Vorwort    Start    Weiter 

1.  Die Deutsche Einheit als Kriminalfall 
und andere Erzählungen  
Henrich-1996

 

   Menschenrechte und Technik       02    03 

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Die erstaunliche Widerstandslosigkeit und Geschwindigkeit, mit der das Verschwinden des - die Politik und Ökonomie in unserem Jahrhundert bestimmenden - Ost-West-Gegensatzes vonstatten ging, bestärkt die Schluß­folgerung, daß der Sozialismus, wie er sich seit 1917 etabliert hatte, ein gleichgewichtiger Gegenpol zur Welt des Kapitals nirgendwo gewesen ist. 

Schon gar nicht in Deutschland! Einmal die Dinge beim rechten Namen genannt, und die Menschen sahen es: Der Kaiser war nackt. Hohl und verfault bis ins bürokratische Knochenmark, sackte der gefürchtete Koloß von Stendal bis Wladiwostok in sich zusammen.

Nicht in der Synthese der angeblichen Pole, wie es sich mancher gewünscht hätte, das heißt nicht in ihrer Steigerung, nicht in einem Plus an Selbstbestimmung, Freiheit und Modernität, hebt sich der Jahrhundert­gegen­satz auf. Er verflüchtigt sich weltweit im kleinsten gemeinsamen Nenner: im Ruf nach Marktwirtschaft, Demokratie und Menschenrechten.

Das Ausbleiben jeder zukunftsträchtigen Idee, welches den Widerruf des Sozialismus begleitet, bestätigt so im Nachhinein auf geradezu unheimliche Weise die Denker, für die historisch gesehen seit 1806 nichts mehr passiert ist, außer «l'alignement des provinces» — die Eingliederung der Provinzen in den Verkehrs­zusammenhang der Zivilisation des Westens. 

Ausdehnung ist die eigentlichste Tendenz einer jeden ausgereiften Zivilisation, hatte Oswald Spengler 1922 festgestellt. 1990 pflichtete ihm Jürgen Habermas bei, indem er mit Blick auf den Zusammenbruch des Sozialismus vom «Ausgreifen der Moderne» sprach: «Der Geist des Okzidents holt den Osten ein, nicht nur mit der technischen Zivilisation, sondern auch mit seiner demokratischen Tradition». 

Allerdings erleben im Rahmen des rückspulenden Wandels der Verhältnisse diejenigen, die für die Menschen­rechte als erste ihren Kopf hingehalten haben, überall ihr blaues Wunder am Morgen nach dem Sturz des Ancien Régime wikipe  Ancien_Régime  alter Staat

Denn bei der Neuverteilung der Macht erscheinen andere Gestalten auf dem Plan als jene, die mit ihnen gemeinsam auf der Straße den Ruf «Wir sind das Volk!» skandierten. Und während die Nachhut der Bürgeraktivisten noch am Kadaver der Despotie herumschnuppert, haben andere längst das Ruder in die Hand genommen und bestimmen den Kurs.

Damit wiederholt sich ein Phänomen, welches nach der Französischen Revolution ebenso zu beobachten war wie nach der Oktoberrevolution und späteren Umwälzungen des Sozialen: Das Gros überholt die Avantgarden. Deren Enttäuschung beginnt, sobald sie ihren Traum von einem Leben in der Wahrheit realisieren wollen.

Übrig bleibt allein, was der Zeit überlegen war, nicht jedoch, was sich auf zeitlichen Vorsprung beruft.

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Hinter dem Bedeutungsverlust der ersten personalen Garnitur des gesellschaftlichen Wandels waltet Notwendigkeit. Die kann man beklagen. Entrinnen aber kann man ihr nirgendwo.

Es gehört eben zum Bild des sozialen Umbruchs in der Neuzeit dazu, daß dieser immer wieder durch ethische Initiativen gezündet wird, um dann als Selbstläufer um so sicherer in ein erneuertes, noch effizienteres Modell des umfassenden Mobilmachungs­geschehens der Moderne einzumünden.

Die Kraft des Faktischen - wie sie sich in der Mobilmachung durch Technik entfaltet - verzichtet auf Moral und Ideen.

