Anmerk    Start           

II  Elemente des Chaos  

  2.8 - Verpestete Luft   

 

119-128

Unsere Lungen brauchen Sauerstoff, aber er macht nur einen Teil unserer Atemluft aus, und dieser Teil wird geringer, je mehr Kohlendioxid sie enthält. Das bedeutet nicht, dass wir Gefahr laufen, zu ersticken - dafür ist doch zu viel Sauerstoff da -, aber wir werden leiden. Wenn der Kohlendioxidgehalt 930 ppm erreicht (mehr als doppelt so viel wie heute), schränkt das unsere kognitiven Fähigkeiten um 21 Prozent ein.401

Im Inneren von Gebäuden, wo sich das Kohlendioxid ansammeln kann, machen sich seine Auswirkungen stärker bemerkbar - deshalb fühlt man sich nach einer langen Zeit in einem geschlossenen Raum oft ein bisschen wacher, wenn man einen kurzen Spaziergang macht. Und es ist ein Grund dafür, warum der Kohlendioxidgehalt in Grundschulklassenzimmern gemäß einer Studie bereits jetzt durchschnittlich über 1000 ppm beträgt, in fast einem Viertel der in Texas untersuchten Räume sogar über 3000 ppm - ziemlich beunruhigende Zahlen, zieht man in Betracht, dass es sich dabei um eine Umgebung handelt, in der die Denkleistung gefördert werden soll.402

Aber die Zustände in den Klassenzimmern sind nicht die schlimmsten: Andere Untersuchungen haben noch höhere Werte in Flugzeugen ermittelt, was zu Auswirkungen führt, an die Sie sich wahrscheinlich aus eigener Erfahrung noch müde erinnern können.

Dabei ist Kohlendioxid mehr oder weniger das geringste Problem. Unsere Atemluft wird in Zukunft nicht nur wärmer, sondern auch schmutziger und drückender sein und uns schneller krank machen. Dürren haben direkte Auswirkungen auf die Luftqualität, sie erzeugen das, was heute unter dem Begriff »Staubbelastung« bekannt ist und in den USA zu Zeiten der Dust-Bowl-Krise »Staub-Lungenentzündung« genannt wurde. Der Klimawandel wird in den damals betroffenen Gebieten für neue Staubstürme sorgen, sodass die Staubverschmutzung laut Berechnungen mehr als doppelt so viele Todesopfer und mehr als dreimal so viele Einweisungen ins Krankenhaus zur Folge haben wird.403

Je heißer der Planet wird, desto mehr Ozon bildet sich, und gegen Mitte des Jahrhunderts wird die Anzahl der Tage, an denen die Amerikaner unter dem ungesunden Ozonsmog leiden, um 70 Prozent angestiegen sein, wie das National Center for Atmospheric Research ermittelt hat.404 2090 könnten ganze zwei Milliarden Menschen auf der Erde Luft atmen müssen, die die Grenzen dessen überschreitet, was die Weltgesundheitsorganisation für »sicher« befunden hat.405 Schon heute fordert die Luftverschmutzung täglich 10.000 Opfer - also pro Tag deutlich mehr Menschen, als je durch Kernschmelzen in Atomkraftwerken ums Leben kamen.406

Das ist allerdings natürlich kein überzeugendes Argument für die Kernkraft, da der Vergleich hinkt: Es gibt viel, viel mehr Schlote, die schwarzen Kohlequalm in die Luft speien, als Kernkraftwerke mit ihren Kühltürmen und den daraus aufsteigenden weißen Rauchschwaden. Aber es ist ein beunruhigendes Anzeichen dafür, wie mächtig das Regime der Kohlenstoffverschmutzung wirklich ist, die sich wie eine giftige Umarmung um den ganzen Planeten legt.

In den vergangenen Jahren haben Wissenschaftler Stück für Stück aufgedeckt, welch ein Unheil verbleites Benzin und bleihaltige Farben in den letzten 50 Jahren still und heimlich in unser Leben getragen haben: Überall, wo sie benutzt wurden, haben sie die Anzahl von geistigen Behinderungen und die Kriminalitätsrate nach oben getrieben, während das Bildungs- und das Einkommensniveau drastisch sanken.

