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II. - Elemente des Chaos   

   2.7 -  Sterbende Meere  

 

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Wir neigen dazu, die Ozeane als unergründlich zu betrachten, als das, was auf unserer Erde dem Weltall am nächsten kommt: dunkel, abweisend und - vor allem in der Tiefe - ziemlich seltsam und geheimnisvoll. »Wer kennt den Ozean?«, fragte die Biologin und Schriftstellerin Rachel Carson in ihrem Essay »Undersea«, bereits 25 Jahre, bevor sie sich in dem Buch Der stumme Frühling der Zerstörung der Erde durch den Menschen und industriell produzierte »Allheilmittel« zuwandte.376

»Weder Sie noch ich, mit unseren erdgebundenen Sinnen, kennen den Schaum und die Brandung der Gezeiten, die über die in den Gewächsen ihres heimatlichen Gezeitentümpels versteckte Krabbe hinweg­rollen, oder den Klang der langen, schwerfälligen Wogen in der Mitte der Meere, wo Schwärme wandernder Fische fressen und gefressen werden und der Delfin durch die Wellen bricht, um die Luft darüber zu atmen.«

Aber das Meer ist nicht »das andere«; wir sind es. Das Wasser ist kein Strandspielzeug für Landbewohner: Es bedeckt 70 Prozent der Erdoberfläche und ist damit der mit großem Abstand vorherrschende Lebensraum des Planeten.377 Zu dem, was die Ozeane tun, gehört neben vielen anderen Dingen auch, dass sie uns ernähren: Weltweit liefert uns das Meer fast ein Fünftel der tierischen Proteine, die wir zu uns nehmen, und in den Küsten­regionen kann dieser Wert deutlich höher liegen.378 Außerdem erhalten die Ozeane unsere Jahreszeiten, durch prähistorische Strömungen wie den Golfstrom, und regulieren die Temperatur auf der Erde, indem sie einen Großteil der Sonnenwärme aufnehmen.

Vielleicht müsste es besser »ernährten«, »erhielten« und »regulierten« heißen, denn die Erderwärmung droht alle diese Funktionen zu unterlaufen. Schon heute sind einige Fischbestände auf der Suche nach kälterem Wasser Hunderte Kilometer nach Norden gezogen - die Flunder hat sich 400 Kilometer von der amerikanischen Ostküste entfernt, und die Makrele lebt jetzt so weit weg vom europäischen Festland, dass die Fischer, die es auf sie abgesehen haben, sich nicht mehr an die Vorgaben der Europäischen Union halten müssen.379 Eine Untersuchung, die sich mit den Auswirkungen des Menschen auf das Leben im Wasser beschäftigt hat, fand heraus, dass nur 13 Prozent der Weltmeere noch unbeeinträchtigt sind und manche Bereiche der Arktis sich durch die Erwärmung so stark verändert haben, dass die Wissenschaftler sich fragen, wie lange sie die Gewässer noch als »arktisch« bezeichnen können.380

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Und so sehr der Anstieg des Meeresspiegels und die Überschwemmungen der Küstenregionen unsere Ängste in Bezug auf die Auswirkungen des Klimawandels auf die Ozeane der Erde auch dominiert haben, sollte uns doch viel mehr als nur das Sorgen bereiten.

Im Augenblick wird mehr als ein Viertel des Kohlendioxids, das der Mensch ausstößt, von den Meeren geschluckt, ebenso wie 90 Prozent der überschüssigen Wärme, die in den letzten 50 Jahren durch den Klimawandel entstanden ist.381 Die Hälfte dieser Wärme ist seit 1997 absorbiert worden, und heute transportieren die Ozeane mindestens 15 Prozent mehr Wärmeenergie als noch im Jahr 2000 - sie haben allein in diesen zwei Jahrzehnten dreimal mehr Energie aufgenommen, als alle fossilen Brennstoffe der Erde enthalten.

Doch dieses zusätzliche Kohlendioxid, das im Wasser gelöst ist, führt zur sogenannten »Versauerung der Meere«, was genau das ist, wonach es klingt, und sich bereits jetzt in einigen Gewässern der Erde ausbreitet - also dem Ort, wo das Leben auf diesem Planeten ursprünglich überhaupt erst entstand. Durch die Auswirkungen auf das Phytoplankton, das eine schwefelhaltige Substanz in die Luft abgibt und dadurch die Wolken-bildung beeinflusst, könnte die Versauerung allein die Erderwärmung um einen Viertelgrad bis einen halben Grad verstärken.

