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2.6 - Conditio humana

 Als Top-Parasit auf verlorenem Posten  

      Nicht das Gefühl — der Verstand geht durch    

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Das Patriarchat als Bewußtseinsverfassung ist eine sehr fundamentale, aber immer noch nicht die letzte, tiefste Ebene in der "Geologie" des Exterminismus. Reicht es doch, was seine Grundlage, die Polarität der Geschlechter betrifft, direkt in den Gattungs­ursprung und noch weiter zurück. Von dorther tritt es ja ab einem bestimmten Stadium kultureller Entwicklung in den Anläufen aller Ethnien als offenbar vorangelegte Tendenz des menschlichen Geistes auf. So müssen wir seine Verwurzelung im menschlichen Genotyp, im Gattungs­charakter des "Hirntiers" annehmen. Der Mann bzw. das Männliche fungiert vorübergehend als privilegiertes Organ der Gattungsevolution.

Mit dem Patriarchat bricht der Mensch aus der zyklischen Verlaufsform seiner "Vorgeschichte" aus, in der die soziale Evolution noch so langsam verlief, daß sie mit einem Mythos der ewigen Wiederkehr vereinbar war. So überlappen sich im Patriarchat Geschichte und Anthropologie, progressive civitas humana und dauernde conditio humana. Von der letzteren hebt der Pfeil der Entwicklung ab.

Die Nahtstelle zwischen dem partriarchalen Niveau der Selbstausrottungslogik und der anthropologischen Disposition, die den exterministischen Exzeß erlaubt, läßt sich kaum besser kennzeichnen als mit dem Hinweis Walter Schubarts: "Das vital schwächere Wesen siegt, indem es sich auf die geistige Seite verlegt ... Ebenso wie der Mensch über das Tier siegt der Mann über die Frau."82

Wenn dieser zweite Sieg schon eine ungeheuer folgenreiche Tatsache ist, die in alle "höheren" exterm­inistischen Strukturen tragend hineinwirkt — fundamentaler noch ist der erste Sieg, ist die conditio humana selbst: Der Mensch - Mann und Frau - siegt über das Tier, macht sich die Erde untertan, indem er sich auf die geistige Seite verlegt.

Es liegt in der menschlichen Natur, d.h. in der gesamten Art und Weise, wie der Mensch funktioniert, wie er mit seiner Ausstattung in den Zusammenhang hineingestellt ist, und nicht erst in spezifisch bösen Verhaltens­weisen, ein Verhängnis. 

Erst aus diesem Grunde sind wir auf die Frage gestoßen, "warum Gott das Böse zugelassen hat". Gott, den es in dieser Eigenschaft, als personalen Schöpfer und Verantwortlichen, gar nicht gibt, sondern der so aufgefaßt nur die Projektion unseres Problems mit uns selbst und mit dem Leben ist (wir schließen aus unserer personalen Verantwortlichkeit auf eine analoge Struktur des Kosmos).

In der Tat ist, von uns aus gesehen, nach den Kategorien, mit denen wir an die Welt herangehen, auch mancher außermenschliche Vorgang "böse". Spätestens fängt es im Tierreich an, mit dem Fressen und Gefressen­werden. Voltaire hat sogar gegen das Erdbeben von Lissabon protestiert. Der vorgestellte Schöpfer ist schon "schuld", weil er das "Uhrwerk" überhaupt in Gang gesetzt hat, wie auch die biologische Nahrungs­kette, in der sich fühlende Wesen gegenseitig verschlingen.

Wenn wir schließlich, vegetarianisch, auf den Gedanken kommen, der Katze das Mausen abgewöhnen zu sollen — um theoretisch "konsequent" zu sein, bevor wir es praktisch uns selbst abgewöhnt haben, Fleisch zu essen —, so projizieren wir nur unsere besondere menschliche Situation. Nur für uns gibt es hier Probleme

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Der Yogi, der sich bemüht, keine Ameise zu zertreten, verhält sich keineswegs naturgemäß. Hätten wir nicht vom Baum der Erkenntnis gegessen, würden wir also nicht absichtlich Tiere töten, so kämen wir nicht auf den Gedanken, auch unabsichtliches Töten vermeiden zu wollen oder vielmehr die Bewußtheit so weit zu treiben, daß auch das unabsichtliche Töten als absichtliches erscheint: "Wir haben wissentlich nicht die Aufmerksamkeit aufgebracht, die notwendig gewesen wäre, das Unglück der anderen Kreatur zu vermeiden."

