3.4 Konsumpolitik
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Am 14. April 2018, einem Samstag, lief ein 60-jähriger Mann kurz vor dem Morgengrauen in den Prospect Park in Brooklyn, übergoss sich mit Benzin und zündete sich an. Neben dem Leichnam, in der Nähe des runden Fleckens, den die Flammen in das Gras gebrannt hatten, lag eine handgeschriebene Notiz: »Ich heiße David Buckel und habe mich gerade aus Protest verbrannt«, stand darauf. »Bitte entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten.«(628) Die hielten sich in Grenzen, er hatte etwas Erde in einem Kreis ausgestreut, damit sich das Feuer nicht ausbreiten konnte.
In einem längeren getippten Brief, den David Buckel auch an die örtlichen Zeitungen geschickt hatte, führte er seine Gründe weiter aus:
»Die meisten Menschen auf der Erde atmen mittlerweile Luft, die durch die fossilen Brennstoffe ungesund geworden ist, und viele sterben vorzeitig daran - mein vorzeitiger Tod durch fossile Brennstoffe spiegelt wider, was wir uns selbst antun ... Die Verschmutzung zerstört unseren Planeten«, schrieb er. »Unsere Gegenwart wird immer verzweifelter, unsere Zukunft braucht mehr, als wir bisher tun.«(629)
Die Amerikaner kennen politisch motivierte Selbstverbrennungen aus der Vietnamzeit, als der buddhistische Mönch Thich Quang Duc die spirituelle Tradition der Selbstreinigung in eine Form des Protests überführte und sich in Saigon verbrannte. Das inspirierte den 31 Jahre alten Quäker Norman Morrison wenige Jahre später dazu, vor dem Pentagon dasselbe zu tun, mit seiner einjährigen Tochter an seiner Seite. [detopia-2023: ... aber in genügend Abstand]. Eine Woche später verbrannte sich der 22 Jahre alte Roger Allen LaPorte, ein ehemaliger Priesterkandidat und Mitglied des Catholic Worker Movement, vor dem Gebäude der Vereinten Nationen.
en.wiki Buckel *1957 en.wiki Morrison *1965 en.wiki LaPorte *1965 wiki Prospect Park in Brooklyn
detopia: Palach-1969 Brüsewitz-1976 Gründler-1977 Theo Kacziynski 2015-Chronik
Wir denken nicht gern daran, aber die Tradition besteht fort. In den USA gab es seit 2014 sechs derartige Selbstverbrennungen; in China ist die Protestform sogar noch verbreiteter, vor allen unter Gegnern der Tibet-Politik der Regierung - in den letzten drei Monaten des Jahres 2011 kam es zu elf solchen Vorfällen, in den ersten drei Monaten 2012 wurden 20 Selbstverbrennungen verzeichnet. Und es war bekanntlich die Selbstverbrennung eines tunesischen Obsthändlers, die den Arabischen Frühling auslöste.
David Buckel wurde erst in seinen späteren Jahren zum Umweltschützer. Er hatte den größten Teil seines Lebens damit verbracht, als prominenter Anwalt für die Rechte von Homosexuellen einzutreten, und sein Abschiedsschreiben legte zwei Überzeugungen dar: dass unsere Industrie die Natur krank macht, und dass deutlich mehr getan werden muss, um diese Entwicklung zu stoppen und möglichst umzukehren, als dem durchschnittlichen Passanten im Prospect Park bewusst war.
In den Tagen nach dem Selbstmord stand vor allem der erste Punkt im Zentrum der Aufmerksamkeit - der Selbstmord wurde als Zeichen oder als Auftakt verstanden, der für einen Umschwung sorgte, vielleicht in Bezug auf die Gesundheit der Erde, aber ganz sicher in Bezug darauf, wie der durchschnittliche Bewohner von Brooklyn das Problem wahrnahm. Die zweite Erkenntnis - dass die Klimakrise ein politisches Engagement verlangt, das weit über das relativ einfache Bekunden von Zustimmung, die gewohnten politischen Lagerkämpfe und einen verantwortungsbewussten Konsum hinausgeht - ist schwieriger zu verdauen.
