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6. Die Kunst des Großen Umsonst

Melancholie als ästhetische Produktivkraft

      Festschrift 1989

 

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Melancholie hat mit Enttäuschung, Vergeblichkeitserfahrungen, dem Eingeständnis der eigenen Ohnmacht und des Ausgeliefertseins, mit Desengagement und Handlungsverzicht zu tun, und deshalb lautet die glücklichste Übersetzung ihrer mittelalterlichen Entsprechung, der acedia, auch nicht »Überdruß«, sondern »Wirkscheu«.

»Der Melancholiker«, heißt es im frühen 17. Jahrhundert bei Sir Thomas Overbury, »besteht nur aus Kontemplation und ist ohne allen Tatendrang«; und einige Jahrzehnte später geißelt der Satiriker Samuel Butler den enervierenden Inaktivismus des Schwarzgalligen mit den Worten: »Er führt ein Leben wie ein Hund an der Leine, der nicht folgen will und sich mitschleifen läßt, obwohl er sich dabei fast erdrosselt.«

Dieses plastische Bild taugt noch immer zur Identifizierung und Denunzierung eines Naturells, das sich nicht vor den Karren des Fortschritts spannen läßt, eines Charaktertyps, der es sich verbittet, als Treibsatz für die goldene Zukunft der Enkel verheizt zu werden, und der deshalb von den Menschheitsbeglückern und Heilsbringern aller Zeitalter als Ballast empfunden wurde, den es mitzuschleppen galt und auf den man dafür einprügelte wie auf einen störrischen Köter, sobald es nicht mehr vorwärts ging und die Insel der Seligen wieder einmal hinter dem Horizont versank.

Alles durfte und darf man deshalb den schwarzen Schafen im Reiche des Homo faber unterstellen und nachsagen, nur eben keinen Tatendurst, keinen Willen zur Macht und zum Machen. Pragmatische Abstinenz ist ihr Schicksal, weil sie alle Verheißungen als Wahn durchschauen und die neidisch verachten und verächtlich beneiden, die noch ungebrochen in ihren Illusionen dahinleben können. Den philosophisch Enttäuschten aber ist der Rückweg abgeschnitten. Die affektive Reaktion auf solche Ausweglosigkeiten nun ist Trauer, und die wiederum blockiert nicht nur den Handlungswillen, sondern schränkt auch das, Mitteilungs­bedürfnis radikal ein.

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Wer trauert, der hat einen Kloß im Hals, und es kostet ihn Anstrengung und Überwindung, sich zu Wort zu melden: »Es ist in aller Trauer«, so Walter Benjamin, »der Hang zur Sprachlosigkeit, und das ist unendlich viel mehr als Unfähigkeit oder Unlust zur Mitteilung.«

Was nach dieser ersten Annäherung an die Schwermut für melancholische Kunst und Literatur zu erwarten steht, wären somit allenfalls Kurzmitteilungen vom Rande des Verstummens, ab und an eine lakonische Flaschenpost, die so an den Strand eines Ozeans von Unsagbarem und Unsäglichem geworfen würde wie Justinus Kerners Gedicht:

Poesie

Poesie ist tiefes Schmerzen,
Und es kommt das echte Lied
Einzig aus dem Menschenherzen,
Das ein tiefes Leid durchglüht.

Doch die höchsten Poesien
Schweigen wie der höchste Schmerz,
Nur wie Geisterschatten ziehen
Stumm sie durchs gebrochene Herz.

Aber der literatur-, der kulturgeschichtliche Befund ist ein ganz anderer. Melancholie paralysiert, lähmt nicht, sondern erweist sich im Gegenteil als ästhetische Produktivkraft sondergleichen. Bei Nicht-Künstlern — und melancholischen Philologen — mag nach wie vor die Beobachtung Johann Georg Zimmermanns zutreffen, der 1785 in seinem Traktat <Über die Einsamkeit> notierte: »Seine Bücher sieht er an wie vielfarbige Klötze, die zu nichts nütze sind, als ihm durch ihren bunten Anblick den Schwindel zu geben«; der entsprechend disponierte Literat allerdings beäugt keine Bücher, er schreibt welche.

Mehr noch, er verdankt seiner landläufig mit Deprimiertheit oder Schlimmerem gleichgesetzten Gemüts­anlage nicht selten einen künstlerischen Elan, der aufs frappierendste jenem Durchhaltevermögen gleicht, das der Kirchenvater Cassian den »athletae Christi«, den acedia-bedrängten Anachoreten in der ägyptischen Wüste, so nachdrücklich ans Herz legte.

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»Es war eine melancholische Laune«, liest man zum Beispiel mit wünschenswerter Deutlichkeit bei dem emsigen Montaigne, »hervorgebracht durch den Kummer über die Einsamkeit, in die ich mich vor einigen Jahren begeben hatte, die mir zuerst den Gedanken in den Kopf gesetzt hat, mich mit Schreiben zu beschäftigen«. 