Gewaltfreiheit ist die äußerste Kulturleistung, die uns von unserer spezifischen Naturausstattung, von unserer overkill-Kapazität als "Hirntier" zugemutet wird. Zugleich ist die Gewaltfreiheit das äußerste an Willentlichkeit. Nur wer schläft, sündigt nicht. Sobald wir wach sind, müssen wir bewußt sein. Und wenn die ältesten Weisen zu dem Schluß gekommen sind, wir sollten nicht oder doch so wenig wie möglich tun, so ist das auch eine Art, dem Fluch entgehen zu wollen, dauernd aufmerksam sein zu müssen. Und doch hat unsere Geschichte an einen Punkt geführt, wo sie uns Gewaltfreiheit in diesem äußersten Sinne für unser Überleben abzuverlangen scheint. 

Das bedeutet, entweder müssen wir allesamt Yogis werden, fähig und bereit, sobald wir wach sind, voll bewußt zu sein. Das wird natürlich in mehr als einer Hinsicht nicht aufgehen. Oder wir müssen uns solche Institutionen schaffen, mehr: eine solche Kultur einrichten, die uns erneut von der Notwendigkeit dieser Daueraufmerksamkeit, dieser Hellwachheit entlastet, so daß wir auch in der neuen Situation einer als endlich erkannten Erde abschalten, also wieder unbefangen leben dürfen.

Arthur Koestler* hat in seinem m.E. nur halb durchdachten Buch vom Menschen als "Irrläufer der Evolution" einige Verwirrung gestiftet. Er meinte, alle Weltverbesserer, die "begnadeten Reformer", an denen "es nie einen Mangel" gab, hätten sich in der Interpretation der Ursachen geirrt, "die den Menschen zwangen, aus seiner Geschichte ein solches Jammertal zu machen". Ihr grundlegender Irrtum habe darin bestanden, "daß man die ganze Schuld dem Egoismus, der Gier und der angeblichen Destruktivität des Menschen, daß heißt, der selbstbehauptenden Tendenz des Individuums" zuschob.83

 Arthur Koestler bei detopia 

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Nach Koestler wurzelt die Tragödie des Menschen nicht in seiner Aggressivität — worin ich ihm zustimme —, sondern in seiner "Hingabe an über­persön­liche Ideale ..., nicht in einem Exzeß der individuellen Selbst­behauptung, sondern in einer Funktions­störung der integrativen Tendenzen", d.h. in dem konformistischen Geist der Gruppenzu­gehörigkeit. 

Diese Überlegung führt ganz in die Irre, weil Ideale doch oft gar nicht jenseits des Egoismus stehen, gar nicht wirklich überpersönlich sind.

Und wurzelt die Tragödie wirklich darin, daß die Leute alles mitmachen? Die meiste Zeit leben sie doch in diesem Gruppengeist, und es ist damit an sich nichts darüber gesagt, wie gut oder wie schlecht, worin sie also gerade konform sind. Überhaupt stehen sich "selbstbehauptende" und "integrative" Tendenzen nicht wie Ich und Gruppe gegenüber, sondern als Tendenzen im Ich, das eben zunächst noch mehr dem Kollektivum angehört als sich selbst. Der Gruppengeist ist die erste massenhafte objektive Manifestation des menschlichen Geistes (der sich auf Symbole, auf Sprache stützt). Aus dieser Sphäre erst arbeitet sich — ungleichzeitig und besonders in Krisenzeiten lange noch rückfallbereit — allmählich das reflexive, selbstbewußte Ich geschichtlich heraus, und zwar patriarchal, wie angedeutet.

Bedarf es denn nicht für die Exzesse des Hasses gegen Fremde und Andere, für die Exzesse der Grausamkeit und Destruktivität gerade mehr als nur konformistischer Unselbständigkeit, Abhängigkeit des noch nicht voll zu sich selbst befreiten Individuums? Solche "überpersönlichen Ideale" müssen ja erst einmal charismatisch gesetzt werden, ehe sie möglicherweise als "Erlaubnis" zum Auslaß atavistischer Emotionen fungieren! 