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Liberale Umweltschützer müssen sich immer wieder vorwerfen lassen, dass sie heuchlerisch leben würden - sei es, weil sie Fleisch essen, fliegen oder grüne Parteien wählen, ohne jemals ein E-Auto gekauft zu haben. Doch innerhalb der politisch bewussten Linken trifft oft auch das Gegenteil zu: Wir lassen uns in unserer Ernährung, unseren Freundschaften und sogar in unserem Unterhaltungskonsum von politischen Fixsternen leiten, schlagen aber nur selten Lärm, wenn es um Dinge geht, die unseren eigenen Interessen und unserem Selbstbild als Individuum entgegenstehen - wahrhaft aufgeklärt also.
Daher wird das Divestment in den kommenden Jahren wohl nur den ersten Schritt in einem moralischen Rüstungswettbewerb zwischen Universitäten, Gemeinden und Staaten darstellen.630 Städte werden darum konkurrieren, welche als erste Autos von ihren Straßen verbannt, jedes Dach weiß streicht oder alle von den Bewohnern verspeisten Nahrungsmittel aus »vertikalem Anbau« bezieht, ohne dass nach der Ernte ein Transport per LKW, Bahn oder Flugzeug nötig wäre.
Doch auch das Ja-aber-nicht-hier-bei-uns-Verhalten wird unter den Liberalen zunehmen, wie zum Beispiel 2018, als die Wähler im zutiefst demokratisch geprägten US-Bundesstaat Washington an der Urne eine CO2-Steuer ablehnten und in Frankreich die wütendsten Proteste seit der Quasirevolution im Jahr 1968 stattfanden - gegen die Erhöhung der Kraftstoffabgaben. Beim Klima trifft vielleicht mehr als in allen anderen Bereichen zu, dass die liberale Haltung der gut situierten aufgeklärten Schicht eine Verteidigungsgeste ist, denn fast unabhängig von der politischen Einstellung und den Konsumentscheidungen gilt: Je mehr Geld man hat, desto größer ist der ökologische Fußabdruck.
Doch wenn die Kritiker von Al Gore seinen Stromverbrauch mit dem des durchschnittlichen Uganders vergleichen, unterstreichen sie damit letztendlich nicht seinen offensichtlichen und heuchlerischen Konsum, so sehr sie den Mann auch bloßstellen wollen. Stattdessen lenken sie die Aufmerksamkeit auf die Strukturen einer politischen und wirtschaftlichen Ordnung, die diese Diskrepanz nicht nur zulässt, sondern sie fördert und davon profitiert - das ist es, was der Wirtschaftswissenschaftler und Autor Thomas Piketty »Rechtfertigungsapparat« nennt.631
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Und er rechtfertigt eine ganze Menge. Wenn die Länder mit dem größten CO2-Ausstoß der Welt, die obersten 10 Prozent, ihre Emissionen nur auf den EU-Mittelwert senken würden, gelangten weltweit 35 Prozent weniger Kohlendioxid in die Atmosphäre. Das erreichen wir nicht durch die Ernährungsentscheidungen einzelner, sondern durch politische Veränderungen. Im Zeitalter der auf Personen ausgerichteten Politik kann Heuchelei wie eine Todsünde wirken, aber sie kann auch ein allgemeines Ziel ausdrücken. Anders formuliert: Bioprodukte zu essen ist gut, aber wer das Klima retten will, sollte lieber wählen gehen. Politik ist ein moralischer Multiplikator. Und die Erkenntnis, dass die Welt krank ist, ohne sich deshalb politisch zu engagieren, führt meist nur zu einer Konzentration auf das eigene »Wohlbefinden«.
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Es fällt zunächst einmal schwer, die Bemühungen um das eigene Wohlbefinden ernsthaft als Bewegung zu betrachten, was möglicherweise der Grund dafür war, dass in den letzten Jahren so viel Hohn und Spott darüber ausgegossen wurde - man denke an Marken wie SoulCycle, Goop oder Moon Juice.632 Doch egal, wie manipulativ die Werbemaßnahmen für diese Produkte und wie zweifelhaft ihre Gesundheitsversprechen sind, das Geschäft mit dem Wohlbefinden zeichnet ein klares Bild davon, dass immer mehr Menschen, auch oder ganz besonders unter denjenigen, die weit von den ersten Ausläufern der Klimakatastrophe entfernt leben, den Eindruck haben, die heutige Welt sei vergiftet und in ihr zu leben oder sich dort wohlzufühlen verlange ein enormes Maß an selbst auferlegten Regeln und Selbstreinigung.