Folgerichtig sorgt sie allein, wie es schon Heidegger beschrieb, für

«... die Aufrichtung neuer Werte durch das <Leben>, nachdem dies zuvor total mobilisiert ist, als ob die totale Mobilmachung etwas an sich wäre und nicht die Organisation der unbedingten Sinnlosigkeit aus dem Willen zur Macht und für diesen. Solche machtermächtigenden Setzungen richten sich nicht mehr nach <Maßen> und <Idealen>, die noch in sich gegründet sein könnten, sie stehen <im Dienste> der bloßen Machterweiterung und werden nur nach dem so geschätzten Nutzwert gewertet. Das Zeitalter der vollendeten Sinnlosigkeit ist daher die Zeit des machtmäßigen Erfindens und Durchsetzens von <Weltanschauungen>, die alle Rechenhaftigkeit des Vor- und Herstellens ins Äußerste treiben, weil sie ihrem Wesen nach einer auf sich gestellten Selbsteinrichtung des Menschen im Seienden und dessen unbedingter Herrschaft über alle Machtmittel des Erdkreises und über diesen selbst entspringen.»

Seit den Zeiten Heideggers hat sich daran nichts Grundsätzliches geändert. So spricht erst kürzlich Peter Sloterdijk - seinerseits unter Verweis auf Ernst Jünger - von der heimlichen Neigung der Epoche, moralische Motive nurmehr in ihrer Eigenschaft als Motoren von Mobilmachungsbewegungen ernst zu nehmen.

Die Mobilmachung arbeitet heute natürlich punktueller und effizienter. 

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Mobilgemacht werden, bildlich gesprochen, nicht mehr Menschenmassen für die Materialschlachten Hitlers, sondern die Spezialisten für den computer­gestützten Sternenkrieg, für das lautlose Gefecht um Marktanteile und Einfluß in dem Prozeß der Globalisierung.

Und auch die Gestalt des Jüngerschen «Arbeiters» hat ihre Wandlungen durchgemacht. Was hinreichend deutlich wird, wenn wir — ganz im Kontrast zu dem «klassischen» Arbeiter in den Stahlwerken der dreißiger Jahre — jenes unverkennbar heutigen, stundenlang mit seinem Computer kommunizierenden Jünglings gedenken, der unsere Börsen und Büros bevölkert, um allabendlich zum Aktivisten der Fitneßstudios oder zum im Schweiße seines Angesichts hechelnden Jogger zu mutieren. 

Wobei Jüngers Gestalt des «Arbeiters» von Anfang an nicht das traute marxistische Klassensubjekt meinte, sondern eben jenes Menschentum, das für die geradlinige Umsetzung aller Lebenskräfte in industrielle Energie verantwortlich ist. Das die Machtansprüche der auf Selbststeigerung versessenen Subjektivität verkörpert, welche unser rotierendes Ich immer wieder dazu veranlaßt, die neuzeitliche Mobilmachungs­spirale zu immer größer dimensionierter Beweglichkeit weiterzudrehen.

Jedenfalls kann man heute schon sagen, daß bei der Abwicklung des Sozialismus keinerlei Alterität zugelassen wird. Jegliche Neuerung, wie gut oder schlecht auch immer sie gelingt, kann vorerst nur in die konsequentere Mobilisierung der vorhandenen technischen und ökonomischen Möglichkeiten münden.   wiktionary  Alterität 

Der innerdeutschen Kolonisation durch Technik konnten die Bürgeraktivisten von vornherein nichts anderes entgegensetzen als ihren Freiheits- und Menschenrechtsbegriff, der sich weiterhin an den Idealen der Franz­ösischen Revolution ausrichtete. Unbeachtet blieb dabei, daß unter den aktuellen Bedingungen Freiheits­beschränkungen kaum mehr aus dem gewohnten Mißbrauch politischer Macht resultieren. 

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Mehr denn je sind diese einem Automatismus des Daseins überhaupt geschuldet. Allerdings basieren die Zumutungen, die der Einzelne täglich durch den Verkehr, die Normung, die Sozialfürsorge und Staats­pädagogik erfährt, auf einer inneren Zustimmung, die man sich erst einmal verdeutlichen muß, bevor man in den Kategorien einer praktisch längst dementierten Ethik darüber debakelt.

Während die Entlarvung der alten Mächte stündlich Schlagzeilen liefert, tritt die erst jetzt in ihrem ganzen Ausmaß sichtbare Verwüstung der östlichen Werkstättenlandschaft allmählich ins allgemeine Bewußtsein. Wer jedoch ernsthaft die Industrielandschaft des Bitterfelder Reviers, das hier nur als das bekannteste Beispiel in Deutschland gelten soll, in seine Wahrnehmung aufnimmt, dem dämmert sehr schnell die Einsicht, daß es wohl doch erheblich massivere Gründe für das epochale Scheitern des Sozialismus gegeben hat, als dessen steinzeitlichen Umgang mit Demokratie und Menschenrechten.