Ludwig Völkers vor einigen Jahren erschienene Anthologie deutscher Melancholiegedichte bringt es auf stattliche sechshundert Seiten. Und auch bei Einzelpersonen findet sich diese staunenswerte Robustheit der Ernüchterung, ja geradezu ein Luxurieren im Heillosen, das sich in Robert Burtons <Anatomie der Melancholie> wahrhaft enzyklopädisch verausgabt.

Dieses Phänomen ist, wie man zugeben wird, erklärungsbedürftig, wobei wir das Argumentieren mit Quant­itäten gleich wieder an die Computerindustrie abtreten, wo es hingehört. Die Kunst plärrt nicht, sie hat es nicht mit der Erzeugung von Datenmassen und Informationslawinen, sondern mit Erfahrungs­intensität zu tun, was ohne Einschränkung auch von ihrer melancholischen Spielart gilt. Aber auch unter diesem qualifizierenden Blickwinkel löst sich der Widerspruch nicht auf, sondern verschärft sich eher noch. Warum, so muß man fragen, verschließt denn der desillusionierte Künstler nicht ein für allemal die Augen? Wieso folgt auf die Einsicht, daß alles eitel ist, nicht die ästhetische Kapitulation? Niemand vernimmt doch die Sirenenklänge der Bewußtlosigkeit, des sich Aufgebens und Fallenlassens deutlicher als der Schwermütige:

Sterben - schlafen -
Nichts weiter! - und zu wissen, daß ein Schlaf
Das Herzweh und die tausend Stöße endet,
Die unsers Fleisches Erbteil - 's ist ein Ziel,
Aufs innigste zu wünschen.
Sterben - schlafen -

(Hamlet III, 1, 60ff.)

Und doch schreibt Shakespeare seinen Hamlet, Goethe seinen Werther, Büchner seinen Danton, Tieck* seinen William Lovell. Für Lenau waren seine Arbeiten »blutige Fetzen eines schlechten Verbandes«, und doch bringt dieser Versehrte ein Epos wie die Albigenser zustande und setzt mit seinem Werk die trotzige Maxime in die Tat um: »Ich will mich selber ans Kreuz schlagen, wenn's nur ein gutes Gedicht gibt.«

*deto-2005: Kleine Zugabe von mir: Melankolie  von Tieck

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Woher kommt die Kraft eines Kraftlosen und Lebensuntüchtigen wie James Thomson, angeblich ein »minor poet« des Spätviktorianismus, dem wir gleichwohl mit »The City of Dreadful Night« eines der ganz großen Melancholiegedichte der Weltliteratur verdanken?

Wieso gebiert die ruinöse Weltanschauung, der, wie Hartmut Böhme mit herausfordernder Offenheit formuliert, »melancholische Verrat an den Gesetzen des Fortschritts und der Aufklärung«, ein so bewundernswert intaktes und lauteres ästhetisches Gebilde wie Tarkowskijs Film Nostalghia? Wieso gilt das Paradox des Giacomo Leopardi nach wie vor:

Selbst das Wissen um die nie zu füllende Leere und um die Falschheit alles Schönen und Großen ist in gewisser Weise schön und groß und erfüllt die Seele, wenn es sich in großen Geisteswerken ausgedrückt findet.

Eine Antwort erhalten wir nur, wenn wir uns zumindest vorläufig von jener weiland emanzipatorisch geheißenen Selbstblendungskunst abkehren, die unermüdlich Silberstreifen auf den Horizont retuschiert, uns fürsorglich mit Utopien stillt und Tag für Tag in der Morgenröte einer besseren Welt badet. Statt dessen wollen wir ihre zwielichtige Schwester in den Blick nehmen, die der Dämmerung und den Sonnenuntergängen verpflichtet ist, eine Kunst, deren leise Stimme schon vor zweieinhalb Jahrtausenden bei Theognis von Megara zu vernehmen war:

Nimmer geboren zu sein, ist Erdbewohnern das Beste,
Nimmer mit Augen des Tags strahlende Leuchte zu sehen,
Oder geboren, sogleich zu des Hades Toren zu wandeln,
hoch von der Erde bedeckt, liegend im hüllenden Grab.

In der Geschichte der Gattung war diese Grabesstimme nie tot zu kriegen, und die Kunst des Großen Umsonst hat noch in jeder Epoche, die sie abschaffen wollte, über kurz oder lang Wiederauferstehung gefeiert.