Das, was mit dem Schlagwort »neues New Age« versehen wurde, ist aus einem ähnlichen Empfinden heraus entstanden - dass Meditationen, Ayahuasca-Trips, Kristalle, das Burning-Man-Festival und LSD in Mikrodosen allesamt Zugang zu einer saubereren, pureren, nachhaltigeren und vielleicht vor allem unversehrteren Welt bieten. Dieser Reinheitsdrang wird weiter Zulauf erfahren, vielleicht sogar in enormem Ausmaß, wenn das Klima weiter auf die sichtbare Zerstörung zusteuert - und die Konsumenten darauf reagieren, indem sie sich diesem Morast entziehen, so gut sie können. wikipedia Burning_Man
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Es wäre nicht sonderlich überraschend, wenn man im Supermarkt nächstes Jahr neben den Bio- und Freiland-Produkten auch als »CO2-neutral« etikettierte Artikel fände. Gentechnisch veränderte Organismen sind kein Anzeichen für den schlechten Zustand der Erde, sondern möglicherweise eine Teillösung für die bevorstehende Landwirtschaftskrise, und das Gleiche gilt für die Atomkraft im Energiesektor. Dennoch wird beides von den Reinheitsverfechtern, die immer zahlreicher werden und dabei immer mehr ökologische Ängste auf sich vereinen, fast schon auf eine Stufe mit krebserregenden Stoffen gestellt.
In Zeiten, in denen viele amerikanische Markenprodukte aus Hafer, darunter die Frühstücksflocken Cheerios und Quaker Oats, nachweislich das Pestizid Roundup enthalten, das mit Krebs in Verbindung gebracht wird, und in denen der Nationale Wetterdienst in den USA ausführlich darauf eingeht, welche Atemschutzmasken gegen den Rauch der Waldbrände, die in ganz Nordamerika wüten, hilfreich sind und welche nicht, sind derartige Ängste nachvollziehbar - sogar begründet.633 Mit anderen Worten: Es ist nur zu verständlich, dass das Streben nach Reinheit in unserer Gesellschaft ein Wachstumsbereich ist, der parallel zum Anstieg der Angst vor einer Umweltapokalypse wohl weiter von den Rändern der Gesellschaft ins Zentrum vordringen wird.
Aber sowohl der bewusste Konsum als auch die Reinheitsbewegung sind Ausflüchte, die dem grundlegenden Versprechen des Neoliberalismus entsprungen sind: dass Verbraucherentscheidungen politisches Handeln ersetzen können und nicht nur auf eine politische Identität, sondern auf politische Tugenden verweisen, dass das gemeinsame Endziel der Markt- und der politischen Kräfte darin bestehen sollte, hitzige Debatten zu beenden und dafür einen Marktkonsens zu schaffen, der jeden ideologischen Disput ablöst, und dass jeder von uns in der Zwischenzeit Gutes für die Welt tun kann, einfach indem er im Supermarkt oder anderen Läden das Richtige kauft.
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Der Begriff »Neoliberalismus« ist für die Linke erst seit der Finanzkrise zum Schimpfwort geworden.
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Zuvor diente er meist einfach der Beschreibung der zunehmenden Macht der Märkte, insbesondere der Finanzmärkte, in den liberalen Demokratien des Westens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und der wachsenden Einigkeit der gemäßigten Parteien in diesen Ländern darüber, diese Macht durch Privatisierungen, Deregulierungen, unternehmensfreundliche Steuergesetze und die Ausweitung des Freihandels immer weiter auszudehnen.
Dieses Programm wurde 50 Jahre lang auf dem Rücken des Wachstumsversprechens verkauft - und dabei ging es nicht nur um Wachstum für einige. In diesem Sinne handelte es sich um eine absolute politische Philosophie, die eine einzige, schlichte Ideologie so sehr in die Länge und Breite zog, bis sie die ganze Erde wie eine Gummidecke aus Treibhausgasen umhüllte.
