie »Knall« das Wort »Menschheit«, obwohl im Aufsatz doch »Auslöschungsszenarien der Menschheit« behandelt werden sollten. Stattdessen geht es immer nur um das, was Bostrom »posthuman« nennt und andere als »transhuman« bezeichnen:

Die Möglichkeit, dass die Technologie uns sehr bald über die Schwelle zu einer neuen Phase des Lebens tragen könnte, die sich so sehr von unserem heutigen Dasein unterscheidet, dass wir gezwungen wären, das als echten Bruch in der Evolutionsgeschichte zu betrachten.

Manche denken dabei nur an Nanobots, die durch unseren Blutkreislaufschwimmen, Giftstoffe herausfiltern und den Körper auf Tumore untersuchen; andere sehen ein Leben vor sich, das völlig von der greifbaren Realität losgelöst stattfindet und sich voll und ganz in Computern abspielt. Erinnert Sie das an das Anthropozän? Doch in dieser Vision müssen sich die Menschen nicht mit Umweltzerstörung und der Frage, wie man damit umgeht, auseinandersetzen, sondern beschleunigen einfach auf technologische Fluchtgeschwindigkeit.

Es ist schwer zu sagen, wie ernst man diese Vorstellungen nehmen sollte, obwohl sie in der Avantgarde der Bay Area, die als Architekt der möglichen Zukunft die NASAs und die Bell Labs des vergangenen Jahr­hunderts abgelöst hat, mehr oder weniger allgemein akzeptiert sind.608 Was die Vertreter dieser Avantgarde unterscheidet, ist eigentlich nur die Einschätzung, wie lange es dauern wird, bis dieser Zustand eingetroffen ist.

Der deutsche Investor Peter Thiel mag sich über das Tempo des technologischen Wandels beschweren, aber vielleicht tut er das, weil er befürchtet, es könne nicht ausreichen, um die ökologischen und politischen Verheerungen zu überholen. Er investiert immer noch in dubiose Projekte, die sich mit der ewigen Jugend befassen, und kauft Land in Neuseeland auf (auf das er sich bei einem Zusammenbruch aller gesellschaftlichen Strukturen zurückziehen könnte).

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Sam Altman vom Gründerzentrum Y Combinator, der sich durch ein kleines Pilotprojekt zum bedingungslosen Grundeinkommen einen Ruf als eine Art wohltätiger Tech-Guru erarbeitet hat und kürzlich dazu aufrief, ihm Geoengineering-Projekte vorzustellen, die er finanziell unterstützen könnte, hat angeblich eine Anzahlung für ein Upload-Programm geleistet, das den Inhalt seines Gehirns extrahieren würde. Natürlich handelt es sich dabei um ein Projekt, in das er auch investiert hat.

Für Nick Bostrom ist der Daseinszweck der »Menschheit« so offensichtlich die Erschaffung einer »posthumanen Zivilisation«, dass er den zweiten Begriff synonym zum ersten verwendet. Das ist kein Versehen, sondern der Schlüssel, der ihm im Silicon Valley so viel Ansehen verschafft: der Glaube daran, dass die größte Aufgabe der Technologen nicht darin besteht, der Menschheit zu Wohlstand und Wohlbefinden zu verhelfen, sondern eine Art Portal zu bauen, durch das wir in eine andere, möglicherweise unendliche Existenz übergehen können.

 wikipedia  Nick_Bostrom *1955 in Schweden        wikipedia  Peter_Thiel  *1967 in Frankfurt    wikipedia  Sam_Altman *1985 in Chikago

Das ist eine technologische Vision, die wohl vielen - angefangen bei den Milliarden von Menschen, die keinen Breitbandanschluss haben - verwehrt bliebe. Denn es könnte ziemlich schwierig werden, das eigene Gehirn über das Datenvolumen auf der Prepaid-SIM-Karte in eine Cloud zu laden. Die Welt, die zurückbliebe, wäre diejenige, die heute vom Klimawandel gebeutelt wird. Und Bostrom ist natürlich nicht der Einzige, der diese Gefahr als existenziell betrachtet.