Gescheitert ist der Sozialismus in letzter Instanz wohl deshalb, weil er der Mobilmachungsbereitschaft der Menschen durch Technik nicht entsprechen konnte. Zwar feierte er in Sonntagsreden durchaus den weltweiten Kultus der Technik. Werktags mutete er der gläubigen Staatsbelegschaft jedoch zu, flickschusternd den technischen Klapperatismus der sozialistischen Ökonomik in Gang zu halten.

Und eben hier zeigte sich für jedermann, daß die moderne Technik kein Geräteschuppen ist, aus dem sich jede beliebige Kraft ihr Rüstzeug holen kann. Wer jemals miterlebt hat, mit welchem Bedeutungsgehalt im Osten die Installation einer einzigen automatischen Werkzeugmaschine belegt wurde, der weiß, daß die punktuelle Übernahme «westlicher» Technik durchaus mehr war als die äußerliche Umgestaltung von Arbeitsplätzen. Eher schon ähnelte ein solcher Vorgang der Übernahme eines fremden Kultgegenstandes.

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Allerdings war damit auch zwangsläufig das Empfinden verbunden, als ob der Parteisekretär, der die «Errungen­schaft» wortreich für den bevorstehenden Sieg des Sozialismus ausschlachten wollte, zugunsten einer anderen Religion predigte.

Insoweit war es auch kaum verwunderlich, daß bereits eine EMNID-Umfrage zum Jahreswechsel 1990-91 zeigte, wie gering die Unterschiede im Hinblick auf die Bewertung und Akzeptanz der Technik in Deutschland-Ost und Deutschland-West war. Nur jeder zehnte Deutsche fürchtet, der technische Fortschritt könnte eher zum Nachteil als zum Vorteil der Menschen zu Buche schlagen. Bhopal, Seveso, Brokdorf, Harrisburg und Tschernobyl konnten nichts daran ändern, daß nach wie vor 76 Prozent der deutschen Bevölkerung die Technikentwicklung positiv («eher zum Vorteil») bewerten. Die scheinbar so unterschiedlichen Brüder und Schwestern unterscheiden sich also in ihrem die Entwicklung vorantreibenden und sichernden historisch-technischem Bewußtsein kaum voneinander.

 

   Die Wende: Verflüchtigung im Nebel der Indifferenz  — unterlassene Geschichte      ^^^^  

 

Wollte man aufs Ganze gesehen die unterschiedlichsten Erzählungen in West und Ost über den Stand der Dinge in Deutschland auf einen vorläufigen Nenner bringen, würde ich sagen: Wer phänotypisch Westler ist, der hat die Befreiung längst hinter sich. Währenddessen unsereiner als Ostler nach dem Sturz der Staatsdespotie und des Geheimdienstes immer noch damit beschäftigt ist, die Befreiung auf breiter Front mit Hilfe berufsmäßiger Berater jeglicher Couleur, ausgeborgter Beamter und sonstiger Helfer im Zeitraffertempo nachzuholen: die Befreiung der Frau, des Kindes, des Marktes, der Sexualität, der Meinung sowie aller Produktiv- und Destruktivkräfte bis hin zur Befreiung von den Schatten der Vergangenheit.

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Lange kann es aber nun auch nicht mehr dauern, bis anstelle des künstlichen Geredes über «die Mauer in den Köpfen» wieder die schlichte Spruchweisheit treten wird von den «gleichen Brüdern mit den gleichen Kappen». Dann werden wir endlich den Ur-Knall hinter uns haben. Jene planmäßig per Einigungs­vertrag gezündete Orgie der Mobilisation: des Realismus, der Rücksichtslosigkeit, der Verführung und des berechnenden Denkens und der Begierde nach mehr. Wir werden dann dieselben Landschaften der Produktion und virtuellen Überproduktion der Objekte, der Zeichen, der Botschaften und Vergnügungen um uns herum haben wie die, denen wir uns in verwandtschaftlicher Anhänglichkeit angeschlossen haben.

Immerhin konnte man in der Wendezeit 1989/1990 kurzzeitig glauben, es seien endlich wieder andere Geschichts­zeichen auf der politischen Bühne zu erkennen. Und auch mancher, der sich im Westen mit dem Post­histoire und dem vermeintlichen «Ende der Geschichte« abgefunden hatte, atmete befreit auf bei dem Gedanken, die Geschichte, die schon erstickt schien, könne durch die Wandlungen im Osten wieder in Gang gebracht werden.