120


Die Auswirkungen der Luftverschmutzung scheinen aber bereits jetzt noch schlimmer zu sein. Feinstaubverschmutzung verringert, einigen Forschern zufolge, die kognitive Leistungsfähigkeit mit der Zeit »immens«: Würde die Verschmutzung in China auf die Grenzwerte der US-amerikanischen Umweltbehörde heruntergefahren, würde das die Ergebnisse in sprachlichen Fächern um 13 Prozent und die in mathematischen um acht Prozent verbessern.407 (Auch ein Temperaturanstieg hat übrigens einen belastbaren und negativen Einfluss auf die Noten: Prüflinge schneiden schlechter ab, wenn es draußen wärmer ist.408)

Luftverschmutzung ist mit mehr psychischen Erkrankungen bei Kindern und einem erhöhten Demenzrisiko bei Erwachsenen in Verbindung gebracht worden.409 Ein hoher Verschmutzungsgrad in dem Jahr, in dem ein Kind zur Welt kommt, verringert seine Chancen auf ein gutes Einkommen und eine erfolgreiche Teilnahme am Erwerbsleben im Alter von 30 Jahren,410 und der Zusammenhang zwischen der Verschmutzung und Frühgeburten sowie einem niedrigen Geburtsgewicht ist so ausgeprägt, dass die einfache Einführung eines elektrischen Erfassungssystems anstelle von Mautschranken in amerikanischen Städten diese Raten in der Umgebung der Mautstellen um 10,8 bzw. 11,8 Prozent reduziert hat, einfach nur, weil so die Abgase vermieden werden, die durch das Abbremsen der Autos entstanden.411

Und dann gibt es da noch die bekannteren Gefahren, die die Verschmutzung für unsere Gesundheit bedeutet.

2013 bewirkte das Schmelzen des arktischen Eises eine Veränderung der Wetterlage in Asien, sodass die Industrie­regionen Chinas plötzlich von den natürlichen Luftzirkulationsmustern abgeschnitten waren, von denen sie mittlerweile so abhängig sind, und ein Großteil des Nordens von einem gesundheitsgefährlichen Smog bedeckt war.412 Der recht schlicht wirkende Luftqualitätsindex (Air Quality Index; AQI) gibt die Gefahr auf einer eigens erstellten Skala an, in die eine Reihe von Verschmutzungsfaktoren einfließen: Ab einem Wert zwischen 51 und 100 wird gewarnt, und ab 201 bis 300 droht »ein signifikanter Anstieg der Atemprobleme in der gesamten Bevölkerung«.

121


Die höchste Stufe ist bei Werten zwischen 301 und 500 erreicht, bei denen mit »ernsten Verschlechterungen des Gesundheitszustands von Menschen mit Herz- oder Lungenerkrankungen und dem vorzeitigen Tod von Patienten mit Herz-Lungen-Erkrankungen und älteren Menschen« zu rechnen ist, sowie mit einer »schwerwiegenden Gefahr für die gesamte Bevölkerung, Atemprobleme zu erleiden«. Ist diese Stufe erreicht, sollten alle Menschen »jegliche Anstrengungen außer Haus meiden«. Bei der chinesischen »Airpokalypse« im Jahr 2013 wurde der Maximalwert fast um das Doppelte übertroffen, der Luftqualitätsindex lag bei 993,(413) und Wissenschaftler, die sich mit dem Phänomen beschäftigten, meinten, dass China unbeabsichtigt eine ganze neue und bisher unbekannte Art von Smog erfunden hatte, eine Kombination aus der als »Erbsensuppe« bezeichneten Verschmutzung aus den Zeiten der europäischen Industrialisierung und der Feinstaub­verschmutzung, die sich in jüngster Zeit in weiten Teilen der Entwicklungsländer ausgebreitet hat.414 In jenem Jahr forderte der Smog in China 1,37 Millionen Todesopfer.415