Es gibt Tausende, vielleicht sogar Hundert­tausende Wissenschaftler, die mittlerweile täglich, bei jedem neuen Extremwetterereignis und jedem neu erscheinenden Aufsatz, um die Aufmerksamkeit der allgemeinen Leser­schaft buhlen. Selbst der nicht unbedingt für seine hysterische Grundeinstellung bekannte Barack Obama verwendete gern den Ausdruck »existenzielle Bedrohung«.

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Und dennoch kann man es als Zeichen unserer technologiefixierten Gesellschaft werten, dass wir jenseits der Überlegungen, fremde Planeten zu besiedeln, und der Vorstellung, die Menschen durch technische Errungen­schaften von den grundsätzlichen biologischen und umweltbedingten Bedürfnissen zu befreien, noch keinerlei Glaubenskonstrukt rund um den Klimawandel erschaffen haben, das uns angesichts der möglichen Auslöschung trösten oder unserem Leben einen Sinn verleihen könnte.

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Natürlich sind das alles religiöse Fantasievorstellungen: dem Körper zu entfliehen und die Erde zu verlassen.

Ersteres ist fast schon eine Karikatur des privilegierten Denkens, und dass es Eingang in die Träume einer neuen Kaste von Milliardären gefunden hat, war wahrscheinlich geradezu unvermeidlich. Doch Letzteres wirkt wie eine strategisch sinnvolle Reaktion auf die Klimapanik - die Erschaffung eines Ersatz-Ökosystems, um uns gegen einen möglichen Zusammenbruch hier abzusichern - und genauso wird es von den Befürwortern auch dargestellt.

Aber das ist rational betrachtet keine Lösung. Der Klimawandel bedroht die Grundlagen des Lebens auf der Erde, aber selbst eine dramatisch zerstörte Umwelt hier bietet immer noch deutlich mehr Lebensqualität als alles, was wir dem trockenen roten Staub des Mars abtrotzen können. Die nächtlichen Temperaturen dort liegen selbst im Sommer und am Äquator des Planeten bei über 70 Grad unter null, es gibt kein Wasser auf der Oberfläche und keinerlei Pflanzen. Wahrscheinlich wäre es mit den nötigen Mitteln möglich, dort oder auf einem anderen Planeten eine kleine, geschlossene Kolonie zu errichten; aber die Kosten wären so viel höher als für ein gleichwertiges künstliches Ökosystem auf der Erde und das Ausmaß dieser Kolonie damit so begrenzt, dass jeder, der den Flug ins All als Reaktion auf den Klimawandel vorschlägt, an klimabedingten Wahn­vorstellungen leiden muss.

Um sich auszumalen, dass eine solche Kolonie einen materiellen Wohlstand bieten könnte, der mit dem vergleichbar ist, den die Tech-Plutokraten im Silicon Valley genießen, muss man noch tiefer im Narzissmus dieser Wahn­vorstellungen gefangen sein - als wäre es genauso einfach, Luxusgüter zum Mars zu schmuggeln wie zum Burning-Man-Festival.

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In der Gemeinde der Normalsterblichen, die sich kein Ticket ins All leisten können, kommt der Glauben in anderen Formen daher. Aber es werden Glaubensvehikel in ganz verschiedenen Preisstufen angeboten: Smartphones, Streaming-Dienste, Mitfahrerdienste und das mehr oder weniger kostenlose Internet selbst - alles bietet das schillernde Versprechen einer Flucht vor den Anstrengungen und Problemen einer zerstörten Welt.

In »An Account of My Hut«, einem Bericht über die Suche nach einem Haus in der Bay Area und einigen Beobachtungen zur Klimaapokalypse der Waldbrandsaison 2017 - dem Jahr, in dem auch die Hurrikans Harvey, Irma und Maria wüteten -, beschreibt Christina Nichol ein Gespräch mit einem jungen Verwandten, der in der Technologiebranche arbeitet und dem sie versucht, die Beispiellosigkeit der Bedrohungen durch den Klimawandel klarzumachen - vergeblich.