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Es ist wahr, sie hat nie die Lautstärke der Sieger, der Evangelisten, der Fortschrittsapostel erreicht, ist im Gegensatz zum Gebrüll und Getöse der diversen Kreuzzüge für diverse heilige Sachen nie über das Flüstern hinaus­gekommen: eine leise Widerrede, immer am Rand des Verstummens, immer randständig, aber nicht unterzukriegen — auch von den 2500 Frühlingen seit Theognis nicht. Noch einmal: Wie geht das an? Blenden wir ungefähr vierhundert Sommer zurück, als ein junger Dramatiker, der Frau und Kinder in Stratford hatte sitzenlassen, um in der englischen Hauptstadt sein Glück zu machen, Sonette zu schreiben begann. Eins davon eröffnet er so:

Wie ist von dir, dem Stern des flüchtgen Jahrs,
Die Trennung mir zum öden Winter worden!
Wie schüttelte mich Frost, wie dunkel wars,
Wie dürr dezemberschaurig aller Orten!
Und doch war Sommer diese Trennungszeit,
[...]

Beschrieben wird in Shakespeares 97. Sonett ein verwinterter Sommer, den der Sprecher nicht genießen, an dem er sich nicht erfreuen kann, weil er etwas Entscheidendes vermißt. Das schon in der ersten Zeile genannte Schlüsselwort ist »Trennung« und also Abwesenheit. Melancholie ist entsprechend immer eine Mangelerfahrung, denn das, worauf es ankommt, ist nicht da. Und weil dieser Zustand andauert, findet der Schwermütige auch nicht problemlos Zugang zu dem <Rest>, der ja existiert und präsent bleibt. Die Vögel singen, die Bäume grünen, wie das Gedicht im folgenden schildert; der Melancholiker aber steht als Zaungast draußen vor. Er lebt in einer Gegenjahreszeit, in einer Gegenwelt, die sich durch Dunkelheit, Frost, Öde, Leblosigkeit auszeichnet und die Fülle des Sommers und der Erntezeit gleichsam antizipatorisch entleert.

Wir stoßen hier mit Hilfe Shakespeares auf das höchst befremdliche Verhältnis der Schwermut zur Zeit, das er in der doppeldeutigen Wendung »time removed« — Trennungszeit und Entrückung — auf den poetischen Begriff bringt. Was er beschreibt, ist eine paradoxe Mischung aus Verzögerungs- und Beschleunigungsverhalten: Der Sprecher nämlich ist im Winter <steckengeblieben> und dem Sommer und Herbst eben dadurch doch gleichzeitig schon wieder um eine Saison voraus, d.h. <voreilig> erneut im Winter angekommen.

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Zweifellos gehört auch die Feststellung Hamlets am Ende des ersten Akts: »Die Zeit ist aus den Fugen« in diesen Zusammenhang, denn die Erfahrung der Dissonanz, des <Aus-dem-Rhythmus-geraten-Seins> ist in der Tat zentral. Der Melancholiker ist nie ganz da, wie der gesunde Optimismus, dessen Vertreter dem eigenen Bekunden nach ja immer »voll da« sein werden, wider Erwarten treffend formuliert. Der Schwarzgallige ist immer auch woanders — und dieses <Woanders> ist sein Gefängnis, aber zugleich sein Asyl. Dorthin nämlich können ihm die Realitätstüchtigen des Jetzt und Hier nicht folgen. Und vielleicht, so eine erste provisorische Auskunft, war die Melancholie, war die melancholische Kunst schon deshalb nicht auszurotten und auszutreiben, weil die Betroffenen immer schon in der Fremde, im Exil gelebt haben und leben. Was bereits abwesend ist, in der Absenz existiert, die Shakespeare in der ersten Zeile benennt, das kann man eben nicht entfernen.

Was aber — eine Antwort erzeugt wie üblich die nächste Frage — hat sie denn vertrieben und exiliert? Warum sind sie in dem, was ist, nicht mehr zu Hause wie die Tiere und jene Mitmenschen, die so selig auf ihrem Urvertrauen dahindümpeln wie ein Stück Kork auf Brandungswellen? Eben darüber hat Shakespeare ein zweites Gedicht geschrieben, das in seinem Sonett-Zyklus die Nummer 73 trägt:

Die Zeit des Jahres kannst du an mir sehn,
Wenn, kaum mit wenig gelbem Laub behangen,
Die Zweige zittern in der Fröste Wehn,
Verfallnen Chören gleich, wo einst die Vögel sangen.

Ein solches Dämmerlicht stell ich dir vor,
Wie, wenn die Sonne sank, im Westen bleichet;
Allmählich hüllts die Nacht in trüben Flor,
In Todes Schein, der alles Leben scheuchet.

Du siehst in mir des Feuers Überdruß,
Das auf der Asche seiner Jugend liegt
Wie auf dem Todbett, wo es sterben muß,
Und an dem Stoff, der es ernährt, versiecht.

Du siehst es ein, und deine Lieb umfaßt
Noch feuriger, was du nicht lang mehr hast.