An die aus dem Einigungsprozeß resultierende historische Ausnahmesituation hatten zudem nicht wenige Beobachter die stille Erwartung geknüpft, «die Politik» würde die Gunst der Stunde nutzen und gewisser­maßen aus der Not eine Tugend machen, um im Rahmen des DDR-Anschlusses gleichzeitig das verkrustete bundesrepublikanische System aufzubrechen und vielleicht punktuell zu modernisieren. 

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Wenigstens die offenkundigsten und unbestrittenen Mängel des Modells Deutschland-West sollten bei der Rekonstruktion in Deutschland-Ost behoben werden, sei es nun in der Gestalt von Steuerreformen, einer Rechts­bereinigung, der Parlamentsreform, eines neuen Einwanderungsgesetzes oder der längst fälligen Änderung des Beamtenrechts.

Bis heute jedenfalls ist in der Wende-Nostalgie die Enttäuschung spürbar, die es nicht verwinden kann, daß in den Ländern des ehemaligen Ostblocks nichts anderes als das Rezidiv des Nationalismus das Geschehen bestimmt. Und gleichzeitig die alltägliche Praxis der gesellschaftlichen Rekonstruktion in Deutschland-Ost geradezu zwanghaft die Strukturen und Denkweisen des westlichen Modells kopiert; und dies oft selbst ohne den geringsten Versuch, der Besonderheit eines historisch Gegebenen auch nur ansatzweise Rechnung zu tragen.(3)

Unüberhörbarer Ausdruck von Nostalgie und Enttäuschung sind auch die sich mehrenden Stimmen derer, die es den Promotoren der Wende als Unterlassung ankreiden wollen, daß sie nicht eine nachdrückliche Säuberung wenigstens unter den führenden Repräsentanten des SED-Staats veranstaltet haben. Kurz und blutig hätte solche Selbstreinigung sein müssen, heißt es, gewissermaßen inszeniert als eine Art von Kollektivopfer, da nur mit Blut die ganze Schande, die vierzigjährige Kompromittierung der DDR-Gesellschaft hätte getilgt werden können. 

3)  Die Regelung der Eigentumsfragen und die der realen Entwicklung und den Investitionsbedürfnissen hinterherhinkende mehrfache Novellierung des Vermögensgesetzes sind dafür nur die bekanntesten Belege.

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Wenn stattdessen die Parole «Keine Gewalt!» ausgegeben worden sei, so verweise das auf einen protestantischen Seelenballast, demzufolge es nicht so sehr auf das ankommt, was man tut, sondern was man denkt.

Natürlich legt bereits die große Zahl protestantischer Seelsorger, die den Herbstereignissen ihren Stempel aufgedrückt haben — sei es, indem sie die Leute in konfirmandenhafte Bittgottesdienste verwickelten oder ihnen Kerzen (anstelle von Pflastersteinen) in die Hände drückten — ein solches Verständnis der Geschichte nahe. Dennoch hat die ehedem als Ausdruck größter politischer Reife interpretierte Gewaltlosigkeit neben der zweifellos vorhandenen protestantischen Innerlichkeit vieler Protagonisten des Geschehens auch historische Gründe.

Man kann es gar nicht oft genug wiederholen: Die politische Macht in der DDR war 1989 längst tot! Als das System implodierte, hatte es nicht einmal mehr die symbolische Kraft, geschweige denn den polizeilichen Schneid, die Gründer des Neuen Forums wirkungsvoll zu Staatsfeinden zu stempeln.4)

Honecker am Laternenpfahl — das wäre unter diesen Umständen politische Leichenschändung gewesen. Allenfalls eine Art Tele-Exekution, wie sie in Rumänien am Ehepaar Ceaucescu vollstreckt wurde, kann man sich in dieser Lage vorstellen. Daran gedacht hat aber niemand. Insofern kam die Wende Jahrzehnte zu spät, um die gewonnene Handlungsfreiheit noch in einer rauschhaften Säuberungsaktion auszuleben. Hier konnte man nur noch ein mit Verspätung angesetztes Begräbnis simulieren.

4)  Nur einer der Erstunterzeichner des Gründungsaufrufs «Aufbruch 89» wurde vorläufig festgenommen.

