Kerstin Eitner

Greenpeace-Magazin 1999

 

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Utopiebuch


 

 

"Morgenwelten"

 

Dieser Tage haben Rückblicke Hochkonjunktur.  (detopia-2024: Wegen Jahrhundertwechsel) Die Fülle dessen, was die Medien uns an Chroniken, Einschätzungen und Analysen allein zum letzten Jahrhundert bieten, ist über­wältigend. Ausblicke in die Zukunft sind dagegen naturgemäß dünner gesät. Es gibt jedoch Menschen, die sich von Berufs wegen mit Ereignissen am Rande unseres Zeithorizonts auseinandersetzen:

Science Fiction-Autoren.

Guten SF-Schriftstellern geht es nicht um bahnbrechende Erfindungen, gigantische Raumschiffe, grüne Männchen oder dramatische interstellare Schlachten. Sie interessiert vielmehr, welchen Einfluss die sich verändernde Technosphäre auf das soziale und ethisch-moralische Verhalten der Menschheit hat.

Auch ohne Kristallkugel und Kaffeesatz: Die Autoren haben oft ein seismographisches Gespür für künftige Entwicklungen bewiesen. Als Beispiel kann die Ökologie dienen, denn die Science Fiction nahm die Umwelt­problem­atik schon ins Visier, bevor die breite Öffentlichkeit darüber zu diskutieren begann.

Ehrbare Vertreter der Zunft haben über die Grenzen des Genres hinaus bekannte Klassiker verfasst: Mary Shelleys Frankenstein oder der moderne Prometheus, geschrieben 1816 und Vorläufer aller modernen Science Fiction-Romane, Jewgenij Samjatins Wir, Aldous Huxleys Schöne neue Welt oder George Orwells 1984

Sie handeln vom Machbarkeitswahn der Wissenschaft, von der düsteren Kehrseite des Kollektivismus, von Retortenmenschen und einem übermächtigen Überwachungsstaat handeln. Was darin Fiktion zu sein schien, hat zum Teil auf beunruhigende Art und Weise Gestalt angenommen.

Werfen wir einen Blick zurück in die Zukunft.

  Chaos, Gift und dicke Luft: Die Flammenschrift an der Wand 

Die ätzende Luft brannte in seiner Kehle; er vermochte sich geradezu vorzustellen, wie das zarte Gewebe rauh, dick und ledern wurde. Wenn die Arbeit mich zwingt, künftig regelmäßig nach Los Angeles zu fahren, muss ich mir eine Filtermaske kaufen. Zum Teufel mit der Sorge, verweichlicht auszusehen.  (John Brunner: Schafe blicken auf, 1972)

Schon ab Mitte der sechziger bis weit in die siebziger Jahre hinein, lange bevor es in Deutschland eine Grüne Partei gab, wandten Autoren und Autorinnen wie der 1997 verstorbene Brite John Brunner (Schafe blicken auf und Morgenwelt), die Amerikaner Alan Dean Foster (Die denkenden Wälder), Daniel Keyes (Kontakt radioaktiv), Ursula K. Le Guin (Das Wort für Welt ist Wald) und Kate Wilhelm (Hier sangen früher Vögel) sich in ihren Romanen und Erzählungen den Themen Umweltzerstörung und Überbevölkerung zu.

John Brunners Menetekel Schafe blicken auf erschien im selben Jahr, als der Club of Rome erstmals die Grenzen des Wachstums aufzeigte, und verdichtet aus sehr unterschiedlichen Versatzstücken - fingierten Pressemeldungen, Einzelschicksalen, den Texten von Warnschildern, Werbespots und anderen Mosaiksteinen - ein Horrorszenario: Dicke Luft, Verkehrschaos, ölverpestete Strände, Leckagen aus Giftfässern und ungenießbares Trinkwasser machen seinen Protagonisten das Leben zur Hölle. Allergien haben sich ausgebreitet, Bakterien zeigen Resistenzen gegen Antibiotika. Unbekannte Epidemien befallen die Menschen, das Vieh krepiert an einer geheimnisvollen Seuche. Nur ein Häuflein Verzweifelter begehrt noch auf, allerdings vergebens.