Wilber84) weist auf Erkenntnisse hin, wonach zu Gewalt führender Haß fast völlig ein kognitives und begriffliches Produkt ist, das weit über bloße biologische Aggression hinausreicht. Ideale sind gleichfalls Ich-Instanzen, die die eigene Teilheit, Begrenztheit kompensieren sollen. Dann aber bleibt es eine Frage der Kapazitäten, der persönlichen Kräfte und der um die bestimmten Individuen angesammelten objektiven Mächte, wer nun mitlaufen und wer führen wird.

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Auch wenn das Ich sich seiner selbst noch nicht völlig bewußt ist — und zwar schon auf der früheren, "magischen" Entwicklungsstufe des Bewußtseins —, treten bereits bewußtseinsmäßig bedingte Machtungleichgewichte auf. Ideale haben machtvolle Repräsentanten. Es macht gar keinen Sinn, dualistisch "selbstbehauptende" und "integrative" Tendenzen gegenüberzustellen und dieses Schema quer durch ganz verschiedene geschichtliche Stufen zu ziehen. Sie sind korrelative Seiten des einen Weltbemächtigungs­prozesses, auf den die menschliche Verfassung im Ganzen angelegt ist, durch den sie jedenfalls hindurchgeht. Egoismus, Gier usw. pflegen sich ausgezeichnet mit Idealen zu vertragen, in die sie hineinschlüpfen und in denen sie sich verstecken können.

Die ganze Unterscheidung zwischen Ich und Gruppe setzt stillschweigend eine Menschheit voraus, in der die Konkurrenz um mehr Sicherheit, um mehr Befriedigung, mehr Komfort, mehr Macht und mehr Bedeutsamkeit, die mit dem Intellekt als Werkzeug ausgetragen wird, schon der entscheidende Entwicklungsantrieb ist. Je mehr Individualität, je mehr Geist, desto machtbestimmter die ganze Geschichte, und es hängt zuletzt nur sekundär auch noch davon etwas ab, wie weit sich die Menschen irrational mitreißen lassen und wie weit ihre durch Unterdrückung um so mehr verböste psychische Unterwelt dabei zum Zuge kommt.

Aufgebrochen ist dieser Vulkan immer schon nur dann, wenn eine soziale Gesamtstruktur ineffizient und destruktiv geworden war, die ursprünglich von ihr verbürgten Befriedigungen nicht mehr sicherte und die inzwischen weiter erstarkte Individualität beengte. In allen diesen Fällen handelt es sich um Katastrophen, die nicht das Tier in uns verursacht, sondern die mit der Dynamik der Großhirnprozesse und ihrer zunehmenden Objektivierung in Sprache, Sozialstruktur, Staat usw. zusammenhängen.

Gleich das erste Werk abendländischer politischer Wissenschaft, des Thukydides <Peloponnesischer Krieg>, hatte anthropologisch argumentiert: Es gehe im geschichtlichen Ringen der Menschen um die zwei Urantriebe Herrschaft und Freiheit, die natürlich in den Selbst­durchsetzungs­ansprüchen ihre gemeinsame Wurzel haben. Er meinte, so wie in diesem barbarischen "Weltkrieg" der Griechen würde es sich stets wiederholen, solange die menschliche Natur sich gleich, also in diesem Dilemma befangen bliebe. Es zu überwinden wäre also die Richtung der Rettung.

In Wirklichkeit aber bezeichnet die "menschliche Natur" des Thukydides nur eine bestimmte Stufe in der Evolution des "Hirntieres". Diese Evolution ist nicht zu Ende — falls unsere Spezies ihre jetzige Krise übersteht.

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    Als Top-Parasit auf verlorenem Posten     

 

Selbstverständlich liegt das Problem in der Gesamtverfassung unserer Gattung, nicht im Großhirn für sich. Es ist aber die Natur des Menschen, dieses übergewichtige Organ zu besitzen. In diesem Sinne ist sie "schuld", auch wenn sie selbst von diesem Organ frustriert und vergewaltigt werden kann. Der Geist war von Anfang an ein kompensatorisches Machtinstrument, und wir mußten die Flucht nach vorn in die Kultur antreten. Wir stehen unter Aktionszwang, und so sind Kultur und Zivilisation zu einem Prozeß wachsender Aufrüstung gegen alle Risiken des Lebens geworden. 

Wir meinen immer noch zu wenig zu arbeiten, zu wenig Außenwelt zu verändern, wir werden nie mit der Vorratswirtschaft fertig, auch im Geistigen nicht — wir speicherten zeitig schon in unseren Tempeln und Kirchen auch Gott. Wir sind besorgte Jäger geblieben, haben nie genug. Das alles schlägt nun gegen uns um. Unser Streben nach Sicherheit, nach Ausschaltung jeglichen Lebensrisikos bringt uns den Tod.