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Und erst recht war der «Runde Tisch» ein untaugliches Mittel, um das Fehlen des Ereignisses, des leidenschaft­lichen Zusammenpralls politisch feindlicher Kräfte, zu ersetzen. Hier, in der Zentrale politischer Indifferenz, zeigten die Sprecher aller Parteien und Gruppen vor laufenden Fernsehkameras sehr schnell, wie sie auf der Suche nach einer neuen Identität mehrheitlich zu Hermaphroditen des Politischen mutierten. Geradezu im Zeitraffer war zu beobachten, wie verknöcherte Funktionäre für sich den modernen Typus des Transpolitischen entdeckten und praktizierten, gewissermaßen in vorauseilender Anpassung an kommende Parteimitgliedschaften.5)

Nachdem sich dann noch prominente Bürgerrechtler zu Ministern ohne Geschäftsbereich unter der Regierung Modrow küren ließen, war das Schauspiel der Revolutions-Simulation perfekt. Die Revolution hatte damit zwar stattgefunden, aber keinesfalls so, wie man es nach vierzig Jahren Einparteienherrschaft und Staatsdespotismus hätte erwarten können. Bereits zuvor hatten ja in ironischer Indifferenz die Transpolitischen aller Parteien und Gruppierungen dem erstaunten Volk ihren Gesinnungswandel vorgeführt.6)

5)  Insofern war es zwar rhetorisch wirkungsvoll, inhaltlich jedoch nicht allzu aussagekräftig, wenn dieser Typus Politiker als «Wendehals» bezeichnet wurde. 

6)  Jens Reich hat in seinem Buch «Abschied von den Lebenslügen» berechtigt von einem «Kappenfest der Versöhnung von amtsmüden Herrschern und amtsfeigen Untertanen» gesprochen.
      Allerdings muß man diese Aussage wohl noch weiter zuspitzen, damit ihr politischer Gehalt zum Vorschein kommt.
      Die «amtsfeigen Untertanen» — das waren die Aktivisten der Bürgerrechtsbewegung selber.

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Am 4. November 1989 sprachen in Berlin anläßlich der großen Demonstration auf dem Alexanderplatz in trautem Chor und unter der Regie professioneller Theatermacher der Geheimdienstler neben dem Bürger­rechtler, das Polit­büromitglied nach der landesweit geliebten Schriftstellerin. Mit ihrer Kollektiv­darbietung machten sie dem staunendem Publikum klar, daß die ehemalige Unvereinbarkeit ihrer Standpunkte und Interessen längst der Vergangen­heit angehörte. 

Für den sich hier präsentierenden Politikertyp war es kein Problem mehr, die Ambivalenzen der Wendezeit politisch für sich zu integrieren und die Verschmelzung eines jeglichen mit seinen Gegenbegriffen in der eigenen Rede umzusetzen. Während das demonstrierende Volk angesichts der überstürzten Angleichung der DDR an das westdeutsche Modell noch glaubte, es erlebe Geschichte gleichsam im Schnellzugtempo, hatte sich diese bereits im Nebel der Indifferenz verflüchtigt.

Also: Was geschah 1989 im Beziehungsfeld des Politischen?

Auf eine Kurzformel gebracht, könnte man sagen: Die durchgehende Politisierung der DDR-Gesellschaft wurde zurückgenommen! Die das Politische konstituierende spezifische Unterscheidung Carl Schmitts, die Unter­scheidung von Freund und Feind, die innen- wie außenpolitisch die DDR vierzig Jahre lang nachhaltig geprägt hatte, wurde zum Binarismus von Regierung und Opposition entschärft. Erklärte die Staatspartei noch bis Mitte der achtziger Jahre jede Gruppierung zum politischen Feind, welche die «führende Rolle der Partei» in Zweifel ziehen wollte, erscheint 1989 ihre «Unfähigkeit oder Unwilligkeit zu dieser Unterscheidung als Symptom des politischen Endes».

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Natürlich gilt dasselbe für die Bürgerrechtsbewegung. Deren Fähigkeit zur politischen Differenzierung war naturgemäß unterentwickelt. Als Liberale und Moralisten sahen die Bürgerrechtler in der Staatspartei und deren Reprä­sentanten «von der Geistseite her» immer nur den «Diskussionsgegner», den man entweder in der Debatte überwinden oder aber moralisch ins Abseits stellen wollte. Die bis heute anhaltende Dauerkritik an der Glaub­würdig­keit bestimmter Politiker beweist, daß die Bürgerrechtler am Kernbestand des Politischen - dem Willen zur Macht - ebenso vorbeireden, wie sie andererseits das Problem der Simulationspolitik mit ihrer Kritik verfehlen.