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Wahrscheinlich haben Sie schon einmal von der »Korallenbleiche« - das heißt dem Korallensterben - gehört: Durch das wärmere Meerwasser stoßen die Riffe die Zooxanthellen genannten Protozoen ab, die die Koralle durch Fotosynthese mit bis zu 90 Prozent der Energie versorgen, die sie braucht.382 Jedes Riff ist als Ökosystem so komplex wie eine moderne Stadt, und die Zooxanthellen liefern die Nahrungsmittel, die Grundsteine der Energieversorgung. Wenn sie verschwinden, wird der gesamte Komplex mit militärischer Effizienz ausgehungert, ähnlich wie eine belagerte oder vom Nachschub abgeschnittene Stadt. Seit 2016 ist die Hälfte des berühmten Great Barrier Reefs in Australien auf diese Weise abgestorben.383

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Solche großflächigen Ereignisse nennt man »Massenbleiche«, und eines davon fand in den Jahren zwischen 2014 und 2017 überall auf der Erde statt.384 Schon heute sind so viele Korallen eingegangen, dass sie eine ganz neue Schicht im Ozean bilden, in einer Tiefe von 30 bis 150 Metern unter der Wasseroberfläche, die Forscher mittlerweile die »Twilight Zone« nennen.385 Laut dem World Resources Institute gefährdet die fortschreitende Erwärmung und Versauerung der Ozeane bis 2030 90 Prozent aller Korallenriffe.386

Das sind sehr schlechte Nachrichten, weil diese Riffe einem Viertel aller Meereslebewesen als Heimat und einer halben Milliarde Menschen als Nahrungs- und Einkommensquelle dienen.387 Außerdem schützen sie bei Stürmen vor Überflutungen - eine Funktion, die viele Milliarden Dollar wert ist.388 Der Wert der Riffe vor den Küsten von Indonesien, den Philippinen, Malaysia, Kuba und Mexiko beläuft sich in dieser Hinsicht im Moment auf jährlich mindestens 400 Millionen Dollar - jeweils.389

Doch die Versauerung der Meere setzt den Fischbeständen auch direkt zu. Obwohl sich die Forscher noch nicht sicher sind, wie genau sich dieser Prozess auf das, was wir aus dem Meer holen, auswirkt, wissen sie, dass die Schale von Austern und Muscheln im sauren Wasser schlechter wächst und dass der steigende Kohlendioxidgehalt den Geruchssinn der Fische schädigt - auch wenn viele Leute noch nie von ihm gehört haben, dient er den Tieren oft zur Navigation.390 Vor den Küsten Australiens sind die Fischbestände in nur zehn Jahren um geschätzt 32 Prozent geschrumpft.391

Eine mittlerweile weitverbreitete Ansicht lautet, dass wir in einem Zeitalter des Massenaussterbens leben - einer Periode, in der das menschliche Handeln die Geschwindigkeit, in der Arten von der Erde verschwinden, um einen Faktor von möglicherweise tausend gesteigert hat.392 Außerdem liegt man wohl nicht falsch, wenn man sagt, dass unsere Epoche von einer »Anoxifizierung« der Ozeane gekennzeichnet ist.393 Im Verlauf der vergangenen 50 Jahre hat sich die Menge des Meerwassers, in dem keinerlei Sauerstoff zu finden ist, weltweit vervierfacht;394 es gibt jetzt insgesamt mehr als 400 solcher umgekippten »Todeszonen«.

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Die sauerstofflosen Bereiche sind um mehrere Millionen Quadratkilometer angewachsen, grob um die Fläche Europas, und in Hunderten von Küstenstädten breitet sich nun der Gestank einer sauerstoffarmen Brühe aus. Das liegt zum Teil an der Erderwärmung, da sich in wärmerem Wasser weniger Sauerstoff löst. Ein weiterer Grund ist schlichte Verschmutzung - im Golf von Mexiko entstand kürzlich eine über 20.000 Quadratkilometer große Todeszone, weil der Mississippi chemische Düngemittel aus den landwirtschaftlichen Gebieten im Mittleren Westen ins Meer spült. 2014 kam es am Erie-See zu einem wenig überraschenden giftigen Vorfall, als die Düngemittel der Mais- und Sojabetriebe in Ohio eine Algenblüte auslösten, sodass die Stadt Toledo von ihrer Trinkwasserquelle abgeschnitten war. Und 2018 entdeckte man im Arabischen Meer eine Todeszone von der Größe Floridas - so gewaltig, dass die Forscher glaubten, sie könnte den gesamten 165.000 Quadratkilometer großen Golf von Oman betreffen, der siebenmal größer ist als die Todeszone im Golf von Mexiko. »Das Meer erstickt«, sagte der renommierte Biochemiker Bastien Y. Queste.395