Man könnte sagen: Unsere ältesten Schichten "stören", weil wir mit unserem neuen Großhirn auf ihre Wahrnehmungen und Erregungen reagieren können und das häufig inadäquat, weil angstbesetzt oder zu interessiert tun. Unser Überbau ist "Sicherheitspolitiker", läßt die "von unten" drängenden Energien nicht fließen, blockiert sie, lenkt sie um, beschränkt dadurch zu oft sich selbst. Gelänge es nun, diese Instanz so souverän zu machen, wie sie ja gern sein möchte, brächten wir es dahin, daß unsere Vernunft an ihre Kapazität auch glaubt, daß sie also zulassen kann, was aus den älteren Schichten andrängt, ohne fürchten zu müssen, davon überschwemmt zu werden — dann hätten wir vielleicht die Tür offen in die nächste Phase der Evolution.

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Unser Geist ist empirisch unfrei, nämlich durch Phylogenese und Geschichte, Ontogenese und Sozial­isation bestimmt. Schon gar nicht kann er frei werden durch Unterdrückung seiner Gewordenheiten. Alles deutet darauf hin, daß er bislang nicht fertig wird mit Traumatisierungen, die zur Folge haben, daß ihm die Welt, das Universum nicht freundlich oder wenigstens neutral, sondern gefährlich bis feindlich erscheint. Die Traumatisierungen, um die Geburt herum besonders konzentriert, haben sich mit dem Fortschritt der Kultur eher verstärkt, wahrscheinlich schon dadurch, daß sie bewußter wurden, ohne voll bewußt zu werden. Hier sind Erlösungen nötig und möglich.

Unser Weg beginnt unvermeidlich unter der Ägide absoluter mütterlicher Macht. Und zu der langen Kindheits­phase, in der wir durch unsere vergleichsweise ungeheure Abhängigkeit geprägt werden, tritt dann mit dem Aufstieg zur Moderne hinzu, daß die Aufzuchtpraktiken immer kälter werden, bis zuletzt das im Krankenhaus entbundene Kind den so entscheidenden nachgeburtlichen Mutterkontakt fast völlig hat entbehren müssen.85)

Was in der frühkindlichen Phase durch die technokratische Kultur zusätzlich verdorben wird, wiegt um so schwerer vor dem Hintergrund der Forschungen über den Geburtsprozeß aus den letzten Jahrzehnten. Stanislav und Christina Grof* etwa haben nachgewiesen, was einem im Nachhinein auch der gesunde Menschen­verstand sagen kann, daß die Erfahrungen während der Schwangerschaft und beim Geburtsvorgang den Charakter viel grundlegender bestimmen als die später daran anknüpfenden biographischen (Sozial­isations-) Einflüsse.86

Das Material der Grofs offenbart, wie weit schon hier über unsere dunklen, grausamen und perversen Tendenzen, über die Färbung unseres ganzen In-der-Welt-Seins vorentschieden wird. Aber das Ergebnis ist nicht unkorrigierbar. Grofs jetzt vorliegende Gesamtdarstellung <Geburt, Tod und Transzendenz>, eine Synthese der ganzen Entwicklung der humanistischen und transpersonalen Psychologie, zeigt, wie sich in der Befreiung von den jeweils individuellen "Geburtsmatrizen", durch die Wiederholung im "Rebirthing", einer Erfahrung von Tod und Wiedergeburt, auch die spirituelle Dimension eröffnet, und zwar, bedeutungs­voll genug, ganz ohne patriarchale Askese. 87

Stan Grof bei detopia  

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Es gibt gewiß nicht nur diese eine Lösung. Doch für mich handelt es sich hier um einen der hoffnungsvollsten und aussichtsreichsten Ansätze, der ökologischen Krise zu entkommen, Menschen in ein besseres Verhältnis zur Welt zu bringen. Offenbar ist es möglich, auf eine befreiende Weise das innere Kräfteverhältnis zwischen aggressiven und antagonistischen Impulsen einerseits, liebenden und solidarischen Motiven andererseits wesentlich zu verändern. Die Anpassung der tantrischen Traditionen an unsere westlichen Bedingungen, eine kulturelle Bemühung im selben Feld, weist in die gleiche Richtung.