Und sie war auch in anderen Hinsichten absolut: Sie ließ keine Anpassungen zu, um auf bedeutende regionale Unterschiede wie die zwischen der Situation in England nach dem Finanzcrash und der in Puerto Rico nach dem Hurrikan Maria einzugehen, und war nicht in der Lage, ihre vorhandenen Mängel, Widersprüche und blinden Flecken einzugestehen. Stattdessen wurde immer nur nach mehr Neoliberalismus verlangt. So kam es, dass die Kräfte, die den Klimawandel entfesselt hatten - namentlich »die ungebremste Weisheit des Marktes« -, trotzdem als die Kräfte dargestellt wurden, die die Erde vor den Verheerungen retten könnten.
So kam es auch, dass der »Philanthrokapitalismus«, der gleichzeitig Gewinne und humanitäre Taten anstrebt, bei den Superreichen das verlustreiche Modell der moralischen Philanthropie ablöste; dass die Gewinner unserer immer stärker auf das »The winner takes it all«-Prinzip ausgelegten Wirtschaft die Wohltätigkeit benutzen, um ihren Status zu untermauern; dass der »effektive Altruismus«, der selbst den Erfolg von Non-Profit-Organisationen an Kennzahlen bemisst, die aus der Finanzwirtschaft stammen, nicht nur das Spendenverhalten der Milliardäre verändert hat; dass die »moralische Ökonomie«, ein Terminus, der einst eine radikale Kapitalismuskritik enthielt, es auf die Visitenkarte von wohlmeinenden Kapitalisten wie Bill Gates geschafft hat.634
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Am anderen Ende der Hackordnung gehört dazu, dass Menschen, die in schwierigen Verhältnissen leben, dazu aufgefordert werden, sich selbst als Unternehmen zu betrachten und durch ihre Bemühungen ihren Wert als Bürger unter Beweis zu stellen, in einem kräftezehrenden sozialen Gefüge, das sich vor allem durch einen unaufhörlichen Konkurrenzkampf auszeichnet.635
So lautet zumindest die Kritik von links - und sie ist, auf ihre Weise, unbestreitbar zutreffend. Doch indem der Neoliberalismus alle Konflikte und Konkurrenzkämpfe über den Markt regelte, bot er auch ein neues Modell des Geschäftemachens an, sozusagen auf der Weltbühne - eines, das nicht der ewigen Rivalität zwischen Nationalstaaten entsprang oder auf sie hinwies.
Nun darf man nicht Korrelation und Kausalität vertauschen - vor allem, weil nach dem Zweiten Weltkrieg ein so großes Chaos herrschte, dass es schwer ist, einen einzelnen Grund für irgendetwas auszumachen. Aber die kooperative Ordnung, die international seitdem dominiert und vielerorts für Frieden und Wohlstand gesorgt - oder sich zumindest parallel dazu entwickelt - hat, fällt zeitlich sehr genau mit der Herrschaft der Globalisierung und des Finanzkapitals zusammen, die wir heute gemeinsam unter dem Begriff »Neoliberalismus« fassen. Und falls man doch versucht wäre, Korrelation und Kausalität zu vertauschen, gibt es eine ziemlich eingängige und plausible Theorie, die beide Erscheinungen verbindet. Die Märkte bringen, vorsichtig formuliert, Probleme mit sich, aber sie legen großen Wert auf Frieden, Stabilität und, wenn sonst alles gleich bleibt, verlässliches Wirtschaftswachstum. Als Belohnung für die Kooperation winkt also dieses Wachstum - und so verwandelt der Neoliberalismus, zumindest theoretisch, ein ehemaliges Nullsummenspiel in eine Zusammenarbeit, die für beide Seiten von Vorteil ist.
Dieses Versprechen hat der Neoliberalismus allerdings nie eingelöst, wie die Finanzkrise schließlich zeigte. Somit war die rhetorische Standarte einer stetig wachsenden, stetig reicher werdenden Gesellschaft der Fülle - und einer politischen Ökonomie, die auf das gleiche Ziel ausgerichtet war - stark lädiert.