Außerhalb von China betrachteten die meisten Menschen die Fotos und Videos einer Welthauptstadt, die von einer derart dicken grauen Wolke bedeckt war, dass nicht einmal mehr die Sonne hindurchdrang, nicht als Hinweis auf den Zustand der Erdatmosphäre, sondern nur auf die Rückständigkeit dieses einen Landes - sie lasen daraus ab, wie weit China hinter dem Lebensstandard der ersten Welt hinterherhinkte, egal was das enorme Wirtschaftswachstum für Chinas Platz in der internationalen Hackordnung bedeutete. Doch 2017, dem Rekordjahr der Waldbrände in Kalifornien, war die Luft rund um San Francisco schlechter als am gleichen Tag in Peking.416 In Napa erreichte der Luftqualitätsindex einen Wert von 486. In Los Angeles gab es einen Ansturm auf Mundschutzmasken, in Santa Barbara konnten die Bewohner die Asche händeweise aus den Abflussrohren schöpfen. Im folgenden Jahr sorgten Waldbrände in Seattle dafür, dass es für alle Bewohner in der gesamten Stadt gefährlich war, die Luft im Freien zu atmen.417 Die panische Angst um die eigene Gesundheit lieferte den Amerikanern einen weiteren Grund, die Situation in Neu-Delhi zu ignorieren, wo der Luftqualitätsindex 2017 auf 999 stieg.418

122


In der indischen Hauptstadt leben 26 Millionen Menschen. 2017 war das schlichte Atmen in der Stadt gleichbedeutend damit, mehr als zwei Schachteln Zigaretten am Tag zu rauchen, und die dortigen Kranken­häuser verzeichneten einen Anstieg der Patientenzahlen um 20 Prozent.419 Die Teilnehmer des Halbmarathons in Neu-Delhi liefen mit weißen Masken vor dem Gesicht. Und eine derartig hohe Luftverschmutzung ist auch in anderer Hinsicht gefährlich: Die Sichtweite war so gering, dass es auf den Autobahnen der Stadt zu Auffahrunfällen kam und die Fluggesellschaft United ihre Flüge von und nach Neu-Delhi absagte.420

Neue Untersuchungen zeigen, dass die Gefahr einer Atemwegserkrankung selbst dann drastisch erhöht ist, wenn man der Feinstaub-belastung nur für kurze Zeit ausgesetzt ist - je zehn zusätzliche Mikrogramm pro Kubikmeter erhöhen die Anzahl der Diagnosen um 15 bis 32 Prozent.421 Auch der Blutdruck steigt. 2017 gingen weltweit neun Millionen vorzeitige Todesfälle auf die Verschmutzung durch Feinstaub zurück, berichtet die medizinische Fachzeitschrift The Lancet, mehr als ein Viertel davon in Indien.422 Und da lagen die Zahlen für die Zeit mit den höchsten Werten jenes Jahres noch nicht einmal vor.

In Neu-Delhi entsteht ein Großteil der Verschmutzung durch Brände auf den umgebenden Feldern; doch an vielen Orten ist der Feinstaub-Smog eher auf Diesel- und andere Abgase und die Industrie zurückzuführen. Der Schaden, den er in der Bevölkerung anrichtet, trifft unterschiedslos jeden, weil er den Menschen an fast all seinen Schwachstellen angreift: Die Verschmutzung sorgt für mehr Schlaganfälle, Herzinfarkte, Krebserkrankungen jeder Art, akute und chronische Atemwegsbeschwerden wie Asthma sowie Komplikationen in der Schwangerschaft, darunter auch Frühgeburten.423

Neue Forschungen, die sich mit den Auswirkungen auf das Verhalten und die Entwicklung befassen, sind vielleicht noch beunruhigender: Sie stellen einen Zusammenhang zwischen Luftverschmutzung und Gedächtnisproblemen, Aufmerksamkeitsstörungen, Wortschatzschwäche, ADHS und Autismus her.424 Es ist belegt, dass die Verschmutzung die Entwicklung der Neuronen im Gehirn beeinträchtigt und dass unsere DNS in der Nähe von Kohlekraftwerken mit der Zeit deformiert werden kann.425