»Warum soll ich mir darüber Gedanken machen?«, fragt er.609 »Die Technologien werden es schon richten. Wenn die Erde hinüber ist, leben wir eben in Raumschiffen. Unsere Nahrung drucken wir uns mit 3-D-Druckern aus. Wir essen Laborfleisch. Eine Kuh wird uns alle ernähren. Wir ordnen Atome neu an, um Wasser oder Sauerstoff zu erzeugen.« (Elon Musk)

Elon Musk - das ist nicht der Name eines Mannes, sondern einer Überlebensstrategie für die gesamte Spezies.

Nichol antwortet: »Aber ich will nicht in einem Raumschiff leben.«

Er wirkte ernsthaft überrascht. In seiner Branche hatte er noch nie jemanden getroffen, der nicht in einem Raumschiff leben wollte.

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Dass uns die Technik kollektiv von den Strapazen der Arbeit und der materiellen Entbehrungen befreien könnte, ist ein Traum, der mindestens so alt ist wie John Maynard Keynes, der voraussagte, seine Enkel würden höchstens 15 Stunden pro Woche arbeiten, doch dieser Traum ging nie in Erfüllung.610 Der Wirtschaftswissenschaftler Robert M. Solow formulierte 1987, in dem Jahr, in dem er den Nobelpreis erhielt, den berühmten Satz: »Man sieht überall, dass wir im Zeitalter des Computers leben, außer in den Produktivitätsstatistiken.«611  

 wikipedia  John_Maynard_Keynes  *1883 in England bis 1946     wikipedia  Robert_M._Solow  *1924 in New York

Diese Erfahrung haben die meisten Menschen in der industrialisierten Welt vor allem in den Jahrzehnten gemacht, die seitdem vergangen sind - der rasende technologische Wandel hat sich auf fast jeden Aspekt des Alltags ausgewirkt, aber wenige bis keine greifbaren Verbesserungen in den Punkten mit sich gebracht, an denen wir den wirtschaftlichen Wohlstand üblicherweise ablesen. Das ist wahrscheinlich eine Erklärung für die herrschende Politikverdrossenheit - der Eindruck, dass die Welt fast vollständig auf den Kopf gestellt wird, aber so, dass wir hinterher mehr oder weniger an der gleichen Stelle stehen wie zuvor, so toll Netflix, Amazon, Instagram und Google Maps auch sein mögen.

Das Gleiche gilt - ob Sie es glauben oder nicht - auch für die vielgepriesene »Ökostromrevolution«, die zu Produktionszuwächsen im Energiebereich und zu Kostensenkungen weit über die Voraussagen selbst der unver­besserlichsten Optimisten hinaus geführt und es dennoch nicht geschafft hat, die Kurve der CO2-Emissionen nach unten zu biegen. Anders formuliert: Wir sind nach Milliarden ausgegebener Dollars und Tausenden von großen Durchbrüchen genau an dem gleichen Punkt, an dem wir waren, als die Hippies anfingen, Sonnenkollektoren auf ihren geodätischen Kuppeln zu installieren. Das liegt daran, dass der Markt auf diese Entwicklungen nicht damit reagiert hat, die schmutzigen Energiequellen aufzugeben und sie durch saubere zu ersetzen, sondern dem System einfach mehr Kapazität hinzugefügt hat.

In den vergangenen 25 Jahren sind die Kosten pro Einheit erneuerbarer Energien so stark gefallen, dass man den Preis heute kaum noch in der gleichen Messgröße angeben kann (allein seit 2009 ist der Preis für Solarenergie in den USA beispielsweise um mehr als 80 Prozent gesunken). Dennoch ist der Anteil der erneuerbaren Energie am weltweiten Energiemix in den gleichen 25 Jahren kaum gestiegen.

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Die Nutzung von Solarenergie sorgt also nicht dafür, dass der Verbrauch der fossilen Brennstoffe zurückgeht, auch nicht schrittweise; sie stützt ihn nur. Für den Markt bedeutet das Wachstum, für unsere Zivilisation ist es fast selbstmörderisch. Wir verbrennen heute 80 Prozent mehr Kohle als noch im Jahr 2000.