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Wieder eine Spätherbst- und Winterwelt, ein Verfallen, Verlöschen, Untergehen, Verschatten, Umnachten. Nur nicht draußen in der Natur, sondern erlebt am eigenen Leib als Eintagsfliegengefühl und Ephemeriden­schock.

Wir beginnen zu verschwinden, weiß das lyrische Ich, kaum daß wir angekommen sind, und die Vertreibung aus der Gegenwart und aus der Wirklichkeit ist kein melancholisches Hirngespinst, sondern ein biologisches Faktum. Das Intervall, in dem wir sagen können: »Wir waren nicht« und »Wir werden nicht mehr sein« ist so verschwindend klein angesichts der Zeiträume, in denen wir durch Abwesenheit glänzen, daß das schwermütige Unbehaustheitsgefühl eigentlich die selbstverständlichste Sache der Welt sein müßte.

Realitätsverleugnung, das dämmert uns langsam, wird von sogenannten Realisten praktiziert, die ihre rosarote Brille zum Maß aller Dinge erhoben wissen möchten. Aber der größte Affront für die ideologischen Selbstverewiger und technokratischen Reparierer und Reparadisierer ist nicht einmal das Nichtmitspielen, das sich Verweigern und die Unbelehrbarkeit der Melancholiker, sondern die auch vom Gedicht akzentuierte Behauptung, sie, ausgerechnet sie, unterhielten aufgrund ihres Interventionsverzichts ein intimeres Verhältnis zur Natur als die ihre Umwelt mit allen Mitteln zivilisierenden und humanisierenden Herren der Schöpfung:

Du siehst es ein, und deine Lieb umfaßt
Noch feuriger, was du nicht lang mehr hast.

Das ist deutlich. In den Schlußzeilen ist von Liebe die Rede, der höchsten Stufe der Intimität und Annäherung an ein Anderes, ein Nicht-Ich, und zwar in einem Atemzug mit Verfall, Altern, Abschiednehmen. Kein flamm­ender Appell an die Heilkunde, endlich etwas zu tun, gegenzusteuern, zu verjüngen; kein Sterbens­wörtchen des Protests, vielmehr die Behauptung eines für das aufgeklärte Denken wahrhaft skandalösen Kausal­zusamm­enhangs: Eine Intensivierung des Kontakts, eine Stärkung der affektiven Bindungen erfolgt, weil das Geliebte sich zu verändern, zu devitalisieren, zu entziehen beginnt.

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Am nächsten, so die paradoxe Einsicht der Melancholie und dieses melancholischen Shakespeare-Sonetts, sind wir einem Wesen oder einer Sache dann, wenn wir sie loslassen müssen — und nicht, wie die Macher­philosophie behauptet, wenn wir sie in unserer Gewalt haben oder ihr unsere Gewalt antun. Deshalb muß man auch endlich aufräumen mit der böswilligen Unterstellung, die Schwermut sei menschen- und lebensfeindlich. Das Gegenteil ist wahr, der Melancholiker hat ein erotisches Verhältnis zur Welt, er liebt das, was ihm begegnet — allerdings auf die einzig ehrliche Art und Weise, die die Eintagsfliegenexistenz zuläßt, im Modus des Loslassens und Abschiednehmens nämlich.

Eine unglückliche Liebe, jawohl. Denn im Herzen sind wir alle Eleaten und möchten jeden Augenblick mindestens ein Jahrhundert lang inspizieren dürfen, bevor wir den nächsten herbeiwinken. Aber das Universum richtet sich nun einmal nicht nach den Wunschvorstellungen des Parmenides, sondern nach den Befürchtungen des Heraklit — und der hieß in der Antike bekanntlich »der weinende Philosoph«.

Nur in der Kunst wird der Traum von der stillgestellten, fixierten, wiedergeholten und also wiederholbaren Zeit für Stunden wahr. Am auffälligsten ist das für den modernen Menschen im Kino, in dem er nicht nur ein zweites, drittes, viertes Leben zu leben vermag, sondern sich die Lebenserfahrungen, sagen wir, seiner 1001. Existenz als Cheyenne in Leone's Spiel mir das Lied vom Tod auch beliebig oft vergegenwärtigen kann:

Das Prinzip [des Kinos] besteht darin, daß der Mensch zum erstenmal in der Geschichte der Kunst und Kultur eine Möglichkeit gefunden hatte, die Zeit unmittelbar festzuhalten und sich diese zugleich so oft wieder reproduzieren zu können, also zu ihr zurückzukehren, wie ihm das in den Sinn kommt. Der Mensch erhielt damit eine Matrix der realen Zeit. Die gesichtete und fixierte Zeit konnte nunmehr für lange Zeit (theoretisch sogar unendlich lange) in Metall­büchsen aufgehoben werden.