Insoweit war zu erwarten, daß die Reste der einstigen Bürgerrechtsbewegung ihre Kräfte in dem Bemühen vergeuden würden, sich von angeblichen «falschen Freunden» im Establishment der untergegangenen DDR zu distanzieren. Mag der moralische Impuls eines solchen politischen Tuns vielleicht respektabel sein. Aufklärerisch ist das andauernde Spektakel gewiß nicht.

Eher schon erweist sich die Skandalisierung eines bestimmten Politikerverhaltens, wie die Symptomatik des Falles Manfred Stolpe beweist, als Selbstblockierung für weitere Aufklärung. Denn es ist längst klar, daß das in jahrzehntelangem Umgang mit den DDR-Potentaten geschulte Politikverständnis und -verhalten des Brandenburgers auch zum normalen Politrepertoire in der parlamentarischen Demokratie gehört. Die Simulation eines Skandals mit dem Ziel einer zeitweiligen Wiederherstellung der Glaubwürdigkeit von Politik kann diese Erkenntnis nur vernebeln. Bemühte man sich früher darum, einen Skandal zu vertuschen, geht es heutzutage eher schon darum zu verbergen, daß ein «Skandal» gar keiner ist.

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   Der Preis der Freiheit       ^^^^   

 

Eines kann man nach den Erfahrungen der Wende auch heute schon ganz sicher sagen: Jede Befreiung bezieht sich gleichermaßen auf das Gute wie das Böse! Im Guten wie im Bösen wurden auch im Nachwende-Ostdeut­schland Handlungsspielräume erweitert, Grenzen durchbrochen und eingeschliffene Normen verletzt, wurde das Denken, Fühlen und Wollen der Menschen neu ausgerichtet. Und es wurde nicht zuletzt kriminelles Handeln freigesetzt. 

Der Siegeszug der Menschenrechte hat jedenfalls zwischen Elbe und Oder einer spontanen Kriminalisierung aller gesellschaftlichen Bereiche Tür und Tor geöffnet. Weshalb der Rückblick auf die eben erst ins Werk gesetzte Einheits-Geschichte die Vermutung stärkt, daß nicht zuletzt kriminelles Handeln die Kehrseite jener Tapete ist, deren Vorderseite Modernisierungsprozesse zeigt.

Betrachtet man die statistische Kriminalitätsverteilung zwischen den alten und neuen Bundesländern, so läßt sich feststellen: Wenigstens in dieser Hinsicht ist die Einheit längst vollendet! Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern waren schon 1993 unter den Flächenländern in Deutschland Spitzenreiter, wie man in der Polizeilichen Kriminalstatistik nachlesen konnte. 

 

7)  Im Hinblick auf Manfred Stolpe haben seine politischen Kontrahenten zudem nicht bedacht, daß im Politischen nicht selten eine spezifische «Trotzreaktion» zum Zuge kommt.
     «Es gibt eine Trotzreaktion für Thron und Altar - gegen das eigene bessere Wissen und obwohl man die dürftigen Repräsentanten gehört und gesehen hat. Auch wächst der Ekel vor dem, was man heraufliommen sieht. Da nimmt man schon mit einem abgedankten General vorlieb» (ERNST JÜNGER). 

8)  Mit einem Bevölkerungsanteil von gesamt 4,9 Prozent brachten es beide Länder zusammen auf einen Straftatenanteil von 8,7 Prozent.

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Und auch die Sachsen, Sachsen-Anhaltiner und Thüringer haben den Anschluß geschafft. Insgesamt gesehen hat sich die Zahl der Straftaten, die der Polizei hierzulande bekannt geworden sind, innerhalb der ersten drei Jahre Einheit ungefähr verzehnfacht. 9) 

Angesichts einer solchen Steigerungsrate muß der immer wieder einmal erhobene Vorwurf, die Artikulation der «ostdeutschen Sicherheitsbedürfnisse» sei subjektiv überzogen und Ausdruck charakterlicher Deformiertheit, sicherlich relativiert werden. Welche subjektiven Reaktionen hätte es wohl gegeben, wenn in Deutschland-West die Kriminalstatistik zwischen 1990 und 1993 eine vergleichbare Steigerung ausgewiesen hätte — also flächendeckend über Nacht in etwa das Niveau erreicht worden wäre, wie es in einigen amerikanischen Großstädten herrscht?