Und der Energieverbrauch ist nur ein Thema. Die Herausforderung besteht nicht allein im Übergang von schmutzigen zu sauberen Energiequellen, wie der Zukunftsforscher Alex Steffen es bei Twitter so treffend formulierte. Das sei nur das nächstliegende Ziel, »kleiner als die Herausforderung, fast alles zu elektrifizieren, was Energie verbraucht«, womit Steffen die deutlich umweltschädlicheren Benzinmotoren meint. Diese Aufgabe, fährt er fort, sei kleiner als die Herausforderung, den Energieverbrauch zu verringern, die wiederum kleiner sei als die Herausforderung, die Versorgung mit Waren und Dienstleistungen neu zu organisieren - da die weltweiten Lieferketten auf einer umweltschädlichen Infrastruktur aufbauen und die Arbeitsmärkte überall immer noch auf schmutzigen Energien basieren.

Außerdem sei es notwendig, alle anderen Quellen emissionsfrei zu machen - die Abholzung der Wälder, die Landwirtschaft, die Nutztierhaltung, die Mülldeponien. Und man müsse alle den Menschen betreffenden Systeme gegen die bevorstehenden Naturkatastrophen und Extremwetterereignisse schützen. Und eine Weltregierung einführen, oder zumindest eine internationale Kooperation, um ein solches Projekt zu koordinieren. All das sei allerdings eine kleinere Herausforderung, meint Steffen, »als das monumentale zivilisatorische Unterfangen, gemeinsam eine florierende, dynamische, nachhaltige Zukunft zu ersinnen, die nicht nur möglich ist, sondern für die es sich auch lohnt zu kämpfen«. 

 alextsteffen.com  Alex T. Steffen

Bei diesem letzten Punkt bin ich anderer Meinung - die Zukunftsvision ist nicht das Problem, vor allem für diejenigen, die sich weniger intensiv mit den Herausforderungen beschäftigt haben als Steffen. Wenn wir uns eine Zukunft herbeiwünschen könnten, hätten wir das Problem bereits gelöst. 

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Wir haben uns die Lösungen schon ausgemalt, mehr noch: Wir haben sie sogar entwickelt, zumindest in Form von regenerativen Energien. Wir haben nur noch nicht den politischen Willen, die Wirtschaftskraft und die gesellschaftliche Flexibilität gefunden, diese Lösungen umzusetzen, weil das etwas viel Größeres und auch Konkreteres verlangt als Vorstellungskraft - dafür wäre nicht weniger als eine Generalüberholung der Energie­versorgung, der Transportsysteme, der Infrastruktur, der Wirtschaft und der Landwirtschaft nötig. Ganz zu schweigen von unserer Ernährung und unserer Begeisterung für Bitcoins; die Kryptowährung erzeugt mittlerweile in einem Jahr so viel Kohlendioxid wie eine Million Transatlantikflüge.612

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Wir empfinden den Klimawandel als langsam, dabei läuft er dramatisch schnell ab. Gleichzeitig haben wir den Eindruck, dass der technologische Wandel, der nötig ist, um den Klimawandel abzuwenden, rasant voranschreitet; dabei entwickelt er sich in Wahrheit täuschend langsam - vor allem gemessen daran, wie schnell wir ihn brauchten. Das ist es, was Bill McKibben meint, wenn er sagt, langsam zu gewinnen sei das Gleiche wie zu verlieren: »Wenn wir nicht rasch handeln, und zwar global, wird das Problem buchstäblich unlösbar«, schreibt er. »Die Entscheidungen, die wir 2075 treffen, werden keine Rolle mehr spielen.«613

Innovationen sind in vielen Fällen der leichte Teil. So war auch der Schriftsteller William Gibson zu verstehen, als er sagte: »Die Zukunft ist bereits hier, sie ist nur nicht gleichmäßig verteilt.«614 Produkte wie das iPhone, der Talisman der Technologen, vermitteln ein falsches Bild des Tempos, in dem die Anpassung vor sich geht. In den Augen wohlhabender Amerikaner, Schweden oder Japaner mag die Marktdurchdringung enorm sein, aber mehr als ein Jahrzehnt nach seiner Einführung wird das Gerät von weniger als 10 Prozent der Weltbevölkerung genutzt.615 Für alle Smartphones zusammen, auch die »billigen«, liegt der Wert irgendwo zwischen einem Viertel und einem Drittel.616