Seid furchtbar und mehret Euch

Die Ninth Avenue flimmerte in der Hitze, jeder Schattenfleck war ausgefüllt mit schlaffen Gestalten, alten Menschen, junge Müttern, Teenagern, die die Köpfe zusammensteckten und lachten. Menschen jeden Alters, überall nackte, schmutzige Glieder, umherliegend wie Tote nach einer Schlacht (...) Zwei Jungen kamen aus den Docks, die Arme zerkratzt und blutig. An einer Schnur trugen sie ihre Beute, eine große, tote Ratte. Heute abend würde es ein Festmahl geben." (Harry Harrison, "New York 1999", 1966)

Die Zukunft nach Harrison: ein Alptraum vom Überleben in einer total überfüllten Metropole. Schwache, Alte und Kranke haben keine Chance. Wer nicht das Glück hat, über ein paar Quadratmeter Wohnfläche zu verfügen, schläft im Treppenhaus oder auf der Straße, wo Gewalt und Kriminalität herrschen. Immer wieder flackern Unruhen auf, brutal niedergeknüppelt von der Polizei. Für Geld kann man selbstverständlich alles kaufen, was das Herz begehrt: eine geräumige Behausung, klimatisierte Luft, Sicherheit, halbwegs gesunde Nahrung.

So hat die Welt keine Zukunft und New York 1999, wir ahnen es, kein Happy End. Kurz nach Mitternacht im Jahr 2000 feiern Tausende Silvester auf dem Times Square. Da bemerkt ein religiöser Fanatiker voller Entsetzen, dass die Prophezeiung vom Jüngsten Tag nicht in Erfüllung gegangen und auch der ersehnte Messias nicht erschienen ist: "Es muß aufhören", schrie er gequält. "Kann die Welt noch tausend Jahre so weiterexistieren? So wie jetzt?"

   "Sagt Lebewohl zu Euren alten Zukünften aus Stahl..."  

Wie ein Origami-Trick in flüssigem Neon entfaltete sich seine distanzlose Heimat, sein Land, ein transparentes Schachbrett in 3D, unendlich ausgedehnt. Das innere Auge öffnete sich zur abgestuften, knallroten Pyramide der Eastern Seabord Fission Authority, die leuchtend hinter den grünen Würfeln der Mitsubishi Bank of America aufragte. (William Gibson, Neuromancer, 1983)

In den achtziger Jahren entstand in den USA das SF-Subgenre des Cyberpunk. Die Protagonisten von Autoren wie William Gibson, John Shirley, Bruce Sterling, Rudy Rucker etc. leben in einer verdateten und verdrahteten virtuellen Welt. Sie tragen Sensoren, Biochips oder sonstige Implantate am und im Körper und bekämpfen die Schadstoffe in ihren Körpern mit High Tech. Cyberpunk verwendet Symbole und Ästhetik der Pop und Subkultur: Drogen, Punk Rock, Videospiele, Comics, Horror und Splatterfilme. Ähnlich den PopArt-Künstlern der sechziger Jahre bedienen die Autoren sich aus dem reichen Fundus des kulturellen Underground.

Rund um die Datencowboys haben sich die früheren Prophezeiungen Brunners und anderer Autoren und Autorinnen erfüllt: Ökologisch gesehen ist die Welt längst vor die Hunde gegangen. Was "draußen" passiert, liefert höchstens noch Hintergrundrauschen. Beiläufig und in lakonischem Ton lesen wir von ausufernden Stadtkonglomeraten, künstlich gestalteten Landschaften und synthetischer Nahrung.

Der desolate Zustand der Umwelt ist kein zentrales Thema mehr; es ist zu spät, niemand lehnt sich noch dagegen auf. Die Bedrohung kommt von außen; Schlachten finden woanders statt. Bei der einzigen deutschen Cyberpunk-Autorin Myra Çakan sind es keine Treibhausgase, sondern vierfingrige Aliens, die es zu bekämpfen gilt. Die Welt ist in dem atemlosen Romanerstling der Hamburgerin mit dem (Doors-)Titel When the Music's Over (1999) noch nicht ganz untergegangen. Aber einige Städte, zum Beispiel London und Amsterdam, hat es bereits erwischt. Sie sind dem angestiegenen Meeresspiegel zum Opfer gefallen, die Bewohner werden notgedrungen zu Nomaden der postökologischen Neuzeit.