 

All die kontaktschwachen Strukturen, auf die die an Wilhelm Reich anknüpfende Bioenergetik (etwa Lowen's) hingewiesen hat und die so typisch für unsere abstraktionistische Verstandeskultur sind, erzeugen massen­haft unglückliches Bewußtsein, das wiederum in einen immer unerträglicheren Weltzustand umgesetzt wird. Wenn es keine positiven, glückversprechenden Angebote gibt, werden die mit der ökologischen Krise verbundenen Einschränkungen und Verzichte das psychosoziale Übel, die emotionale Pest nur noch vermehren.

Wir sind in unserem Erkennen, Fühlen und Handeln nicht vom objektiven, sondern vom subjektiven Geist geleitet, von unserem selbstbesorgten Ego, dessen spezifischerer Ausdruck der rationalistische Dämon ist. Mit diesem Ego sind wir in einer Grundposition, aus der heraus wir nicht lebensrecht und lebensecht agieren können. Der objektive Beobachter blieb eine abstrakte Teilperson, apart vom Menschen, der diese Rolle immer wieder spielen muß, sobald er ein halbwegs gegen seine unmittelbaren Interessen abgeschottetes Experiment machen kann und den dafür vorgesehenen Raum betreten hat.

Deshalb hat es die Wissenschaft nie zum Range einer anderen Theologie gebracht. Der Experimentator jagt nicht nach Wahrheit im großen Sinne, nicht nach der Rekonstruktion des Ganzen, die die Rekonstruktion Gottes wäre, sondern bloß nach Splitterwissen. So hat die moderne Wissenschaft die Kirche zugleich beerbt und blieb unendlich hinter ihr zurück, weil sie im Egotrip ihrer Adepten steckenblieb.

Geht es um Teileroberungen, hat sich der rationalistische Dämon ideal eingerichtet. Betrachtet man aber den Geist als Organ des Ganzen und seiner lang­fristigen Interessen, so kann man sich kaum eine unvorteilhaftere Position als die des spezialisierten Verstandes vorstellen, die er so ostentativ bezogen hat. 

Wilhelm Reich bei detopia 

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Er gleicht einer ausgefahrenen Antenne — auf der letzten Außenverzweigung des Menschheits­unternehmens. In dieser Position verabsolutiert er unsere ohnehin schon überentwickelte Besonderheit. Ehe nicht der ganze Baum umfällt, wird die Antenne, auf die fernste Galaxis gerichtet, gar nicht merken, daß der Nachschub für die Expedition gefährdet ist, daß die "Bodenstation" weggesackt ist. Ohne zu moralisieren: Wir sind de facto Parasiten, und zwar an der Spitze einer Hierarchie von Parasiten.

In gewissem Sinne kann man das Leben überhaupt als "parasitär", als ausbeuterisch und entropie­vermehrend für die mineralische Welt ansehen. Es gibt da von Anfang an keine vollständige "Kreislaufwirtschaft". Analog verhält sich dann das tierische zum pflanzlichen Leben und, darüber rückvermittelt, zum anorganischen Bereich (denken wir zur Veranschaulichung an den vielfachen pflanzlichen, den Getreideaufwand für die tierische Eiweißproduktion). Darüber erhebt sich der Mensch, darüber der Mann. Zwar gibt der je "höhere" Parasit immer auch etwas zurück, aber auf der Grundlage der Ausbeutung.

Ein Erkenntnisproblem aber tritt, bis hierher, noch nicht hervor, weil bis hin zum archaischen Mann das Gleichgewicht noch von Grund auf gesichert, die jeweils tragende Schicht quasi unendlich, die Störkapazität der getragenen gering und bei einem Schritt zu weit ja lediglich selbstgefährdend scheint. Aber der Mensch und noch mehr der Mann hat von Anfang an verstanden, sich gegen die Rückschläge zu schützen.

Kultur bedeutet, daß wir uns hinter Mauern zurückziehen und Schutzschicht über Schutzschicht setzen. Zuerst steht dann die Stadt über dem Land, und eine oder mehrere abgehobene herrschende Kasten oder Klassen stehen über beidem. Heute kennen wir den "primären", "sekundären", "tertiären" und "quartären" Sektor. Erst über dem allen stehen die Steuerungszentralen: Banken, Laboratorien, Staat. Die Laboratorien der Natur­wissen­schaft betrachten das Ganze nach wie vor als peinlich zu befragendes und zu diesem Zwecke zu zersplitterndes und zu zerschneidendes Objekt; und dort kümmert man sich in der Regel überhaupt nicht um das Grundverhältnis des Top-Parasiten zu seinem um eine ganze Treppe von jeweils subjektiven, selbstinteressierten Reglern entfernte Basis.