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Tritt man noch einen Schritt zurück und betrachtet übergeordnete Systeme wie »Handys« oder »das Internet«, zeichnet sich ab, dass es noch mindestens Jahrzehnte dauern wird, bis die ganze Welt damit versorgt ist - dabei bleiben uns nur zwei oder drei, innerhalb derer wir überall den CO2-Ausstoß eliminieren müssen. Laut dem Weltklimarat haben wir noch zwölf Jahre, um ihn zu halbieren. Je länger wir warten, desto schwieriger wird das.

Hätten wir mit der weltweiten Dekarbonisierung bereits im Jahr 2000 begonnen, als Al Gore so knapp die Wahl zum amerikanischen Präsidenten verlor, müssten wir pro Jahr nur etwa 3 Prozent Emissionen einsparen, um klar unter der Zwei-Grad-Grenze zu bleiben.617

Wenn wir heute, da der CO2-Ausstoß immer noch steigt, damit anfangen, sind schon jährlich 10 Prozent nötig. Wenn wir uns noch ein weiteres Jahrzehnt Zeit lassen, werden wir die Emissionen jedes Jahr um 30 Prozent zurückfahren müssen. Deshalb glaubt der UN-Generalsekretär Antonio Guterres, dass uns nur ein Jahr bleibt, um einen Kurswechsel vorzunehmen und loszulegen.618

Das Ausmaß des technologischen Wandels, der dafür nötig ist, stellt alles, was das Silicon Valley hervorgebracht hat, in den Schatten - daneben verblasst sogar jede technische Revolution, die es in der Menschheits­geschichte je gegeben hat, einschließlich der Erfindung der Elektrizität, der Telekommunikation und sogar des Ackerbaus vor 10.000 Jahren. Das muss so sein, weil dieser neue Wandel all jene Aspekte umfasst - jeder einzelne von ihnen muss von Grund auf verändert werden, da sie alle am Kohlenstoff hängen wie an einem Beatmungsgerät.

Diese Systeme so umzustellen, dass das nicht mehr der Fall ist, hat weniger damit zu tun, Smartphones zu verteilen oder WLAN-Ballons über Kenia oder Puerto Rico in die Luft steigen zu lassen, wie es Google vorhat, sondern ähnelt eher dem Aufbau eines Autobahn- oder U-Bahnsystems oder der Erschaffung eines Stromnetzes, das eine ganze Reihe neuer Energieversorger und eine neue Art von Energieverbrauchern miteinander verbindet. Genauer gesagt ähnelt es dem nicht nur - es ist genau das.

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All das und noch viel, viel mehr: umfassende Infrastrukturprojekte auf allen Ebenen und in jedem Winkel, in dem der Mensch aktiv ist, von neuen Flugzeugflotten über eine neue Landnutzung bis hin zu einer neuen Art und Weise, Beton herzustellen, da dessen Produktion auf der Liste der CO2-intensivsten Branchen heute den zweiten Rang einnimmt - und der Rohstoff dank China einen Boom erlebt, denn dort wurde in den vergangenen drei Jahren mehr Beton verbaut als in den USA im gesamten 20. Jahrhundert.619

Wäre die Zementindustrie ein Land für sich, wäre sie der drittgrößte Kohlen­dioxidemittent der Welt.

Mit anderen Worten: Es handelt sich um Infrastrukturprojekte eines Ausmaßes, das unsere bisherigen Erfahrungen - zumindest in den USA - so weit übertrifft, dass eine Reparatur der Begleiterscheinungen nicht mehr zu erwarten ist und wir stattdessen lernen, mit Schlaglöchern und Lieferverzögerungen zu leben. Darüber hinaus stellen die benötigten Technologien im Gegensatz zum Internet oder zum Smartphone keine Ergänzung dar, sondern ersetzen die alten - so sollte es zumindest sein, wenn wir den Verstand besitzen, ihre schmutzigen Vorgänger auszusortieren. Das bedeutet, dass die neuen Alternativen sich allesamt gegen den Widerstand der etablierten Unternehmen und die Status-quo-Verzerrung der Konsumenten durchsetzen müssen, die mit dem, was sie heute haben, recht zufrieden sind.