Tarkowskijs Beobachtung trifft zu, aber der für den Film daraus abgeleitete Absolutheitsanspruch ist sicher nicht aufrechtzuerhalten. Denn Verflossenes ist nicht nur in Metallbüchsen konservierbar, sondern auch zwischen Buchdeckeln, auf Pergament und auf Leinwand.

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Auch die Literatur hat genau die Eigenschaft, die Tarkowskij für den Film reklamiert, sie versiegelt Zeit, macht sie reproduzierbar, und keiner hat das noch kurz vor der Erfindung des Kinos anschaulicher und <kinogerechter> formuliert als Oscar Wilde:

Auf dem zerfallenen Festungsgemäuer von Troja liegt die Eidechse wie ein Gebilde aus grüner Bronze. Die Eule hat ihr Nest in den Palast des Priamus gebaut. Über die verlassene Ebene ziehen Schaf- und Ziegenhirten mit ihren Herden; und wo auf der weinfarbenen, öligen Meeresflut ... die mächtigen Ruderschiffe der Danaer in all ihrem Glanz einherzogen, sitzt jetzt der einsame Fischer im kleinen Boot und beobachtet die auf und nieder hüpfenden Korken seines Netzes. Doch jeden Morgen werden die Tore der Stadt aufgestoßen und zu Fuß oder in von Rossen gezogenen Streitwagen ziehen die Krieger in die Schlacht und spotten der Feinde hinter ihren ehernen Masken. Den ganzen Tag lang tobt der Kampf, sinkt aber die Nacht herab, leuchten die Fackeln neben den Zelten, und der Dreifuß brennt in der Halle.

Zwei Welten: hier und heute — damals, das mythische Troja und eine es wie eine Pflanzendecke über­wuchernde pastorale Nachgeschichte. Kunst desertiert aus dem Idyll in sein Gegenbild, in ein Woanders und läßt es auferstehen. Die Affinitäten zur Melancholie und zum Melancholiker liegen auf der Hand. Auch der Künstler ist nie ganz da, ist in der gegenwärtigen Faktizität nicht zu Hause, bricht aus dem Gegebenen aus. Das hieß in den ideologiekritischen 6oern Eskapismus und war als Schimpfwort gemeint. Inzwischen haben sich auch diese Zeiten gewandelt, und manch einem kommt der Verdacht, daß der Vorwurf der Wirklichkeitsflucht reichlich einäugig war und man Eskapismus deshalb vielleicht besser mit Entronnensein übersetzte.

Wie dem auch sei, die Kunst ist die natürliche Alliierte der Melancholie, weil sie Vergänglichkeit, das ewig Unewige unserer Existenz, nicht verleugnet, sondern wahrnimmt und darauf reagiert. Und weil diese Reaktions­weise zweitens ihrerseits melancholisiert.

Denn weder ein Tarkowskij noch ein Homer oder Wilde können den schwermütigen Traum von der Versiegelung, dem Stillstellen und Zurückdrehen der Zeit ja de facto erfüllen, sie konservieren vielmehr nur ein Abbild, ein Simulacrum, ein Als-Ob. Und die Kunst ist im Gegensatz zur Ideologie und zur Religion ehrlich genug, den Ersatzcharakter ihrer Hervorbringungen einzugestehen.

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Jeder weiß, daß ein Stilleben weder in die Kategorie Obst gehört noch jemals eßbar sein wird. Magritte bebildert in diesem Sinne eine Binsenweisheit, wenn er unter die Darstellung einer Pfeife den Satz setzt: »Das ist keine Pfeife.« Unter jedem Kunstwerk steht implizite: »Das ist nicht das Leben« oder »Das ist nicht die Wirklichkeit«. Das aber ist erneut ein melancholisches Eingeständnis, denn kein Genie, keine Kunstfertigkeit kann die Kluft überbrücken zwischen Welt und Weltbild, zwischen der verschwenderischen, in jedem Augenblick auf Nimmerwiedersehen verschwindenden Fülle der Realität und dem winzigen Ausschnitt, den ein Gedicht, ein Aquarell, eine Theaterszene festhält.

Auch die Kunst entkommt also der schwermütigen Erfahrung des prinzipiellen Ungenügens nicht. Sie ist nicht das Medium des Triumphes über die Vergänglichkeit, schon deshalb nicht, weil ihre Produkte selbst vergänglich sind, sondern der Versuch der Gegenwehr in einer nicht enden wollenden Serie von scheiternden, allerdings bisweilen grandios scheiternden Anläufen.

