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4.9  Die Selbststeuerung der Natur ist gestört

 

Der Mensch ist das naturzerstörende Wirtschaftstier.
Der deutsche Philosoph  Max Weber

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Indem der Mensch seine eigenen Lebensbedingungen geändert hat, veränderte er auch zwangsläufig die Lebensbedingungen der Pflanzen und Tiere sowie auch der Mikroorganismen, die er gar nicht sieht. "Als man die Bakterien identifiziert hatte, konnten sie erfolgreich bekämpft werden, und der Mensch besaß nun keinen todbringenden Feind mehr in der Biosphäre außer sich selber."101 — Wie stark sich die Eingriffe auswirken, hängt von der Quantität und Qualität sowie von der Zahl der Menschen ab. In einer Welt mit wenigen Menschen und primitiven Werkzeugen konnte die Natur in keine Gefahr kommen.

Der erste große Schritt einer Emanzipation von der Natur kam mit dem Ackerbau und den folgenden Hochkulturen. Doch in diesem mußte sich der Mensch noch sehr der Natur anpassen. So blieb zum Beispiel den Griechen, die über die Welt tiefer nachgedacht haben, als das in den folgenden Jahrtausenden der Fall war, der Gedanke an eine Umgestaltung der Natur völlig fremd. Auch in Rom befand der Satirendichter Juvenal: "Niemals darf der Wille des Menschen je über die Natur siegen."102 Selbst im Mittelalter hatte der deutsche Mystiker Meister Eckart erkannt: "Es ist in der Natur um uns schlechthin unmöglich zu leben und zu überleben, wenn wir sie so traktieren und so wenig alleine ihr Werk tun lassen."103

In jenen Zeiten war der Mensch auch gar nicht in der Lage, seine Umwelt nach Belieben zu behandeln. Die über sein Schicksal entscheidende Epoche kam, als er die Natur und sein Leben nicht mehr als einfache Gegebenheiten eines Schöpfungswunders hinnahm, sondern begann, ihre Gesetze und Geheimnisse zu ergründen, um in ihre Prozesse eingreifen zu können. "Das fragende Experiment hat den Erdkreis besiegt."104  Mit den schnell entwickelten großtechnischen Mitteln der Gegenwart konnte die Natur überwältigt und dem Menschen dienstbar gemacht werden.

Bis zum Jahr 1800 etwa "hatten alle Arten, der Mensch nicht ausgenommen, von der Gnade der Biosphäre gelebt — erst die industrielle Revolution lieferte sie der Gnade des Menschen aus."105 Damit sind wir beim zweiten und unvergleichlich radikaleren Schritt, besser Sprung der Emanzipation, den allein die Europäer wagten. Dabei überlassen wir mit Toynbee den Engländern die Ehre, "den Anfangsimpuls für die enorme Entwicklung der industriellen Revolution gegeben zu haben".106

Diese Revolution war von den Naturwissenschaften in ungefähr drei Jahrhunderten vorbereitet worden. Aber auch die Philosophie hatte ihren Anteil. John Locke (1632-1704) sah in der "Negation der Natur" den "Weg zum Glück" und forderte die Menschen auf, sich vollständig von der Natur zu emanzipieren.107 Dagegen vertrat Immanuel Kant ein Jahrhundert später weiterhin den alten Standpunkt: "Der Mensch muß sich in die Natur schicken; aber er will, daß sie sich in ihn schicken soll."108 

Und Goethe schrieb: "Der Wechsel von Tag und Nacht, der Jahreszeiten, der Blüten und Früchte ... ist er doch ewig und unantastbar. Das irdische Leben begebe sich nicht daran, ihn zu verändern. Wär' es doch Narrheit nur."109 Deutsche Philosophen und Dichter haben sich nie derart abschätzig über die Natur geäußert wie manche westeuropäische. Das hat aber nichts daran geändert, daß der gesamte deutsch­sprachige Raum neben England und Frankreich eine Pionierrolle bei der Industrialisierung der Welt spielte, wobei es zum Konkurrenzkampf zwischen den europäischen Mächten kam. 