Zum Glück ist die Ökostromrevolution schon, wie es so schön heißt, »im Gange«. Von allen unverzichtbaren Komponenten der umfassenden, emissionsfreien Revolution ist die Entwicklung sauberer Energiequellen sogar schon am weitesten fortgeschritten. Und wie weit ist das? 2003 ermittelte Ken Caldeira, der heute am Carnegie Institute for Science tätig ist, dass wir zwischen 2000 und 2050 jeden Tag saubere Energiequellen mit der Kapazität eines auf Hochbetrieb laufenden Kernkraftwerks erschaffen müssten, um einen katastrophalen Klimawandel abzuwenden.620 2018 untersuchte die MIT Technology Review, wie es voranging: Obwohl nur noch drei Jahrzehnte blieben, vollzog sich die Energierevolution so langsam, dass das notwendige Ergebnis in 400 Jahren erreicht wäre.621

Zwischen diesen beiden Zahlen klafft eine so große Lücke, dass sie ganze Zivilisationen verschlingen könnte, und genau das droht auch zu geschehen.

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In den Zwischenraum hat sich der Traum der Kohlendioxidabscheidung geschoben: Wenn wir nicht in der Lage sind, die gesamte moderne Infrastruktur schnell genug umzubauen, um die Welt vor der Selbstzerstörung zu bewahren, können wir uns zumindest ein bisschen zusätzliche Zeit verschaffen, indem wir einen Teil der toxischen Dämpfe aus der Luft saugen. Angesichts der unvorstellbaren Ausmaße des konventionellen Ansatzes und der knappen Zeit, die uns noch bleibt, könnten die Negativemissionen im Augenblick eine Art magisches Denken für das Klima darstellen. Außerdem scheinen sie unsere letzte und beste Hoffnung zu sein.

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Der Traum der CO2-Abscheidung ist mit der Fantasie einer Absolution der Industrie verwoben. Könnte man quasi aus dem Nichts eine Technologie erschaffen, die das ökologische Erbe der Moderne bereinigt - ja, vielleicht sogar den gesamten Fußabdruck verschwinden lässt?

Nicht sonderlich anders klingen die semi-subtilen Verkaufsargumente für Wind- und Solarenergie - saubere Energie, natürliche Energie, erneuerbare und daher nachhaltige Energie, unerschöpfliche, sogar unverringerbare Energie, abgeschöpfte statt erzeugte Energie, Energie in Hülle und Fülle, kostenlose Energie. Ganz ähnlich lauteten auch die Versprechen der Kernkraft, zumindest als sie damals zum ersten Mal angepriesen und angenommen wurde. Doch das war in den 1950er-Jahren, und es ist mittlerweile Jahrzehnte her, dass die Atomkraft als Weg zur Lösung des Energieproblems statt, wie es heute unweigerlich der Fall ist, als metaphysisch verseucht betrachtet wurde.

Doch so war es eben nicht immer. Als Dwight Eisenhower 1953 seine »Atoms for Peace«-Rede vor den Vereinten Nationen hielt, präsentierte er eine Art dauerhaft gültigen Waffenhandel, der auch moralisch ein Gewinn war: Als Belohnung für jede Nation, die der Entwicklung von Atomwaffen abschwor, und gleichzeitig als Strafe dafür, dass sie selbst die furchtbare Technologie überhaupt entwickelt hatten, boten die USA Hilfe in Form von Atomenergie an, die sie zudem zu Hause erzeugen wollten.

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Für eine Rede eines Präsidenten, der aus den Reihen des Militärs stammte, war es ein bemerkenswert poetisches Klagelied, das gleichzeitig eine Mobilmachung in Friedenszeiten darstellte - sie führt dem heutigen Leser wunderbar die Bedrohung durch den Klimawandel vor Augen, denn das damalige Gleichgewicht des Schreckens ist immer noch nicht nur die beste, sondern auch die einzige Analogie zu ihm, die die Menschheits­geschichte kennt.