Menschen zu Software

Mittlerweile sieht es ganz so aus, als sei die vor einigen Jahren niedergeschriebene Vision des SF-Autors Norman Spinrad nicht allzu weit hergeholt: "Durch Wissenschaft und Technik werden wir den Aliens begegnen, und das werden wir selbst sein.

Schon gehört der Cyberspace übrigens eine Wortschöpfung des oben zitierten William Gibson zum Alltag. Ich surfe, also bin ich. Freaks, die sich in Virtual Reality-Computerspiele geistig einnisten, kaum noch soziale Kontakte haben und ihre Wohnung so gut wie nie verlassen - otaku heißen sie in Japan - sind bisher die Ausnahme. Doch das Internet ist dort, wo eine Telefondose in der Wand steckt, für viele nicht nur Arbeitswerkzeug, Freizeitfüller, Selbstdarstellungsplattform und Ehevermittlung, sondern auch - Heimat.

Die Frage lautet also nicht ob, sondern wann das Internet menschliche Züge annimmt und Gentechnik und Computertechnologie fusionieren werden. Für Zeugung, Empfängnis, Schwangerschaft und Geburt wird der menschliche Körper schon jetzt nicht mehr unbedingt gebraucht. Klonen ist technisch bereits möglich, und moralisch offenbar schon bald hoffähig: Bis zum "Menschenpark" ist es nicht mehr weit. Mit Hochdruck arbeitet die Wissenschaft an der Entschlüsselung der DNS; kritische Ethiker warnen vor dem "Menschen nach Maß" und der Entwertung des Individuums als "menschliches Ersatzteillager". Zwar sind Cyborgs und Androiden, wie wir sie aus den Filmen Terminator oder Blade Runner kennen, derzeit noch Ausgeburten der Phantasie, doch schemenhaft dämmert schon das Zeitalter des Posthumanen herauf. Die Frage ist bloß, ob wir es noch erleben werden.

Die Wirklichkeit

Ökologische Szenarien weitab jeder Fiktion werden heutzutage in nüchternem Ton von seriösen Wissenschaftlern abgefasst. Einer von ihnen ist Dennis L. Meadows, Mitverfasser des ersten Berichts über die Grenzen des Wachstums für den Club of Rome. Seine Vision ist so verstörend, dass sie durchaus aus der Feder eines SF-Autors stammen könnte. Nach zweimaliger Überarbeitung des so genannten World 3-Computermodells von 1972, das die Interaktionen von fast 200 Variablen untersucht, um Annahmen über die Entwicklung der Erde bis 2100 zu treffen, konstatiert Meadows heute: "Nach meiner Überzeugung ist es für eine dauerhaft tragbare Entwicklung zu spät."

Weitere 20 Jahre zusätzlichen Wirtschaftswachstums wie im letzten Jahrzehnt des ausgehenden Jahrtausends, das hieße laut Meadows: "In den ersten zwei Dezennien des 21. Jahrhunderts werden mehr Rohstoffe aufgebraucht als während des gesamten 20. Jahrhunderts." Die weltweiten Ölreserven könnten zwar noch gut 40 Jahre reichen - die Kosten werden jedoch nach 2020 explodieren, mit verheerenden Folgen für die Weltwirtschaft.

Auch was die Entwicklung der Weltbevölkerung betrifft, hat die Realität die Phantasie ein- oder überholt. Ob Mexico City, São Paulo, Kalkutta, Nairobi oder Kairo: Die Megastädte wuchern, und die meisten von ihnen liegen in der Dritten Welt. Obwohl die Vereinten Nationen ihre Prognose für das Wachstum der Weltbevölkerung kräftig nach unten korrigiert haben, rechnen sie immerhin noch mit 8,9 Milliarden Menschen, die im Jahr 2050 auf diesem Planeten Platz und ein Auskommen finden sollen. Im Oktober 1999 wurde die 6-Milliarden-Grenze überschritten.