Dieser führte auch zu einem Wettrennen um Kolonien, in dem das junge Deutsche Reich nach 1871 nur die letzten übrig geblichenen Brocken einheimsen konnte, die es 1918 wieder verlor. Die Kolonien der Europäer müssen erwähnt werden, weil über sie die Industrialisierung der ganzen Welt möglich wurde. 

Da die Natur seit Menschengedenken immer brav ihre Dienste getan hatte, werde sie auch — unterstellte der ökonomische Liberalismus — weiter so funktionieren. Was auch der Mensch unternehme, stets werde eine "unsichtbare Hand" das Ganze leiten, meinte Adam Smith, der nur die Erfolge des neuen Zeitalters sah. 

Anderer Auffassung war Karl Marx, der nur dessen Mißstände sah; darum müsse die Welt von der eigenen Hand des Menschen gehörig verändert werden, damit es diesem wohlgehe und er lange lebe auf Erden. Darum sein Vorwurf an die Philosophen, sie hätten die Welt nur verschieden interpretiert, während es darauf ankomme, sie zu verändern. Beide Richtungen setzten absolutes Vertrauen in die Fähigkeiten des Menschen und selbstverständlich auch in die unbegrenzte Leistungsfähigkeit der Natur.

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Somit lief die im Teil drei dieses Buches beschriebene Maschinerie unaufhaltsam weiter. Erst im 20. Jahrhundert kamen einzelne Bedenken auf, ob die Natur die inzwischen rasend steigenden Belastungen werde verkraften können. 

Die Lebens­philosophie zu Ende des 19. Jahrhunderts, in der Tradition Goethes stehend, hatte vorgearbeitet. Eine einsame Speerspitze naturgemäßen Denkens bildete Friedrich Nietzsche

Oswald Spengler war dann der erste Universal­historiker, der die Zerstörungen der Natur in seine Betrachtungen einbezog, was schließlich auch der letzte große Welthistoriker, Arnold Toynbee, tat. Er wie sein von der Soziologie kommender Zeitgenosse Lewis Mumford betonten gleichermaßen, daß die von den Menschen in den letzten zwei Jahrhunderten errungene zerstörerische Macht einmalig ist.110

In Deutschland führte Ludwig Klages zu Anfang des Jahrhunderts die Gedanken der Naturphilosophie fort, ohne öffentliche Aufmerk­samkeit zu erreichen.

Auch die Bücher von Anton Metternich (1947) und Reinhard Demoll (1954) fanden keine Beachtung. 

Erst die Amerikanerin Rachel Carson konnte mit ihrem Warnruf <Der stumme Frühling> (1962) einen Teil der dortigen Öffentlich­keit mobilisieren. Doch die Verbreitung solcher Gedanken in den USA stand unter der Devise "human environment protection", also Schutz der Umwelt des Menschen.

Der christliche Mensch des Mittelalters und der Neuzeit neigte dazu, die Natur als seinen Gegenspieler zu betrachten, mit dem er kämpft und mit dessen Gegen­zügen er rechnet. 

Auch Nietzsche denkt manchmal ähnlich, wenn er fragt: "Ist jetzt nicht der ganze Weltprozeß ein Bestrafungsakt der Hybris?"111 Diese Frage unterstellt der Natur die Rolle eines Richters, der Strafen anordnet. Dabei resultiert doch die "Strafe" für den Menschen aus den automatischen Rückwirkungen seines eigenen Tuns. 

Es handelt sich also um metaphorische Redewendungen; denn die Natur spielt weder Richter noch Rächer. Sie leidet und stirbt hier und da, weil aus ihr Stücke herausgebrochen werden, so daß einzelne Kreisläufe zusammenbrechen. Einen Zweikampf Menschheit — Natur kann es schon darum nicht geben, weil die Menschen Teil der Natur sind.  

detopia:  Goethe   Nietzsche   Spengler   Toynbee   Mumford   Klages   Metternich   Demoll    Carson      Register 1992 