Nach einer kurzen Beschreibung der enormen Kapazitätserweiterung der US-amerikanischen Atomflotte, die in den acht Jahren seit dem Zweiten Weltkrieg auf das 25-Fache ihrer Schlagkraft angewachsen war, was Eisenhower offensichtlich Angst einjagte, und ein paar Worten darüber, was es für die Vereinigten Staaten bedeutete, die Sowjetunion als nuklearen Rivalen dazugewonnen zu haben, fuhr der Präsident fort:

Dort zu verharren hieße, hilflos hinzunehmen, dass die Zivilisation möglicherweise zerstört wird, dass das unersetzliche Erbe der Menschheit, das von Generation zu Generation übergeht, ausgelöscht wird und dass die Menschheit dazu verdammt ist, die uralten Bemühungen, die Wildheit hinter sich zu lassen und den Aufstieg zu Anstand, Recht und Gerechtigkeit zu meistern, wieder ganz von vorn zu beginnen. Kein Mitglied der Menschheit, das bei Sinnen ist, könnte in diesem trostlosen Ausblick einen Sieg sehen. Wer könnte sich wünschen, dass sein Name im Zusammenhang mit einer solchen menschlichen Schande und Verheerung in die Geschichte einginge? Auf einigen Seiten der Geschichtsbücher finden sich die Gesichter »großer Zerstörer«, doch insgesamt zeigen diese Bücher doch das niemals endende Streben des Menschen nach Frieden und seine gottgegebene Fähigkeit, etwas zu erschaffen.

Es mag mindestens eine Generation her sein, dass die Amerikaner die Formulierung »des Menschen gottgegebene Fähigkeit, etwas zu erschaffen« in Bezug auf die Atomenergie gelesen haben - in dieser Zeit hat die Welt die Überzeugung verloren, dass die Kernkraft in Bezug auf die Umweltbelastung »kostenlos« sei, und bringt den Begriff stattdessen mit Atomkriegen, Kernschmelzen, Mutationen und Krebs in Verbindung.

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Dass wir vor allem die Namen der Kernkraftwerke im Kopf haben, in denen es zu katastrophalen Vorfällen kam, ist ein Zeichen dafür, wie tiefe Wunden diese geschlagen haben: Three Mile Island, Tschernobyl, Fukushima.

Aber betrachtet man die Opferzahlen, sind diese Wunden im Grunde Phantomerscheinungen. Die Anzahl der Menschen, die durch den Vorfall auf Three Mile Island ums Leben gekommen sind, ist umstritten, da viele Aktivisten glauben, das wahre Ausmaß der Strahlung werde unter Verschluss gehalten - ein vielleicht nicht unbegründeter Verdacht, denn im offiziellen Bericht wird darauf beharrt, dass es zu keinerlei Gesundheitsschäden kam. Aber die renommiertesten Untersuchungen ergaben, dass die Kernschmelze das Krebsrisiko innerhalb eines Umkreises von gut 15 Kilometern um weniger als ein Zehntel Prozent ansteigen ließ. Für Tschernobyl lautet die offizielle Opferzahl 47, obwohl manche Schätzungen höher liegen - zum Teil sogar bei 4000.622

Für Fukushima gilt laut einem Bericht der UN, dass »kein spürbar erhöhtes Aufkommen von strahlungsbedingten Erkrankungen bei den der Strahlung ausgesetzten Menschen oder ihren Nachkommen erwartet« werde.623 Hätte keiner der 100.000 Bewohner der Evakuierungszone sein Zuhause verlassen, wären vielleicht irgendwann ein paar Hundert Menschen an durch die Strahlung verursachten Krebserkrankungen gestorben.