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Diejenigen, die sie trotzdem noch vor sich hertragen, haben heute deutlich zittrigere Knie, als es vor einem oder zwei Jahrzehnten noch denkbar schien, wie Sportler, denen man plötzlich anmerkt, dass ihre Glanzzeiten längst vorüber sind. Die Erderwärmung wird ihnen einen weiteren Schlag versetzen, vielleicht den vernichtenden. Eine Welt, in der Bangladesch überflutet ist und Russland profitiert, verheißt nichts Gutes für den Neoliberalismus - und vielleicht noch weniger für den liberalen Internationalismus, der stets als Adjutant von Ersterem auftrat.
Wohin wird sich die Politik entwickeln, wenn das Wachstumsversprechen der Vergangenheit angehört?
Vor uns tut sich ein ganzes Pantheon von Möglichkeiten auf, etwa dass neue Handelsabkommen auf der Grundlage der moralischen Infrastruktur des Klimawandels abgeschlossen werden, sodass der Warenaustausch von einer Senkung der Emissionen abhängig ist und unerwünschte CO2-Aktivitäten durch Sanktionen bestraft werden. Eine andere Möglichkeit wäre die Einführung eines neuen, weltweit gültigen Regelwerks, das die zentralen Prinzipien der Menschenrechte, die zumindest in der Theorie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gelten, ergänzt oder sogar ersetzt.
Aber der Neoliberalismus wurde damit beworben, dass es sich um ein System zugunsten aller Beteiligten handle, ein Positivsummenspiel, und in diesem Begriff schwingt schon sein natürlicher Nachfolger mit: die Nullsummenpolitik. Wir müssen heute gar keinen Blick in die Zukunft werfen oder daran glauben, dass sie durch den Klimawandel beeinträchtigt sein wird, um zu wissen, wie das aussehen würde. Mit dem Lagerdenken innerhalb unserer Gesellschaften, dem Nationalismus auf Staatenebene und dem Terrorismus, der sich aus dem Zunder gescheiterter Staaten speist, ist diese Zukunft bereits hier, zumindest ein Ausblick darauf. Wir warten nur noch auf den Sturm.
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Wenn der Neoliberalismus der Gott ist, der am Klimawandel gescheitert ist, wie sieht dann der göttliche Nachwuchs aus, den er hervorgebracht hat? Diese Frage stellen sich Geoff Mann und Joel Wainwright im Buch Climate Leviathan: A Political Theory of Our Planetary Future, in dem sie auf ein Konzept von Thomas Hobbes zurückgreifen, um darzulegen, welche politischen Formen ihrer Ansicht nach am ehesten aus der Klimakrise und den daraus folgenden Verwüstungen hervorgehen werden.636
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Hobbes erzählte in seinem Leviathan, wie es durch politische Zustimmung zu dem kam, was er für den grundlegenden Tauschhandel der Staatsgewalt hielt: Die Menschen geben ihre Freiheit auf, um den Schutz des Königs zu erhalten. Die Erderwärmung spiegelt den Möchtegern-Autoritären einen ähnlichen Handel vor: In einer Welt voller neuer Gefahren würden die Bürger gemäß Mann und Wainwright für Sicherheit, Stabilität und eine gewisse Absicherung gegen die Klimaverluste ihre Freiheiten aufgeben, was eine neue Form der Herrschaft hervorbringen würde, die dann für den Kampf gegen die neue Bedrohung durch die Natur zuständig wäre. Diese neue Herrschaftsform werde nicht national, sondern erdübergreifend etabliert sein - nur so könne eine Macht sinnvoll auf eine erdübergreifende Bedrohung reagieren.