123


In der industrialisierten Welt überschreiten die Luftwerte in 98 Prozent der Städte die Grenzen dessen, was die Weltgesundheitsorganisation für sicher befunden hat.426 Doch auch wer die Stadt verlässt, hat es kaum besser: 95 Prozent der Weltbevölkerung atmen gefährlich verschmutzte Luft.427 China unternimmt seit 2013 beispiellose Bemühungen, die Luft zu säubern, aber im Jahr 2015 kostete die Verschmutzung immer noch jährlich eine Million Chinesen das Leben.428 Weltweit ist jeder sechste Todesfall auf die Luftverschmutzung zurückzuführen.429

#

Diese Art von Verschmutzung ist im Grunde nichts Neues; schon bei Charles Dickens lassen sich Andeutungen finden, wie giftig der Smog ist und wie gefährlich die dreckgeschwärzte Luft, auch wenn der Autor wohl kaum als Umweltaktivist gelten kann. Doch wir entdecken jedes Jahr mehr und mehr Hinweise darauf, wie die Industrie die Erde vergiftet.

Besonders alarmierend ist eine anscheinend ganz neue - oder neu entdeckte - Form der Verschmutzung: Mikroplastik. Die Erderwärmung hat das Mikroplastik nicht direkt mit sich gebracht, aber dennoch ist seine rasche Ausbreitung in der Natur zu einem unwiderstehlichen Lehrstück darüber geworden, welche Art von Veränderungen mit dem Begriff »Anthropozän« gemeint ist und in welchem Ausmaß die florierende Konsumkultur dafür verantwortlich ist.

Jeder, der sich für Umweltschutz interessiert, kennt vermutlich den »großen pazifischen Müllstrudel« - den Teppich aus Plastikmüll, der doppelt so groß ist wie Texas und im Pazifik herumschwimmt.430 Genau genommen handelt es sich dabei nicht um einen zusammenhängenden Teppich. Die Formulierung macht es uns nur leichter, es uns vorzustellen. Außerdem besteht die Masse hauptsächlich aus größeren Plastikteilen, die mit bloßem Auge zu sehen sind. Doch die mikroskopisch kleinen Bestandteile - ein einziger Durchlauf einer Waschmaschine kann bis zu 700.000 davon in die Umwelt spülen - sind tückischer.431

124


Und - kaum zu glauben, aber wahr - noch verbreiteter: Ein Viertel des Speisefisches, der in Indonesien und Kalifornien verkauft wird, enthält laut einer kürzlich erschienenen Studie Plastik.432 Europäer, die Muscheln essen, nehmen Schätzungen zufolge jährlich 11.000 Stückchen Mikroplastik zu sich.433

Die direkten Auswirkungen des Plastiks auf das Leben im Meer sind noch schlimmer.

Die Anzahl der Meerestierarten, denen die Plastikverschmutzung zusetzt, ist von 260 im Jahr 1995, als eine erste Untersuchung durchgeführt wurde, auf 690 im Jahr 2015 und auf 1450 im Jahr 2018 angestiegen.434 Ein Großteil der Fische aus den Great Lakes, die getestet wurden, enthielt Mikroplastik, und auch in den Eingeweiden von 73 Prozent der Fische aus dem Nordwestatlantik wurde es gefunden.435 Eine Untersuchung in britischen Supermärkten ergab, dass je 100 Gramm Muscheln 70 Plastikpartikel enthielten.436 Manche Fische haben gelernt, Plastik zu essen, und bestimmte Krillsorten fungieren mittlerweile als Plastikverarbeiter und zerlegen Mikroplastik in noch kleinere Stücke,437 die von den Wissenschaftlern als »Nanoplastik« bezeichnet werden.438 Aber der Krill kriegt nicht alles klein: In der Nähe von Toronto landeten kürzlich in einem Bereich von einer Quadratmeile Wasser 3,4 Millionen Mikroplastikpartikel in den Netzen.439 Natürlich sind auch die Seevögel nicht dagegen gefeit: Eine Forscherin fand 225 Stücke Plastik im Magen eines drei Monate alten Kükens.440 Sie machten 10 Prozent seiner Körpermasse aus - das ist ungefähr so, als schleppe ein Mensch fünf bis zehn Kilogramm Plastik in seinem Bauch mit sich herum. (»Stellen Sie sich einmal vor, Sie müssten mit dem Zeug im Magen Ihren ersten Flug aufs Meer hinaus unternehmen«, meinte die Wissenschaftlerin zur Financial Times und fügte hinzu: »Die Anzahl der Seevögel geht weltweit stärker zurück als die aller anderen Vögel.«)