 

9)  Man kann sich den kriminogenen Sprung, der in solchem Zahlenwerk nur unzureichend zum Ausdruck kommt, gar nicht groß genug vorstellen.
Allein in den Städten Chemnitz, Dresden, Halle und Cottbus wurden 1993 zusammengerechnet weit mehr Straftaten registriert wie in den Jahren vor dem Mauerfall in der ganzen DDR. 
Die zum Beispiel für Sachsen-Anhalt 1993 kriminalstatistisch ausgewiesene absolute Häufigkeitszahl für «Diebstahl unter erschwerenden Umständen» übersteigt um das Doppelte die im Durchschnitt der letzten DDR-Jahre insgesamt registrierte Diebstahlskriminalität, gar nicht erst zu reden von der konkreten Tatschwere der einzelnen Handlungen. 
Bei den Gewaltdelikten ergibt sich kein anderes Bild. Mord und Totschlag haben sich im selben Zeitraum verfünffacht. Während die Zahl der registrierten gefährlichen und schweren Körperverletzungen annähernd die Zahl aller Körperverletzungen erreicht, wie sie zuvor in der DDR im Jahresdurchschnitt registriert wurden.

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Die Erzählung der Einheit als Kriminalgeschichte muß kein Defätismus sein. Der amtlich registrierte Kriminalitätsschub in den Neuen Bundesländern kann ja tatsächlich zunächst einmal als Preis der Freiheit ver­standen werden. Der Sprung in die Marktwirtschaft, den siebzehn Millionen Deutsche gewissermaßen aus dem Stand mehr oder weniger konsequent für sich praktiziert haben, ist ohne die begleitenden kriminellen Machen­schaften, ohne unredlich zusammengerafftes Eigentum, Gewalttätigkeiten, Bodenspekulation, Prostitution und Korruption schwer vorstellbar: «Das gesunde Eigeninteresse als Motor der Marktwirtschaft».

Niemand kann über das Ergebnis überrascht sein. Mit dem Anschluß haben wir schließlich nicht für das Gute optiert. Selbst wenn zarte Seelen dies noch immer meinen.

Man kann auch anders herum fragen: Hat nicht gerade die ununterbrochene Produktion von Positivität, Sicher­heit und Geborgenheit zu DDR-Zeiten alle jene Folgen hervorgebracht, an denen der Mauer-Staat schließlich gescheitert ist? Man denke nur an die «Sozialistische Menschengemeinschaft», die geschaffen werden sollte. Oder an den bis zuletzt propagierten Kinderglauben, die unter «sozialistischen Verhältnissen» registrierte Krimi­nalität sei nichts weiter als ein «Relikt unserer kapitalistischen Vergangenheit» beziehungsweise «aus dem Westen importiert». Und war nicht der verlustreiche Versuch, eine Sicherheits­struktur zu konstruieren, die jegliches kriminelle Element ausschalten sollte, von vornherein unmenschlich und selbst verbrecherisch?

Wer seinen verfemten Teil ausmerzen will, hat Jean Baudrillard einmal gesagt, besiegelt unweigerlich seinen eigenen Tod.

Heute erleben wir nun, wie die vierzig Jahre lang auf Eis gelegene Kriminalität als ein nicht unwesentlicher Bestandteil des «verfemten Teils» fröhliche Urständ feiert. Man hätte sie von Amts wegen fördern müssen, wäre sie nicht selber so lawinenartig über die Neubundesländer hingerollt. So sehr dürfte es sich dabei um ein unverzichtbares empirisches Merkmal der im Zeichen des Tauwetters einherkommenden westlichen Modernisierung handeln.

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Scheinbar negative Überlegungen dieser Art bedeuten natürlich nicht, man müsse blöde «ja» sagen zur Verbrechensentwicklung hierzulande. Wir sollten nur genau diese Entwicklung zuerst einmal auch mit all ihren Schattenseiten akzeptieren. Und sei es deshalb, weil wir wissen, daß an sich alles Gute nur das in Dienst gestellte Böse von gestern ist. Außerhalb einer solchen Perspektive ist ein affirmatives Verhältnis zu dem, was ist, nicht zu haben.

Es ist also nicht nur der schon aus hygienischen Gründen unerläßliche «Kälteschock des Rechtsstaats» (Andreas Zielcke), welchen die Hinzugekommenen «durchstehen» müssen, um sich anschließend in ihren umgekrempelten Verhältnissen wieder zurechtzufinden. Das Klagelied: «Wir haben Gerechtigkeit erwartet und den Rechtsstaat bekommen», worauf die Kälteschockparole ihrerseits defensiv reagiert, enthält ja viel gravierendere Defizite als lediglich die Unkenntnis, wie ein Rechtsstaat realiter funktioniert.

