Neandertaler    Start    Weiter

Teil 1    Das Erbe des Neandertalers 

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1 -  Die Zeit vor unserer Zeit

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Unsere Erde ist eine Dame mittleren Alters. Sie wurde vor ungefähr viereinhalb Milliarden Jahren geboren. Stellen Sie sich diese Zeit der Einfachheit halber als horizontale Linie von viereinhalb Kilometern Länge vor. Ein Millimeter entspricht tausend Jahren, ein Meter einer Million Jahre.

   Leben auf der Erde 

Ganz am Anfang ist die Erde heiß und unbewohnbar. Aber nach etwa einem Kilometer hat sich eine Kruste ge­bildet — und diese Kruste ist von Wasser bedeckt. Es entsteht Leben — auf dem Meeresgrund, in den dunklen Tiefen der Ozeane, an Stellen, wo aus unterirdischen Quellen heißes, mineral­stoff­reiches Wasser ins Meer strömt. Hier nimmt alles, was sich später auf diesem Planeten bewegen wird, seinen Anfang — mit Bakterien­stämmen, die man noch heute dort unten finden kann.

Lange Zeit gibt es nur im Meer Leben. Es ist zunächst noch keine Atmosphäre mit Sauerstoff und Ozonschild vorhanden, welche Leben an der Oberfläche ermöglichen würde. Und im Meer gibt es die längste Zeit nur einfache, einzellige Organismen. Aber nach etwa dreieinhalb Kilometern findet ein Quanten­sprung statt: Es entwickelt sich plötzlich — man weiß heute noch nicht genau, warum — eine großartige Vielfalt von Lebewesen mit wesentlich komplizierteren Bauplänen: Würmer, Polypen, Schnecken, Quallen, Muscheln, Krebse, etwas später auch Fische. Es wimmelt im Meer förmlich von Leben.

Erst auf den letzten 400 Metern - vor 400 Millionen Jahren - ist es dann soweit: An Land entwickeln sich erste Pflanzen. Kurz danach beginnen die ersten Tiere, das Land zu besiedeln — zuerst Amphibien, dann Rep­tilien. Und 200 Meter vor dem Ende der Strecke - vor 200 Millionen Jahren - findet man neben Vögeln und kleinen Säugetieren vor allem Saurier — in allen möglichen Formen und Größen, zum Teil harmlose Vegetarier, zum Teil furchterregende Räuber. Sie beherrschen über eine längere Strecke das Geschehen an Land.

   Das Ende der Saurier  

65 Meter vor dem Ende unserer Strecke, also vor 65 Millionen Jahren, schlägt ein riesiger galaktischer Irr­läufer — ein Komet oder ein Meteor von ungefähr zehn Kilometern Durchmesser — mit einer Geschwind­igkeit von 100.000 Kilo­metern pro Stunde in die Erde ein. Es entsteht ein Krater mit einem Durchmesser von 180 Kilometern. Unvorstellbar hohe Schockwellen, die mehrfach um die ganze Erde laufen; extreme Hitze und Stürme; massenhaft ausgelöste Vulkanausbrüche; eine fast vollständige, vermutlich monatelange Verdunkelung der Atmosphäre durch aufgeworfene Staub- und Aschepartikel; anschließend ätzend saurer Regen und schwere Kälteeinbrüche vernichten schlagartig 90 Prozent aller Arten. Nur kleinere Lebewesen, mehrheitlich Meeres­bewohner überstehen die Katastrophe. Dies ist das Ende der Saurier.

Was sich danach, also auf den letzten 65 Metern unserer Strecke abspielt, kann man als die Ära der Säugetiere bezeichnen. Nachdem durch das Aussterben der Saurier große Lebensräume frei geworden sind, entwickelt sich aus einigen mausartigen Kleinst­säugern eine beeindruckende Artenvielfalt.

Auf den letzten 40 Metern finden wir - neben vielen anderen, großen und kleinen Säugetieren - affenartige, auf Bäumen lebende Arten. Einige von ihnen wagen sich mit der Zeit aus dem Wald in die Savanne hinaus. Sie richten sich auf und beginnen, sich auf zwei Beinen fortzubewegen. Auf den letzten Metern entwickelt sich eine Art, die lernt, Werkzeuge zu gebrauchen und herzustellen. Es sind Menschen, die in kleinen Horden zunächst als Sammler, später auch als Jäger, auf ewiger Wanderschaft große Gebiete durchstreifen.

Auf dem letzten Zentimeter läuft die Entwicklung plötzlich aus dem Ruder. Die Menschen lernen, Ackerbau und Viehzucht zu betreiben, und beginnen, seßhaft zu leben. Diese Revolution der Nahrungs­beschaffung sowie insbesondere die neue Errungen­schaft der Vorratshaltung führen zu einer explosions­artigen Vermehrung der Bevölkerung.

Stellen Sie sich die Größe der Weltbevölkerung auf unserer Entwicklungslinie als senkrechten Strich vor: Ein Millimeter entspricht einer Million Menschen. Über eine Strecke von zwei Metern hinweg sind die senkrechten Striche nie länger als ein Millimeter.

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Auf den letzten 50 Zentimetern — die Menschen haben gelernt, das Feuer zu beherrschen, und können sich deshalb auch in kühleren Regionen verbreiten — messen die Striche vielleicht zwei bis drei Millimeter. Aber auf dem letzten Zentimeter verlängern sie sich plötzlich in kurzen Abständen: ein Zentimeter, zehn Zentimeter, ein Meter. Der letzte Strich, am Ende des letzten Zentimeters, mißt sechseinhalb Meter! Dies ist das Jahr 2000. Und nur Bruchteile eines Milli­meters weiter wird der nächste Strich neun oder zehn Meter betragen. 