Mikroplastik ist in Bier, in Honig und in 16 von 17 getesteten Sorten im Handel vertriebenen Meersalzes gefunden worden, in acht verschiedenen Ländern.441 Je mehr wir testen, desto mehr finden wir; und obwohl noch niemand weiß, wie sich das Mikroplastik auf den Menschen auswirkt, gilt jeder Plastikpartikel im Meer als eine Million Mal gefährlicher als das Wasser, das ihn umgibt.442

125


Es besteht die Gefahr, dass wir auch in unseren Körpern Plastik finden würden, wenn wir sie nach dem Tod aufschneiden und darauf untersuchen würden - wie es nun vermehrt in Bezug auf die Tau-Proteine geschieht, die möglichen Auslöser von CTE und Alzheimer. Wir können Mikroplastik einatmen - selbst im Inneren von Gebäuden, wo man die Teilchen ebenfalls in der Luft entdeckt hat - und nehmen es bereits jetzt beim Trinken auf: Es findet sich im Leitungswasser von 94 Prozent der amerikanischen Städte, die darauf getestet wurden.443 Und die weltweite Plastikproduktion soll sich bis 2050 verdreifachen - dann gibt es im Meer mehr Plastik als Fische.444

Die Plastikpanik steht in einem seltsamen Verhältnis zum Klimawandel, da sie sich aus den Warnungen über die bevorstehende Zerstörung des Planeten speist, aber gleichzeitig auf etwas ausgerichtet ist, das kaum etwas mit der Erderwärmung zu tun hat. Doch es sind nicht nur die CO2-Emissionen, die sich auf den Klimawandel auswirken, sondern auch andere Formen der Verschmutzung. Eine der Verbindungen ist recht vage: Plastik wird industriell hergestellt, was für Verschmutzung sorgt, auch durch Kohlendioxid. Eine zweite ist direkter, aber nur von geringer Bedeutung, wenn man das große Ganze betrachtet: Wenn Plastik sich zersetzt, wird Methan und Ethylen frei, ein weiteres, sehr wirksames Treibhausgas.445

Eine dritte Verbindung zwischen der Temperatur der Erde und der Verschmutzung durch andere Stoffe als Kohlendioxid ist jedoch viel beängstigender. Dabei geht es nicht um Plastik, sondern um Aerosole - unter diesem Oberbegriff werden alle Partikel zusammengefasst, die in unserer Atmosphäre schweben.446 Im Grunde senken sie die Temperatur der Erde, vor allem, weil sie Sonnenlicht ins All reflektieren. Anders ausgedrückt: Alle Schmutzteilchen, die wir jenseits des Kohlendioxids aus unseren Kraftwerken, Fabriken und Autos in die Luft blasen - und die einige der größten und reichsten Städte der Welt ersticken lassen und große Mengen von Menschen, die noch Glück gehabt haben, ins Krankenhaus befördern, aber auch viele Millionen anderen einen frühzeitigen Tod einbringen -, all diese Teilchen wirken skurrilerweise der Erderwärmung, die wir gerade erleben, entgegen.

126/127


Wie sehr? Wahrscheinlich geht es um etwa einen halben Grad - vielleicht aber mehr. Schon heute haben Aerosole so viel Sonnenlicht von unserem Planeten zurückgeworfen, dass die Erderwärmung im industriellen Zeitalter nur zwei Drittel dessen beträgt, was sonst der Fall gewesen wäre.447 Hätten wir es irgendwie geschafft, seit dem Beginn der industriellen Revolution die gleiche Menge an Kohlendioxid in die Atmosphäre zu blasen, den Himmel dabei aber frei von Aerosolverschmutzung zu halten, läge der Temperaturanstieg heute um 50 Prozent höher.