Die «Gerechtigkeit», die da angeblich gewollt sein will, ist schließlich, wo sie nicht gleich dumpfes Rachebedürfnis ist, nichts weiter als das «Ideal», «die Idee» und was noch darüber hinausreicht — also das eigentlich Seiende. Währenddessen der Terminus «Rechtsstaat» allenfalls als Name für das gebraucht wird, was nicht ein Seiendes sein soll. Darin aber liegt, wenngleich in populistischer Form, wiederum die Differenzierung in eine wahre («an sich seiende») und eine scheinbare Welt. Also eine Unterscheidung, die politisch weiterhin nach der Taube auf dem Dach schielt und den Spatz in der Hand geringschätzt.

Darüber hinaus spricht sich auf diese Weise zugleich der Drang aus, die vielfältigen Ambivalenzen des Einigungsprozesses möglichst restlos zu tilgen. Handle es sich dabei nun um dubiose Karrieren ehemaliger Bonzen, um Grauzonen der Legalität oder die milden rechtsstaatlichen Aburteilungen von DDR-Gerontokraten. Die Folge solcher Tilgung könnte freilich nur neue Intoleranz sein. Das moralisierende Gehabe der Gerechtigkeits­apostel (am liebsten hätte man ja bekanntlich «Tribunale» veranstaltet) kann darüber nicht hinwegtäuschen.

Primär kann hier allein eine Erweiterung der Perspektive helfen. Erweitern wir diese nicht radikal genug, laufen wir Gefahr, die Einigung im Ergebnis nurmehr als ein einziges Desaster zu erzählen — frei nach dem Motto: «Bonzen und Kriminelle sind die einzigen Gewinner der Wende». Immunisieren gegen depressive Sichtweisen solchen Zuschnitts kann zum Beispiel schon eine Erweiterung des geographischen Horizonts. Wer wenigstens ansatzweise die Verhältnisse in Polen oder Tschechien zur Kenntnis nimmt, wird sich nicht mehr darüber aufregen, daß auch hierzulande in diesen Zeiten ausgemusterte Stasi-Leute in der Wirtschaft ihren Schnitt machen, Gauner und Zuhälter ihre Konten aufbessern, gewesene Blockparteifunktionäre den Postenschacher jetzt erst richtig perfektionieren, Treuhandmanager die Gunst der Stunde und des großen Durcheinanders für persönliche Zwecke ausbeuten, Hooligans über die Stränge schlagen und so weiter und so fort.

Die Geschichte der Moderne ist ohnehin eine Geschichte immer schärferer Opposition zwischen gesell­schaft­licher Existenz und unserer überlieferten Rechtskultur. Daß in einer Umbruchszeit wie der unsrigen die Doppelleben kulminieren, braucht uns also nicht wundern. Das ist nicht anders! Im Rahmen dieser Opposition ist die Abnormität zunächst nichts weiter als das Andere der Norm, sind Gesetzesübertretungen das Andere der Gesetzestreue, ist die Barbarei das Andere der Zivilisation, der Ausländer das Andere des Staatsbürgers. Beide Seiten hängen voneinander ab. Und zwar genau in dem Sinne, wie es der Richter in <Der Balkon> der diebischen Prostituierten erklärt: «Mein Dasein als Richter ist eine Emanation, ein Ausfluß deines Daseins als Diebin [...] Wenn ich nicht mehr das Gute vom Bösen scheiden dürfte, wozu wäre ich dann nütze?»

Es wäre vergebliche Liebesmüh, entscheiden zu wollen, in welchem Maße die Kriminalität den Umbau der Verhältnisse in den Neubundesländern beschleunigt, die Ordnung des Bestehenden stützt oder sie unter­miniert. Sie tut wohl beides. Auch mittelfristig gesehen dürfte es jedoch kaum der ostdeutsche «Nachwende-Schub» der Kriminalisierung des sozialen Organismus sein, welche die deutsche Gesellschaft aus ihren rechtsstaatlichen Angeln heben könnte. Die Art und Weise, wie die Menschen in den Neubundesländern die gewaltige Kriminalitätssteigerung hingenommen haben, zeigt, welche Belastungen hier letztendlich verkraftet werden können.

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Rolf Henrich  1996