Mann und Wainwright sind politisch links einzuordnen und ihr Buch ist in gewisser Weise ein Aufruf zum Handeln, aber der erdübergreifende Herrscher, dem sich die Welt wahrscheinlich zuwenden werde, gestehen sie voller Bedauern ein, wird wohl der sein, der uns den Klimawandel eingebrockt hat - der Neoliberalismus. Genauer gesagt, ein Neoliberalismus, der über den Neoliberalismus hinausgeht, ein wahrer Weltenstaat, der sich fast ausschließlich mit dem Kapitalfluss beschäftigt - eine Ausrichtung, die ihn wohl kaum mit den nötigen Hilfsmitteln ausstatten dürfte, um mit den Schäden und Zerstörungen durch den Klimawandel zurechtzukommen, was sich aber kaum auf seine Autorität auswirken werde. Das ist der »Klima-Leviathan« aus dem Titel, obwohl die Autoren nicht unbedingt glauben, dass sich diese Herrschaftsform unvermeidlich durchsetzen wird. Sie halten auch drei Varianten für vorstellbar. Insgesamt bilden die vier Kategorien eine Matrix für unsere Klimazukunft, die durch die Achsen »Grad des Vertrauens auf den Kapitalismus« einerseits und »Ausmaß der Unterstützung für die Souveränität des Nationalstaats« andererseits bestimmt wird.
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Der »Klima-Leviathan« ist der Quadrant, der durch eine positive Einstellung dem Kapitalismus und eine negative dem Nationalstaat gegenüber bestimmt ist. Ein Szenario ähnlich dem, das wir heute erleben, nennen die beiden Autoren »Klima-Behemoth«; es ist definiert durch die Unterstützung sowohl des Kapitalismus als auch des Nationalstaats (ein wahrhaft erdübergreifender Herrscher).
Die nächste Kategorie heißt »Klima-Mao«, ein System, das von vermeintlich wohlwollenden, aber autoritären und antikapitalistisch eingestellten Anführern bestimmt wird, die ihre Macht innerhalb der Grenzen der Länder ausüben, wie sie heute bestehen.
Der letzte Quadrant befindet sich unten rechts - ein internationales System, das sowohl dem Kapitalismus als auch der Souveränität der Nationalstaaten gegenüber negativ eingestellt ist. Dieses System würde sich als Stabilitäts- und Sicherheitsgarant definieren und die Ressourcen zumindest so verteilen, dass alle genug zum Überleben hätten, die Menschen gegen das Wüten der Extremwetterereignisse beschützen und die unvermeidlichen Konflikte im Zaum halten, die über immer wertvollere Güter wie Nahrungsmittel, Wasser und Land ausbrechen würden. Außerdem würde es die Grenzen zwischen den einzelnen Ländern restlos auflösen und nur seine eigene Macht und Souveränität anerkennen. Diese Möglichkeit nennen die Autoren »Klima-X« und setzen große Hoffnungen in sie: Eine weltweite Allianz, die sich der Humanität verschreibt statt den Interessen des Kapitals oder der Nationalstaaten. Aber es gibt auch eine dunkle Seite - das System könnte einen erdübergreifenden Diktator hervorbringen, eine Art Mafiaboss, der die Welt nicht verbessern will, sondern in erster Linie Schutzgelder erpresst.
Zumindest theoretisch. Schon heute haben wir mindestens zwei Staatschefs, die man dem Klima-Mao-Modell zuordnen kann, und beide sind unvollkommene Repräsentanten des Urkonzepts: Xi Jin-ping und Wladimir Putin sind nicht antikapitalistisch orientiert, sondern auf den Staatskapitalismus fokussiert. Außerdem hegen sie sehr unterschiedliche Ansichten in Bezug auf die Zukunft des Klimas und den Umgang damit, was eine weitere Variable ins Spiel bringt, die über die Art des Regierens hinausgeht: die Klimaideologie.
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Sie ist der Grund dafür, warum zwischen Angela Merkel und Donald Trump, die beide im »Klima-Behemoth«-Bereich anzusiedeln sind, dennoch ganze Welten zu liegen scheinen - auch wenn Deutschlands Zurückhaltung in Bezug auf den Kohleausstieg zeigt, dass es zumindest keine Galaxien sind.