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"Die Menschheit" und "die Natur" sind abstrakte Begriffe. Wenn die Natur als Subjekt eine Strategie hätte, dann müßte sie einen Kopf haben — und wenn "die Menschheit" eine Strategie hätte, dann müßte sie ebenfalls einen Körper und einen Kopf haben; doch sie hat beides nicht, sie ist im wahrsten Sinne des Wortes kopflos und handelt darum auch kopflos. Die Menschheit ist auch kein Körper, so wie der Mensch ein Körper ist; denn die Teile des menschlichen Körpers sind völlig unfrei, während die Teile "der Menschheit" Narrenfreiheit haben — von der sie auch weidlich Gebrauch machen. Das wird uns doch täglich vorgeführt. "Die Menschheit" und "die Natur" sind in sich so komplexe Gebilde, daß es eigentlich gar nicht erlaubt sein dürfte, diese Begriffe zu verwenden. Wir tun das notgedrungen, wie wir ja auch von einem "Atom" sprechen, ohne zu wissen, was das eigentlich ist.

Viele Wissenschaften trugen inzwischen zu Erkenntnissen bei, wonach die Natur millionenfach differenz­ierter organisiert ist als alles Menschenwerk. Die Natur ließ sich für ihre Neuentwicklungen unermeßlich viel Zeit; dafür waren die Ergebnisse dauerhaft. Der Mensch der Technik drängt Versuch und Anwendung auf einen winzigen Zeitabschnitt zusammen; mit der Folge, daß die Ergebnisse nicht dauerhaft sind. Die völlig unbedachten Auswirkungen auf die Natur erfolgen somit kurzfristig, konzentriert und bleiben lange erhalten. Weil kein steuernder Kopf da ist, berechnet auch niemand die Fernwirkungen der Veränderungen, welche die Menschen und Völker heute im guten Glauben forcieren. Und auch die Natur kann die Fernwirkungen der erlittenen Verwundungen und Vergiftungen nicht vorausberechnen; sie zeigen sich erst, indem sie dahinsiecht oder stirbt.

Wie groß die Störungen der Natur jetzt schon sind, das wird sich nie ermitteln lassen. Besitzen wir überhaupt einen Maßstab, um die Ausmaße der Störungen des gesamten Ökosystems zu ermessen? Der zuverlässigste Maßstab dürfte die Zahl der aussterb­enden Arten sein. Sie sind zwar nicht alle für das Ökosystem gleich wichtig, aber irgendeine Bedeutung hat eine jede. "Was für ein Glied du auch aus der Kette der Natur hinwegnimmst, das zehnte oder das zehntausendste, so wird doch allezeit die Kette zerbrochen", schrieb der englische Dichter Alexander Pope.112 Infolgedessen verursachen viele Ausfälle auch große Lücken im Verbundsystem der Natur.

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"Was diesbezüglich derzeit passiert, ist eine Katastrophe, wie sie sich auf dem Globus seit der Entstehung des Lebens noch nicht abgespielt hat."113 Zu diesem Ergebnis kommt der Zoologe Bernhard Verbeek in dem neuen Buch <Die Anthropologie der Umweltzerstörung>.

In der Natur entstehen neue Arten mit einer Wachstumsrate von 0,37 Prozent in einer Million Jahren, das wäre eine jährliche Zunahme von 0,00000037 Prozent. Wenn wir die Gesamtzahl der lebenden Arten mit drei Millionen ansetzen, dann wäre pro Jahr eine neue Art entstanden.114  Gegenwärtig verschwindet aber pro Stunde eine Art! Das sind über 10.000 in einem Jahr!

Ein Symposium der Schweizerischen Akademie der Naturwissenschaften, das an der Universität Genf vom 3. bis 6. Oktober 1990 tagte, kam auf 4000 bis 6000 aussterbende Arten pro Jahr und errechnete auch, daß die Aussterberate heute die der Natur um das Zehntausendfache übertreffe; eine Katastrophe, die tausendmal schneller ablaufe als die erdgeschichtlichen Vernichtungskrisen früherer Zeitalter.115

Der renommierte amerikanische Biologe Edward Wilson hatte schon 1987 die jährliche Aussterberate auf 175.000 Arten geschätzt, wobei er eine Gesamt­zahl der existierenden Arten von fünf Millionen zugrunde legte.116 Um das etwas anschaulicher zu machen: von den Vogelarten in Deutschland wird es in 50 Jahren nur noch die Hälfte, vielleicht sogar nur noch ein Drittel geben.