Denn auch das Kunstwerk stirbt — langsamer als anderes, manchmal über Jahrtausende —, aber dennoch unaufhaltsam. Der ästhetische Protest gegen das Verschwinden entkommt dem Verschwinden nicht. Horaz' triumphierendes »aere perennius« ist schon so zerfressen, so entewigt, daß es dem Durchschnittsleser erklärt und übersetzt werden muß. Und diese mutmachende Durchhalteparole streicht sich damit selbst ebenso durch wie die Säuleninschrift in Percy Bysshe Shelleys »Ozymandias«:

Ozymandias

Ein Mann, zurück aus längst vergeßnem Land,
Erzählt: Zwei Riesenbeine, Stein, des Leibs beraubt,
Stehn in der Wüste. Nah dabei im Sand,
Zerschmettert, halb versunken, liegt ein Haupt:

Auf krause Lippen ist ein Stolz gebannt,
Ein höhnisch kaltes Lächeln; wer es sieht,
Weiß, wer einst herrschte über dies Gebiet
Mit sattem Herzen und mit kalter Hand.

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Und auf dem Sockel liest man eingebrannt:
Ich bin Ormandis, aller Fürsten Fürst.
Schaut, was ich schuf, ihr Großen, und verzweifelt.

Nichts blieb als dies. Vom Himmelsrund umspannt,
Streckt sich die Wüste hin, endlos und leer,
Und nur der Sand streicht um die Trümmer her.

Shelley liefert eine Momentaufnahme aus einem Prozeß kaum merklicher und trotzdem unaufhaltsamer Erosion und Atomisierung. Herausgegriffen wird ein Verfallsstadium, in dem das, was war, noch mühelos zu rekonstruieren, das, was kommt, aber schon ebenso klar abzusehen ist. Die Königsstatue, zugleich Kunstwerk und Einschüchterungsinstrument der Macht, befindet sich in einem Zustand lädierten Noch-Überlebens, wodurch die Allmachtsphantasien des Potentaten und die Verewigungsintention des Bildhauers unversehens in ein ironisches Selbstdementi umgekippt sind.

Kunst thematisiert also nicht nur melancholische Grunderfahrungen, sondern exemplifiziert sie an sich selbst, denn die Zeit zerbricht auch das ästhetische Siegel fiktionaler Überzeitlichkeit.

Wie reagiert das Kunstwerk nun auf die Unausweichlichkeit der eigenen Niederlage, auf den Verschleiß, das Shelleysche Versanden und ultimative Begrabenwerden in den Wüsteneien und Verwüstungen der Geschichte? Gegen den Widersacher Entropie kann die Kunst nicht gewinnen, das steht fest, und doch denkt sie nicht daran, die Waffen zu strecken. Vielmehr verfällt sie auf einen genialen Schachzug, ein Münchhausen-Manöver, das sie in den Rücken des unüberwindlichen Gegners bringt und das uns nicht nur Shelley vorexerziert.

Es gibt nämlich nur einen Weg, als Künstler mit der Vergeblichkeitserfahrung zu leben, ohne daran zu zerbrechen — den, das Nichtigkeitserlebnis selbst künstlerisch zu gestalten, das Große Umsonst in einem großen Kunstwerk gleichsam zu bannen. Tarkowskijs filmische Ikonen des Scheiterns von Iwans Kindheit über den Stalker bis zum Opfer sind das vielleicht eindrücklichste moderne Beispiel dafür; aber auch Theodore Gericaults Floß der Medusa kommt einem in den Sinn, Caspar David Friedrichs Gescheiterte <Hoffnung> und natürlich Albrecht Dürers Melencolia I.

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Diesem 1514 entstandenen Werk aus der Gruppe der Meisterstiche, zu der noch Ritter, Tod und Teufel und der Hieronymus im Gehäus zählen, kann man sich auf vielfache Weise nähern, und Erwin Panofsky hat in seinen einschlägigen Arbeiten fast eine Überfülle von geistes- und kunstgeschichtlichen Einflußgrößen und Bezügen herausgearbeitet. Alles wissenswerte Informationen, die zum historischen Verständnis des Bildes beitragen, uns aber in einer anderen Beziehung wenig helfen. Sie erklären nämlich nur, warum Dürers Gestaltung des in der Renaissance von zahlreichen Künstlern aufgegriffenen Melancholiethemas 1514 innovativ und bemerkenswert war, und nicht, warum dieser Stich immer noch Schwermut inkarniert, also quicklebendig geblieben ist, und zwar nicht bloß für die Expertenkaste der Kunsthistoriker.

Es muß folglich noch einen anderen, direkten Einstieg in das Bild geben, eine Sichtweise, die sich von der Vitalität des Stichs anstecken läßt. Blicken wir einfach hin, so naiv, oder besser, so unverbildet wie möglich. Was sehen wir auf den ersten Blick? Uns selbst! Ein Augenpaar, das etwas betrachtet, konzentriert, unverwandt, sinnhungrig und — mit einer Art trotziger Resignation.