Zwischen China und Russland ist der ideologische Unterschied deutlicher. Putin, der Kommandant eines Petrostaates, der durch seine geografische Lage zufällig auch eines der wenigen Länder der Welt ist, die von der Erderwärmung profitieren dürften, erkennt praktisch keinen Vorteil darin, die CO2-Emissionen zurückzufahren oder sich für eine umweltverträglichere Wirtschaft einzusetzen - in Russland oder der Welt. Xi, der die aufstrebende Supermacht der Erde mittlerweile zeitlich unbegrenzt regieren könnte, scheint sich sowohl dem wachsenden Wohlstand als auch der Gesundheit und Sicherheit seiner Bevölkerung verpflichtet zu fühlen - die, daran muss man sich immer erinnern, sehr zahlreich ist. In der Trump-Ära hat sich China zu einem deutlich entschiedeneren - oder zumindest lauteren - Befürworter der erneuerbaren Energien entwickelt. Aber die Anreize deuten nicht unbedingt daraufhin, dass das Land seine Versprechen auch einlösen wird.
2018 erschien eine interessante Studie, in der betrachtet wurde, wie sich die wirtschaftlichen Auswirkungen des Klimawandels in einem Land im Vergleich zu seiner Verantwortung für die Erderwärmung verhielten, gemessen am Kohlendioxidausstoß.637 Das Schicksal Indiens zeigte, wie grotesk die moralische Logik des Klimawandels ist: Indien dürfte bei Weitem am meisten unter den Verheerungen leiden und fast doppelt so viel ertragen müssen wie das zweite Land auf der Liste, wodurch sein Anteil an der Belastung durch den Klimawandel etwa viermal so hoch ist wie sein Anteil am Verschulden desselben. Bei China ist das Gegenteil der Fall. Dort ist der Anteil an der Klimaschuld viermal so hoch wie der Anteil an den Klimalasten. Das bedeutet leider, dass das Land in Versuchung geraten könnte, die Energierevolution langsam anzugehen.
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Die Vereinigten Staaten, fand die Studie heraus, erreichen ein unheimliches karmisches Gleichgewicht: Die erwarteten Klimaschaden entsprechen fast exakt dem Anteil des Landes am weltweiten CO2-Ausstoß. Das soll aber nicht heißen, dass dieser Anteil gering wäre - die USA wären laut dieser Voraussage das Land, das weltweit am zweitschwersten betroffen wäre.
Seit Jahrzehnten wird nervös der Aufstieg Chinas vorausgesagt, so regelmäßig und auch so verfrüht, dass man es den Bewohnern der westlichen Welt, insbesondere den Amerikanern, eigentlich kaum verdenken kann, dass sie mittlerweile glauben, es handle sich um blinden Alarmismus - einen Ausdruck westlicher Selbstzweifel, eher die Ankündigung eines Zusammenbruchs als eine begründete Voraussage, welche neue Macht auf dem Weg nach oben ist und wann. Doch was den Klimawandel angeht, führt tatsächlich kein Weg an China vorbei. Da die Welt als Ganzes auf ein stabiles Klima angewiesen ist, um zu bestehen und zu gedeihen, hängt ihr Schicksal deutlich stärker von der Emissionsentwicklung in den aufstrebenden Nationen ab als von der in Europa oder den USA, wo der Anstieg bereits nachgelassen hat und wahrscheinlich bald in einen Rückgang umschlägt - auch wenn noch offen ist, wie stark dieser Rückgang ausgeprägt sein wird und wie bald es so weit ist.
Hinzu kommt, dass ein großer Teil der chinesischen Emissionen auf die Herstellung von Produkten zurückzuführen ist, die von Amerikanern und Europäern gekauft werden - das sogenannte »CO2-Outsourcing«. Wer ist für diese Gigatonnen verantwortlich? Das könnte bald mehr als nur eine rhetorische Frage sein, wenn das Klimaabkommen von Paris durch strengere globale Auflagen ersetzt wird, wie es eigentlich beabsichtigt war, und dabei auch ein funktionierendes Durchsetzungsinstrument geschaffen wird, militärisch oder anderweitig.
Wie und wie schnell China der Übergang von der industriellen zur postindustriellen Gesellschaft gelingt, wie und wie schnell die verbleibende Industrie »grün« wird, wie und wie schnell das Land die landwirtschaftlichen Praktiken und die Ernährung in neue Bahnen lenkt, wie und wie schnell es die Konsumenten aus der explodierenden Mittel- und Oberschicht von ihren kohlendioxidintensiven Vorlieben entwöhnt - das sind nicht die einzigen Fragen, die über das Klima des 21. Jahrhunderts entscheiden werden.