Jedes Opfer ist tragisch, aber es kommen täglich weltweit mehr als 10.000 Menschen durch die Feinstaubverschmutzung ums Leben, die durch die Verbrennung von Kohle entsteht. Und das lässt das Thema Erwärmung und ihre Auswirkungen noch ganz außen vor. Eine Veränderung der Standards für Kohlekraftwerke, wie sie Trumps Umweltministerium 2018 vorgeschlagen hat, würde weitere 1400 Amerikaner jährlich das Leben kosten, gibt die Behörde selbst zu, noch während sie sich für die Gesetzesänderung stark macht; weltweit fordert die Luftverschmutzung jährlich neun Millionen Opfer.624

Mit dieser Verschmutzung und diesen Todesfällen leben wir einfach, wir nehmen sie kaum wahr; doch die nach innen gewölbten Kühltürme der Kernkraftwerke zeichnen sich vor unserem Horizont ab wie Tschechows sprichwörtliche Pistole.

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Der Preis dieser Anlagen ist heute, trotz einer Vielzahl von Versuchen, billigen Atomstrom zu erzeugen, immer noch so hoch, dass es schwerfällt, überzeugende Argumente dafür zu finden, mehr »grüne« Investitionen auf sie statt auf die Installation von Wind- und Solaranlagen zu verwenden. Doch bei der Abschaltung und Zerlegung der bestehenden Kraftwerke sieht das schon ganz anders aus, und dennoch passiert genau das - in den USA, wo sowohl Three Miles als auch Indian Point vom Netz genommen werden, und auch in Deutschland, wo in letzter Zeit so viele Atomkraftwerke abgeschaltet wurden, dass der CO2-Ausstoß steigt, obwohl das Ökostromprogramm zu den besten der Welt gehört.625 Dafür erhielt Angela Merkel einst den Spitznamen »Klimakanzlerin«.

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Die Ansicht, Atomenergie sei verseucht, ist eine fehlgeleitete Klimaparabel, auch wenn sie einer tief greifenden Umwelterkenntnis entspringt - dass die gesunde, reine Natur durch das Eindringen und Eingreifen der menschengemachten Industrie vergiftet wird. Aber die Hauptlehre der Kirche der Technologie zielt in eine andere Richtung; sie vermittelt uns auf subtile und weniger subtile Weise, die Welt außerhalb unserer Smartphones als weniger real, weniger wichtig und weniger bedeutsam einzuschätzen als die Welten, die uns auf diesem Bildschirm erwarten - Welten, die gegen die Klimaverheerungen gefeit sind.

Der Autor Andreas Malm stellt die Frage: »Wie viele Leute werden auf einer Erde, die sechs Grad wärmer ist, Augmented-Reality-Games spielen?«626 Die Lyrikerin und Musikerin Kate Tempest formuliert es schärfer: »Wir starren auf den Bildschirm, damit wir nicht sehen müssen, wie die Erde stirbt.«627

Die ersten Auswirkungen dieser Transformation können wir bereits heute an uns selbst entdecken - wir scrollen durch Fotos unserer Babys, während diese Babys direkt vor uns liegen, lesen sinnlose Twitter-Threads, während unser Partner mit uns spricht. Im Silicon Valley neigen selbst Technologiekritiker dazu, das Problem als eine Art Sucht einzuordnen, aber Sucht enthält immer auch ein Werturteil, auch wenn es in diesem Fall die Nichtsüchtigen sind, die sich unwohl fühlen - wir finden die Welt auf dem Bildschirm lohnenswerter oder auch sicherer, aus Gründen, die so schwer zu erklären und zu rechtfertigen sind, dass es quasi keinen anderen Ausdruck dafür gibt als »wir ziehen sie vor«.

Diese Vorliebe wird in Zukunft wahrscheinlich eher stärker werden als abnehmen, was sich wie ein kultureller Rückschritt anfühlen könnte, vor allem vielleicht für Menschen, die dazu neigen, die Welt auf einen Abgrund zusteuern zu sehen. Es könnte aber auch ein psychologisch sinnvoller Bewältigungsmechanismus sein, um in einer weitgehend zerstörten Umwelt weiterzuleben, ohne die bürgerliche Konsumtradition aufzugeben. In einer Generation - Gott bewahre! - könnte die Technologiesucht sogar eine Anpassungsstrategie sein.

184-215

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 wikipedia  Andreas_Malm  *1977 in Schweden

 

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