Das führt zu einem Dilemma, meint der niederländische Klimaforscher und Nobelpreisträger Paul J. Crutzen,448 oder, um es mit den noch prägnanteren Worten des Klimajournalisten Eric Holthaus zu sagen,449 zu einem »Pakt mit dem Teufel«:

Wir haben die Wahl zwischen einer die Gesundheit aller gefährdenden Luftverschmutzung einerseits und einem Himmel, der den Klimawandel, gerade weil er so klar ist, drastisch beschleunigt. Wenn wir gegen die Verschmutzung vorgehen, retten wir jährlich Millionen Menschen das Leben, versetzen aber gleichzeitig der Erderwärmung einen starken Schub, auf 1,5 bis zwei Grad über der vorindustriellen Temperatur - also in Richtung der Zwei-Grad-Grenze, die lange Zeit als rote Linie zwischen einer lebenswerten Zukunft und der Klimakatastrophe galt.450

#

Mit diesem Phänomen befassen sich Ingenieure und Zukunftsforscher nun seit fast einer Generation, ebenso wie mit der Idee, die globalen Temperaturen durch schwebende Partikel bewusst niedrig zu halten - das heißt die Luft absichtlich zu verschmutzen, um den Planeten abzukühlen. Derartige Überlegungen werden oft unter dem Begriff Geoengineering zusammengefasst und gelten in der Bevölkerung meist als Worst-Case-Szenario, fast als Science-Fiction - sie prägen dementsprechend auch viele Werke dieses Genres, die sich in jüngerer Zeit mit der Klimakrise beschäftigt haben. Trotzdem steht das Konzept bei den besorgtesten unter den Klimaforschern extrem hoch im Kurs, von denen viele daraufhinweisen, dass keines der recht bescheidenen Ziele des Pariser Klimaabkommens ohne die - momentan noch unbezahlbaren - negativen Emissions­techno­logien zu erreichen ist.

Die Kohlendioxidabscheidung mag noch in die Kategorie »magisches Denken« fallen, aber für die kruderen Technologien gilt: Wir wissen, dass sie funktionieren. Statt Kohlendioxid aus der Atmosphäre zu saugen, könnten wir Schmutzpartikel in den Himmel schießen - in der vielleicht am ehesten durchführbaren Version wäre das Schwefeldioxid. Das würde unseren Sonnenuntergang deutlich röter färben, den Himmel ausbleichen lassen und für mehr sauren Regen sorgen. Außerdem würde die Maßnahme wegen der Folgen für die Luftqualität jedes Jahr Zehntausende Leben kosten.451 Ein Artikel aus dem Jahr 2018 legt nahe, dass sie das Amazonasgebiet austrocknen würde, was deutlich mehr Waldbrände zur Folge hätte.452

Laut einem anderen Artikel aus demselben Jahr würden die negativen Auswirkungen auf das Pflanzenwachstum den positiven Effekt auf die Erdtemperatur wieder zunichtemachen. Anders formuliert: Zumindest in Bezug auf den landwirtschaftlichen Ertrag brächte diese Art des Geoengineerings unterm Strich keinerlei Nutzen mit sich.453

Wenn wir damit einmal anfangen, dürften wir nie wieder aufhören. Schon eine kurze Unterbrechung, eine zeitweilige Auflösung des roten Schwefelschirms, könnte die Erde sprunghaft um ein paar Grad erwärmen und sie damit in die Klimakatastrophe befördern. Somit wären die Apparaturen, die diesen Schirm aufrechterhalten, sehr anfällig für politische Machtspielchen und Terrorismus, wie selbst die Befürworter eingestehen. Dennoch betrachten viele Forscher das Geoengineering als unverzichtbar - es sei eben so günstig zu haben. Schon ein Milliardär, der sich voll und ganz dem Klimaschutz verschreibt, könnte eine solche Maßnahme durchführen.

128

#

 

www.detopia.de      ^^^^