Es gehört, das ist die zweite und einigermaßen pietätlose Beobachtung, die wir machen, nachdem der Spiegeleffekt in den Hintergrund getreten ist, einem Engel, der besser keine Flugversuche mehr unternimmt. Die Flügel würden den vollschlanken Körper nicht mehr tragen, dem die Erdenschwere offenbar nicht nur in den Knochen sitzt, sondern auch als Fettpölsterchen auf der Taille.

Erst jetzt haben wir Zeit, die nähere und weitere Umgebung der Figur zu inspizieren, wobei wir auf ein Tohuwabohu von nützlichen und eher bizarren Gegenständen stoßen. Im Hintergrund liegt eine Stadt am ölglatten Meer, aber der Eindruck des Friedfertigen und Idyllischen will sich partout nicht einstellen. Das liegt am Himmel mit seinem Mondbogen, unter dem ein Komet gleichsam detoniert. Die Sanduhr neben dem Planetensiegel und magischen Quadrat, in dem sich auch das Todesdatum von Dürers Mutter verbirgt, läuft. Etwas nähert sich, rückt heran, unaufhaltsam, übermächtig. Etwas, das alles entwertet und zunichte macht, worin menschliches Ingenium, technische Erfindungsgabe und Schaffenskraft eben noch ihren ganzen Stolz gesetzt hatten. Und die Vernunft der Melancholia sieht und weiß.

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Es ist folglich kein Dösen und Verdösen, nicht die mittelalterliche pigritia, was die Gestalt desaktiviert, sondern ihr genaues Gegenteil, ein mentaler Ausnahmezustand, den Panofsky treffend als »Überwachheit« bezeichnet. Ein uns selten beschiedenes Hinausdenken- und Hinausblickenkönnen über die angebliche Grenzen­losigkeit unserer Vernunft wird hier augenfällig, die ultimative Entzauberung des Geistes durch sich selbst, der Gravitationskollaps des Räsonnements.

Diese letzte Ernüchterung ist zugleich das Initiationserlebnis jedes Schwermütigen wie der Motor aller melancholischen Kunst, und der eingangs erwähnte James Thomson hat es fertiggebracht, das intellektuelle Einbrechen und Abstürzen in seiner Nachtstadt zu einer einzigen Strophe zu verdichten:

Höchste Vernunft, gleichwohl verrückte Köpfe,
   wahnhaftes Tun, das nichts im Zaume hält,
der hellste Geist wohnt doch in dem Geschöpfe,
   nur ist er machtlos gegen die bewirkte Welt,
denkt blaß und kalt gegen den eigenen Irrsinn an,
sieht schon voraus aufs wüste Ende seiner Bahn,
   wenn er zuletzt aus allen Wolken fällt.

 

Die Melancholie kann den Blick nicht mehr abwenden von der Medusa Wirklichkeit, fixiert das Unheil, das dieselbe Vernunft anrichtet, die sich auch kopfschüttelnd, verstört und fassungslos zuzuschauen vermag und doch nichts ändert.

Sehenden Auges gehen, nein, richten wir uns zugrunde. Das ist die paradoxe Wahrheit der schwarzen Galle und der diese Wahrheit bezeugenden Kunst. Und weil ich von der Wortgewalt der Poesie überzeugt bin und die Redseligkeit des Interpreten inzwischen ausreichend dokumentiert haben dürfte, schließe ich mit zwei Gedichten, die nicht minder hellsichtig sind als James Thomsons summa melancholica und die man deshalb nicht deuten, sondern immer wieder vorlesen muß.

Das erste ist Andreas Gryphius' 1640 entstandenes Poem »Menschliches Elende«, das die melancholischen Grunderfahrungen der Fremdheit, Flüchtigkeit und des Ausgeliefertseins so wunderschön zusammenreimt:

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Menschliches Elende

Was sind wir Menschen doch? Ein Wohnhaus grimmer Schmerzen,
   ein Ball des falschen Glücks, ein Irrlicht dieser Zeit,
   ein Schauplatz herber Angst, besetzt mit scharfem Leid,
ein bald verschmelzter Schnee und abgebrannte Kerzen.

Dies Leben fleucht davon wie ein Geschwätz und Scherzen.
   Die vor uns abgelegt des schwachen Leibes Kleid
   und in das Totenbuch der großen Sterblichkeit
längst eingeschrieben sind, sind uns aus Sinn und Herzen.

   Gleich wie ein eitel Traum leicht aus der Acht hinfällt
   und wie ein Strom verscheußt, den keine Macht aufhält,
so muß auch unser Nam, Lob, Ehr und Ruhm verschwinden.
   Was itzund Atem holt, muß mit der Luft entfliehn,
   was nach uns kommen wird, wird uns ins Grab nachziehn.
Was sag ich? Wir vergehn wie Rauch von starken Winden!