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Der Unterschied zwischen "selbstbehauptenden" und "integrativen" Tendenzen ist ökologisch betrachtet solange irrelevant, wie sich beides auf diesen sozialen Circus maximus bezieht. Denn solange handelt es sich nicht um Erkenntnis der Natur bzw. der Gleichgewichtsbedingungen zwischen Gesellschaft und Natur, Geist und Natur, sondern um ein einziges Pandämonium abgeleiteter Interessen, die — das ist der exterministische Clou — sich von der je sie tragenden Ebene losgerissen haben, so daß sich der gesamte Bau der Kultur herrschaftlich von oben auf den eigentlichen Wirt bezieht. Auch die Naturwissenschaft ist von Ausbeutungs-, nicht hauptsächlich von Erkenntnisinteressen geleitet, alles andere — Gesellschafts­wissenschaften, Geldwesen, die politische Sphäre, Künste, soweit sie vornehmlich nach Brot gehen — ist überhaupt nur binnenkulturell orientiert.

Man weiß, daß in sozialen Hierarchien die Rückkopplung von unten nach oben nie mithält, so daß die Spitze alles zu spät erfährt. Ganz analog hat sich die Menschheit insgesamt installiert — über ihre prominentesten Faktoren habe ich in den vorigen Kapiteln gesprochen: Sie bilden (Mann, Weißes Imperium, Kapital, Megamaschine) die Stufenpyramide der Selbstausrottung. Und deren Basis ist, wie ich nun abschließend skizziere, die conditio humana selbst.

Diesen parasitären Grundzug der menschlichen Existenz können wir nur vom Ursprung her unter Selbst­kontrolle nehmen — oder gar nicht. Am Ursprung aber ist das Gehirn Organ des fühlenden Körpers. Zugleich ist in ihm angelegt, Geist, der sich verselbständigen kann, zu produzieren, also die Hauptaktivität der jeweils den Kulturprozeß bestimmenden, führenden Kräfte, der Eliten, auf abgehobene Ebenen zu verlagern und von deren Sekundär­interessen her die primären zu vergewaltigen und auszubeuten.

Die vertikale Arbeitsteilung und die ganz besondere Spezialisierung der Spitzenfunktionen — so daß wir dort Wissenschaftler, aber keine Menschen; Manager, aber keine Menschen; Politiker, aber keine Menschen haben —, womit also nie die grundlegenden, stets nur die besonderen, das Prestige dieser Teilfunktionäre konstituierenden Interessen herrschen können — ist das Verhängnis unserer Kommunikation über die Realität, die infolgedessen zu einem ständigen, gar keiner gesonderten Absprache bedürftigen Komplott gerät. Positionelle Interessen gehen automatisch vor. Wohin das Boot im ganzen treibt, ist strukturell, ist systematisch ausgeblendet.

Aber in allgemeinen, der sozialen Synthesis dienenden Funktionen sind menschlich-allzumenschliche Maximen des "Selbst­behauptungsprinzips" wie "Das Hemd ist mir näher als der Rock" und "Lieber der Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach" die reine Selbstmordphilosophie. Sie waren in keiner Hochkultur an dieser Stelle zulässig, signalisierten, wenn sie dort auftraten, die Klimax des Verfalls. 

Vielleicht ist es möglich, dies erst einmal als Faktum gelten zu lassen, auch wenn es in der diesbezüglich grundverkommenen Moderne noch kein Beispiel für eine gelungene Institutionalisierung von Verantwortungs­ethik gibt. 

Aber Not macht erfinderisch (und wenigstens das Prinzip des Dienstes an einem visionär intendierten Ganzen scheint derzeit wieder aufzukommen — ausgerechnet in der Sowjetunion).

 

Mit unserer Naturverfassung als "Hirntier" sind drei zusammenhängende Faktoren verbunden, mit denen wir gewohnheitsmäßig so identifiziert sind, daß wir sie gar nicht hinterfragen, die aber zusammen blind in die Sackgasse dieses Parasitismus hineinführen und uns im Grade unseres Gattungserfolges immer gefährlicher werden.

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 Ken Wilber bei detopia    

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