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Auch die Entwicklungen in Indien und dem Rest von Südasien, in Nigeria und dem Rest des afrikanischen Kontinents südlich der Sahara spielen eine gewaltige Rolle. Aber China ist im Augenblick das bevölkerungsreichste dieser Länder und das mit großem Abstand wohlhabendste und mächtigste. Durch das Projekt der Neuen Seidenstraße positioniert sich das Land bereits heute als wichtige - in manchen Gebieten zentrale - Kraft für die Industrie-, Energie- und Transportinfrastruktur in weiten Teilen der Entwicklungs- und Schwellenländer.638 Und es ist nicht schwer, sich auszumalen, dass am Ende eines chinesischen Jahrhunderts ein weltweiter Konsens darüber herrschen könnte, dass das Land mit der weltgrößten Wirtschaftsleistung (und somit der größten Verantwortung für den Energieverbrauch der Erde) und der größten Bevölkerung (und somit der größten Verantwortung für die Gesundheit und das Wohlergehen der Menschheit) in Bezug auf die Klimapolitik der »Staatengemeinschaft« mehr als die begrenzte Macht haben müsste, die einem einzelnen Land zusteht.
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All diese Szenarien, selbst die verheerendsten, setzen ein neues politisches Gleichgewicht voraus. Doch es gibt natürlich auch die Möglichkeit, dass es nicht dazu kommt und stattdessen ein Zustand eintritt, den wir normalerweise als »Chaos« oder »Kampf« bezeichnen. So lautet die Analyse des deutschen Soziologen Harald Welzer in seinem Buch Klimakriege, in dem er für die kommenden Jahrzehnte eine »Renaissance« der gewalttätigen Konflikte voraussagt.639 Der prägnante Untertitel lautet: Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird.
Schon heute ist der politische Kollaps auf lokaler Ebene ein recht gängiges Resultat der Klimakrise - nur dass wir ihn »Bürgerkrieg« nennen. Und wir neigen dazu, diese Konflikte ideologisch einzuordnen - wie in Darfur, Syrien oder im Jemen. Derartige Zusammenbrüche werden wahrscheinlich weiterhin lokal begrenzt bleiben, statt sich auf die wirklich globale Ebene zu verlagern, auch wenn es in Zeiten der Klimakrise schneller passieren könnte, dass sie sich über die alten Grenzen hinweg ausbreiten, als es in der jüngeren Vergangenheit der Fall war.
Anders formuliert: Eine Welt wie in Mad Max steht uns in naher Zukunft nicht bevor, da selbst ein katastrophaler Klimawandel die politische Macht nicht komplett untergraben wird - im Gegenteil, er wird relativ betrachtet einige Gewinner hervorbringen. Manche von ihnen verfügen über große Armeen und einen Überwachungsstaat, der immer weiter ausgebaut wird - China nutzt heute Gesichtserkennungssoftware, um Kriminelle auf Popkonzerten aufzuspüren, und setzt Spionagedrohnen ein, die nicht von Vögeln zu unterscheiden sind.640 Dass eine solche aufstrebende Supermacht ein Niemandsland innerhalb ihrer Grenzen toleriert, erscheint unwahrscheinlich.
Anderenorts sind Mad-Max-Regionen aber durchaus denkbar. In gewisser Weise gibt es sie bereits, im vergangenen Jahrzehnt zum Beispiel zu bestimmten Zeiten in Teilen von Somalia, dem Irak oder dem Südsudan, auch zu Zeiten, als die geopolitische Situation der Welt von Los Angeles oder London aus betrachtet stabil schien.
Die Idee einer »Weltordnung« war immer ein Stück weit Fiktion, oder zumindest ein theoretisches Konzept, auch wenn das Zusammenwirken aus liberalem Internationalismus, Globalisierung und US-amerikanischer Hegemonie uns im letzten Jahrhundert in diese Richtung geführt hat. Diese Entwicklung wird der Klimawandel im kommenden Jahrhundert ziemlich sicher wieder umkehren.
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III. Klimakaleidoskop / Konsumpolitik 215-228