Ein dramatischer Rückgang des Sauerstoffgehalts der Meere hat bei vielen der schlimmsten Massenaussterben auf der Erde eine Rolle gespielt, und die Prozesse, durch die sich die Todeszonen ausweiten - und so das Leben im Meer auslöschen und Fischereigewässer zerstören -, sind nicht nur im Golf von Mexiko bereits weit fortgeschritten, sondern auch vor der Küste Namibias, wo vor einem über 1500 Kilometer langen Streifen Land, der unter dem Namen Skelettküste bekannt ist, Schwefelwasserstoff aus dem Meer aufsteigt.396 Der Name der Küste bezog sich einst auf die Überreste von Schiffswracks, ist aber heute treffender denn je. Schwefel­wasserstoff ist einer jener Stoffe, von denen die Forscher vermuten, dass sie durch eine Reihe von Rückkopplungen das Massenaussterben am Ende des Perms ausgelöst haben. Das Gas ist so giftig, dass die Evolution uns darauf abgerichtet hat, schon kleinste, ungefährliche Spuren davon zu riechen - deshalb reagieren unsere Nasen so empfindlich auf Blähungen.

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Und dann wäre da noch die mögliche Verlangsamung des »globalen Förderbandes«, des gewaltigen Kreislaufsystems, das aus dem Golfstrom und anderen Strömungen besteht und das wichtigste Mittel der Erde ist, um die regionalen Temperaturen zu regulieren.

Wie das funktioniert? Wenn das Wasser des Golfstroms ins Europäische Nordmeer gelangt, kühlt es sich durch die kalte Luft dort ab, wodurch sich seine Dichte erhöht und es auf den Meeresgrund sinkt und vom nachfolgenden Wasser - das ebenfalls vom Golfstrom nach Norden befördert wurde, sich abkühlt und dann sinkt - nach Süden gedrückt wird, bis in die Antarktis, wo das kalte Wasser wieder an die Oberfläche zurückkehrt, sich erwärmt und erneut die Reise nach Norden antritt. Eine solche Runde kann 1000 Jahre dauern.397

Als das globale Förderband in den 1980er-Jahren zum Forschungsobjekt wurde, gab es Ozeanografen, die befürchteten, es könne zusammenbrechen, was zu einem massiven Ungleichgewicht der klimatischen Verhältnisse auf der Erde führen würde - die heißen Regionen würden noch viel heißer werden, die kalten viel kälter. Ein Totalausfall wäre eine unvorstellbare Katastrophe, auch wenn seine Auswirkungen auf den ersten Blick täuschend harmlos aussehen - kältere Temperaturen in Europa, mehr Extremwetter, ein zusätzlicher Anstieg des Meeresspiegels. In diesem Zusammenhang fällt stets der Begriff »Day After Tomorrow«-Szenario, und es ist eine seltsame Fügung des Schicksals, dass ein derartig vernachlässigbarer Film diesem Worst-Case-Szenario seinen einprägsamen Namen gegeben hat.

Allerdings macht sich kein ernst zu nehmender Wissenschaftler Sorgen, dass das in der vom Menschen zu überblickenden Zukunft eintreten könnte. Doch wenn es um eine Verlangsamung des Förderbandes geht, sieht es schon anders aus. Bereits heute hat der Klimawandel die Geschwindigkeit des Golfstroms um 15 Prozent reduziert, eine Entwicklung, die es den Forschern zufolge »im letzten Jahrtausend nicht gegeben hat« und die ein Grund dafür sein könnte, warum der Meeresspiegel an der Ostküste der USA so viel stärker ansteigt als anderswo in der Welt.398

2018 lösten zwei wichtige Aufsätze neue Befürchtungen über das Förderband aus, genauer gesagt über die sogenannte atlantische meridionale Umwälzbewegung, die so langsam vonstattengeht wie noch nie in den letzten 1500 Jahren.399

So weit hätte es selbst nach den Berechnungen pessimistischer Wissenschaftler eigentlich erst 100 Jahre später kommen sollen; die Entwicklung stellt das dar, was der Klimaforscher Michael E. Mann unheilvoll einen »Kipppunkt« nennt.400 Und natürlich ist damit noch kein Ende der Veränderungen in Sicht: Die Transformation der Meere durch die Erwärmung macht diese unbekannten Gewässer doppelt rätselhaft; die Ozeane der Erde verwandeln sich, bevor wir je in der Lage waren, ihre Tiefen und das darin beheimatete Leben zu ergründen.

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