Der Knick in der Wachstumskurve ist nur zu einem sehr geringen Teil ein Erfolg verbesserter Geburtenkontrolle; er ist, so hat das renommierte Worldwatch Institute ermittelt, vielmehr drei überaus alarmierenden Faktoren zu verdanken: der Ausbreitung von AIDS, dem Dahinschwinden der Frischwasservorräte der Erde - 230 Millionen Menschen leiden bereits an chronischer Unterversorgung mit dem Lebenselixier - sowie der abnehmenden Fläche fruchtbaren Ackerlands pro Kopf, umgerechnet auf die Weltbevölkerung.

Die Arktis hat in weniger als drei Jahrzehnten rund 40 Prozent ihres Eisvolumens verloren, und neueste Studien bestätigen, dass dieses Phänomen mit etwa 98-prozentiger Wahrscheinlichkeit vom Menschen verursacht ist. Die 14 wärmsten Jahre seit Beginn der Temperaturaufzeichnungen vor ungefähr 130 Jahren waren nach 1980, Rekordjahr war 1998. Die durchschnittliche Wassertemperatur ist um etwa ein halbes Grad gestiegen. Die Wälder verschwinden; allein zwischen 1980 und 1995 wurde eine Fläche fünfeinhalb Mal so groß wie Deutschland abgeholzt. Pro Jahr sterben an die 1000 Tier- und Pflanzenarten aus, und landwirtschaftliche Flächen von der Größe der Schweiz gehen verloren.

   "This new ocean?"  

Meine Welt, die Erde, ist eine Ruine. Ein von den Menschen zerstörter Planet. Wir haben uns vermehrt, haben gepraßt und gekämpft, bis nichts mehr übriggeblieben war ... Wir haben weder unserem Appetit noch unserer Gewalttätigkeit Zügel angelegt ... wir haben uns selbst vernichtet. Aber zuerst haben wir unsere Welt zerstört. Auf der Erde gibt es keine Wälder mehr. Die Luft ist grau, der Himmel ist grau, es ist immer heiß. Sie ist bewohnbar, sie ist immer noch bewohnbar aber nicht so wie diese Welt. Dies ist eine lebendige Welt, eine Harmonie. Meine Welt ist eine Disharmonie. Ihr Odonier wähltet die Wüste; wir Terraner schufen die Wüste.

Ursula K. Le Guin, Planet der Habenichtse, 1974 

In Ursula K. Le Guins Utopie - eine der wenigen positiven und womöglich die beste, die im 20. Jahrhundert geschrieben wurde - sind die Odonier, eine Gruppe überzeugter Anarchisten, nach einem Aufstand vom Planeten Urras auf den Nachbarplaneten Anarres verbannt worden. Dort fehlen sämtliche Annehmlichkeiten, die wir für unentbehrlich halten: Die Menschen müssen ihrer kargen, staubigen, abweisenden Welt alles abtrotzen, was sie zum Leben brauchen.

Dennoch wünscht man sich dorthin, und sei es nur, um zu erfahren, wie sich die Abwesenheit von Herrschaft und Besitz auf das menschliche Zusammenleben auswirkt. Die Anarchie, sie mag einem gefallen oder nicht, ist zumindest ein alternativer Weltentwurf zu jenem Zustand, den die terranische Botschafterin in dem obigen Le Guin-Zitat dem Physiker Shevek, einem Bewohner Anarres', schildert. Auch ohne Kristallkugel und Kaffeesatz lässt sich unschwer konstatieren: Je länger wir zum Gott des ungebremsten Wirtschaftswachstums beten, je später wir uns von den vorherrschenden Methoden der Energieerzeugung und -verschwendung verabschieden, desto unerfreulicher wird es für zukünftige Generationen werden.

Es besteht also wenig Grund zu jener Hoffnung, die in John F. Kennedys berühmter Amts-Antrittsrede im Jahr 1961 noch mitschwang: der Mensch, in absehbarer Zeit werde er in der Lage sein, sich das Universum - "this new ocean" - als Lebensraum zu erobern.

Doch wer weiß, vielleicht hat das irgend jemand da draußen bereits getan, und dann ergeht es uns womöglich so, wie es Douglas Adams in Per Anhalter durch die Galaxis schildert: Die Erde wird von Außerirdischen platt gemacht, die eine galaktische Umgehungsstraße bauen - und dabei ist ihnen der absolut unbedeutende, kleine blaugrüne Planet leider im Weg. Da hilft nur noch eins: KEINE PANIK...

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