Der zitierte Charles Richet protestierte schon 1922: 

"Eine Tierart, die erlischt! Welch tempelschänder­isches Verbrechen. Keine Macht, weder eine menschliche noch eine göttliche, wird sie wieder zum Vorschein bringen! Es ist vorbei, für alle Zeiten vorbei! — So können wir denn auch wohl voraussehen, daß es dem Menschen gar bald gelingen wird, die meisten der wunderbaren lebenden Formen, die die Erde bisher zierten, von Grund auf auszurotten."117

Richet fährt dort fort: 

"Von den lebenden Tieren werden wir ... in Zukunft nur noch die Gattungen der Haustiere kennen lernen, wie Katzen, Hunde, Pferde, Esel, Kühe, Hammel, Ziegen, Schweine, Hühner, Enten, Gänse ... vielleicht werden für den Jagdsport noch einige Rebhühner, Kaninchen, Rehe und Hasen am Leben gelassen werden."

Von dem französischen Dichter Romain Rolland soll der Satz stammen: "Künftige Generationen werden den Vandalismus verfluchen, mit dem wir ein kurzes Jahrhundert Raubbau an der Tierwelt getrieben haben, zu deren Vervollkommnung die Natur fünfzig Millionen Jahre brauchte."118

Eine Gattung, die sich alle anderen Lebewesen unterwirft, einen Bruchteil der Arten domestiziert, andere ausrottet, beendet damit auch deren natürliche Evolution. Der Basler Genetiker Werner Arber erklärte 1987 in seiner Rektoratsrede: "Im zunehm­enden Maße nimmt die Vielfalt an Lebewesen und damit an Erbgut in der Biosphäre unter Einwirkung der menschlichen Zivilisation ab. Mit dem Aussterben von Lebewesen verschwinden auch deren Gene."119

Die Natur schwelgte bis ins vorige Jahrhundert im Überfluß. Seitdem hat der Mensch mit seinen neuen großtechnischen Mitteln so "erfolgreich" abgeräumt, daß der Umschlag in den Mangel unvermeidlich wird. Je stärker sich der Mensch von der Diktatur der Natur befreite, desto deutlicher zeigte sich, wie total er ihr immer ausgeliefert war und bleiben wird. Doch die derzeitig Lebenden beschränken ihre Aufmerk­samkeit auf ihre künstliche Umwelt, während ihnen die Abhängigkeit von der natürlichen gar nicht mehr bewußt wird; denn sie haben jede direkte Beziehung zu ihren Lebensgrundlagen verloren.

Da sich der Mensch auch selbst domestiziert hat, ist die biologische Evolution der eigenen Gattung abge­brochen worden. Und durch seine expansive Lebensweise zerstört er auch die labile Ausgewogenheit der Pflanzen und Tierarten untereinander. "Dies kann sich nur in negativer Weise auf die zukünftigen Möglichkeiten auch der menschlichen Entwicklung auswirken."120  Die radikale Veränderung der gesamten natürlichen Umwelt beeinträchtigt also nicht nur diese in allen ihren Potentialen kurzfristig, sondern auch die menschlichen Lebewesen selbst — biologisch und genetisch.

Bis zum II. Weltkrieg war unsere Welt im großen und ganzen noch in der gleichen Ordnung, in der sie sich in den letzten Jahrtausenden durchgehend befand. Die unermeßlichen Schäden, die wir im Teil IV behandelt haben, entstanden erst in den letzten 50 Jahren. Ein halbes Jahrhundert hat genügt, den ganzen Planeten weitgehend zu ruinieren! 

Wie soll er erst nach weiteren 50 oder nach 100 Jahren aussehen? Zumal die Zerstörungs­prozesse nicht nur fort­gesetzt werden, sondern sich laufend verstärken: durch die Bevölkerungs­explosion und durch das, was man "wirtschaftliches Wachstum" nennt. Welch hilflose Gegenaktionen unternommen wurden, ist schon hier und da angedeutet worden. Aber wir untersuchen die Chancen einer welthistorischen Wende nochmals im Teil 5.

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detopia:   C.Richet    E.Wilson  

 

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Himmelfahrt ins Nichts von Herbert Gruhl 1992