Der Rauch aber ist nicht nur eine melancholische Leitmetapher, sondern unser globales Anwesenheits­signal. Wo der Mensch auftaucht, da erscheinen Rauchsäulen am Himmel, denn er entflammt sich fürs Feuer. Der Natur rückt er so zu Leibe, wenn er rodet, um zu pflanzen, Tiere verbrennt er halb, bevor er sie verspeist, und wann immer die Gattung eine neue Kulturstufe erklommen hat, erkennt man das daran, daß die Rauch­säulen jetzt zahlreicher und üppiger ausfallen und schließlich und endlich aus den Schloten von Krematorien quellen oder über zerbombten Städten aufsteigen.

Zwischen den Brandopfern und Brandorgien geht es vielleicht wieder für ein Weilchen zivilisierter zu, aber der Weitblick der Melancholie läßt sich nicht täuschen. Sie riecht immer noch Lunte, auch in der Vorkriegszeit, dem <40jährigen Frieden> in dem Günter Kunert schreibt:

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Die Herbstfeuer

Es riechen alle Feuer nach dem einen Brand,
der einstmals ganze Städte aufgefressen:
das flammte, loderte, verglomm und schwand:
zu allerletzt gelöscht mit unserem Vergessen.
Kein Menetekel mehr an irgendeiner Wand,
nur noch die kochbereite Hitze unterm Essen.

Ein Rauch und Schwaden von den Gärten her:
was grau und weiß aus Blätterhaufen quillt,
bringt mit dem Brandgeruch das alte Bild:
Es brennt die Welt sich selber langsam leer.

 

Auch dieses Gedicht gibt Antwort, beantwortet die Frage: Warum sind wir hilflos und ohnmächtig, ausgeliefert an unsere eigene Geschichte, Täter, die immer mehr anrichten, als sie wollen, und ihren besten Absichten zum Opfer fallen? 

Weil, erinnert uns Kunert, auch die Spuren der Katastrophen verschwinden und die Menetekel verblassen. Über die Ruinenfelder der Geschichte wächst Gras, die Städte werden wieder aufgebaut, Hiroshima und Nagasaki pulsieren von Leben. Auch die Flammenschrift an der Wand war flüchtig, ist zwischen den Tausenden von Leuchtreklamen nicht mehr auszumachen, wird längst vom Lichtermeer des Fortschritts überstrahlt. Alles unter Kontrolle, alles domestiziert. Über den Rest wird schon verhandelt, die Glut gart keine Menschenleiber mehr, sondern das Cordon bleu.

Selbstbetrug diagnostiziert Kunerts Gedicht. Wir haben den Rauch immer noch in den Kleidern und die Mordbrennerei im Kopf. »Das alte Bild« — malen wir es noch ein wenig aus.

Dichtung, hatten wir gesagt, versiegelt, stellt still, konserviert — auch die Menetekel. Gryphius wie Kunert >verewigen< schwelende Trümmer, verkohltes Glück. Die Anstrengung, das wissen beide, ist umsonst; und daß sie sie gleichwohl unternehmen, macht sie zur Kunst, denn nur im schönen Schein vermögen wir unsere als Hyperaktivität getarnte Duldungsstarre zu durchbrechen.

Die Kunst selbst formuliert diese Einsicht nicht abstrakt, sondern in ungleich prägnanteren Bildern. Sie verhält sich wie Andreij Gortschakow in Tarkowskijs Nostalghia, der eine brennende Kerze in immer neuen Anläufen durch die Thermen von Bagno Vignoni zu tragen versucht, weil die Apokalypse angeblich nur dann abwendbar ist, wenn es jemandem gelingt, das Licht quer durch die Grube des leergepumpten Badebassins, von einem Ende dieser offenen Gruft bis zum anderen, zu transportieren. Die Zugluft bläst die Flamme wieder und wieder aus, aber erst der Tod macht dem verzweifelten Spiel ein Ende.

Das ist sie — die Kunst des Großen Umsonst, der Triumph über das Scheitern im Scheitern.

Beim nächsten, vielleicht globalen Feuersturm könnten die Gesamtausgabe des Andreas Gryphius und die Gedichtbände Günter Kunerts selbst vergehen »wie Rauch von starken Winden«. Das Beschriebene holte dann die Beschreibung ein, die Erinnerung an das ständige Auslöschen wäre selbst ausgelöscht.

Wer diese Vision nicht aushält, wer sich nicht eingestehen kann, daß keiner entkommt, auch der Künstler, auch das Kunstwerk nicht, der wird nie gute Melancholie­gedichte schreiben, der bleibt, was die schöne Kunst der Kopfhängerei angeht, ein hoffnungsloser Fall und soll getrost als Weltverbesserer dafür sorgen, daß die Melancholie auch fürderhin recht behält.

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