Der letzte Zentimeter der viereinhalb Kilometer langen Entwicklungslinie ist die Geschichte der menschlichen Zivilisation.

   Es war einmal ein Spitzhörnchen 

Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, daß Sie Eichhörnchen besonders reizend finden? Nun, dafür gibt es einen guten Grund: Der Urahn aller affenartigen Tiere, aus denen auch wir Menschen uns entwickelt haben, war ein Spitzhörnchen.* Dieses auf Bäumen lebende Tierchen hatte mehrere Eigenschaften, die für die eindrucksvolle Evolution bis hin zu uns Menschen entscheidend waren: nach vorne gerichtete Augen und, damit verbunden, die Fähigkeit des räumlichen Sehens; Distanzen präzise abschätzen und Dinge — zum Beispiel einen Ast oder eine Nuß — gezielt greifen und festhalten zu können; zu Greifwerkzeugen ausgebildete Vorder­pfoten; und die Fähigkeit, sich aufzurichten und auf den Hinterbeinen zu stehen.

* detopia-2008: Spaß muß auch sein!  heise  Saufende Spitzhoernchen      als pdf  

Diese besonderen Eigenschaften waren unabdingbare Voraussetzungen für das Leben auf Bäumen. Sie haben sich im Über­lebens­kampf hervorragend bewährt. Viele neue Arten, nicht zuletzt alle Affen, haben sich auf­grund dieser Fähigkeiten entwickeln und über Jahrmillionen durchsetzen können. Ohne dieses Instrument­arium würde es uns nicht geben. Auch die Entwicklung unserer Intelligenz, auf die wir uns so viel einbilden, hängt unmittelbar mit dem räumlichen Sehen und der Fähigkeit zu greifen zusammen. Begreifen — das heißt verstehen — hat in der Tat etwas mit greifen zu tun. Am schönsten kann man dies bei Babies beobachten, die mit ihren Händchen zu spielen, zu greifen und Zusammenhänge zu erkennen beginnen.

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   Unsere Ahnengalerie 

Das erste, wovon wir Abschied nehmen müssen, wenn wir uns die Geschichte des Menschen vor Augen führen, ist die Vorstellung, es gebe so etwas wie eine gerade Abstammungslinie, die von irgendeiner bestimmten, früher lebenden Art direkt zu uns modernen Menschen führt. Unser Stammbaum ist vielmehr ein völlig unübersichtliches Gewirr von Ästen und Zweigen, die teils weiterführen, teils irgendwo plötzlich enden. Die Evolution produziert laufend und massenhaft Sackgassen. Die verschied­ensten Affen- und Menschen­affenarten sind entstanden und wieder ausgestorben. Die Entwicklung von affenartigen zu menschen­ähnlichen Wesen hat sich im Laufe von 25 Millionen Jahren über viele Haupt- und Nebenstränge vollzogen. Unter­schiedlich entwickelte menschenähnliche Arten haben zum Teil während Millionen von Jahren gleichzeitig gelebt. Wer sich wann mit wem vermischt hat, und wer mit wem nicht, ist nicht geklärt und wird voraus­sichtlich nie geklärt werden können.

Als unser unmittelbarer Urahn gilt ein Frühmensch, dem die Wissenschaft den Namen Homo habilis gegeben hat. Die ersten Spuren hinterließ er vor zweieinhalb, die letzten vor eineinhalb Millionen Jahren. Er konnte Steinwerk­zeuge herstellen, betrieb Rudeljagd und wies bereits ein höher entwickeltes Sozialleben auf. In Feuerland, Patagonien, Neuguinea und Tasmanien finden sich noch heute Reste von Urvölkern, die nicht über diese frühe Stufe des Werkzeug­gebrauchs hinausgelangt sind.

Der vielleicht bekannteste Frühmensch ist der Neandertaler. Er ist vor rund 100.000 Jahren aufgetaucht und vor 35.000 Jahren wieder verschwunden. Er hat bereits wesentlich feinere Steinwerkzeuge hergestellt, sich mittels einer ausgeprägten Sprache verständigt, die Treibjagd beherrscht und Fallgruben gebaut. Bei ihm finden sich erste Hinweise auf religiöse Riten, insbesondere auf das Begraben der Toten. Aber ausgerechnet der Neandertaler figuriert nicht in unserer Ahnenreihe. Mit ihm verbinden uns lediglich gemeinsame Vorfahren. Vieles deutet sogar darauf hin, daß der Neandertaler von frühen Populationen des Neuzeit­menschen verdrängt, möglicherweise ausgerottet worden ist.

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   Zu Besuch bei Verwandten 

Unsere Ahnenreihe ist keineswegs lückenlos dokumentiert. Von einigen Vorfahren finden sich Fossilien, von anderen nicht. Wir wissen einiges über frühe, menschenartige Affen — und dann wieder allerhand über die frühen eigentlichen Menschen. Dazwischen — für die Zeit von vor fünf bis sechs Millionen Jahren — klafft eine Lücke. Die Wissenschaft spricht vom "missing link", dem fehlenden Bindeglied.

Nun haben wir aber im Tierreich außerordentlich nahe Verwandte, und zwar die Schimpansen. Ihre Entwick­lungs­linie hat sich sehr viel später von der unseren abgespalten als beispielsweise diejenige der Paviane, Orang-Utans oder Gorillas. Jüngere, gentechnische Untersuchungen haben die äußerst nahe Verwandtschaft zwischen Menschen und Schimpansen bestätigt: 98,4 Prozent der Gene sind identisch. Dies hat in den letzten Jahren zu einer intensiven wissen­schaftlichen Beschäftigung mit diesen Tieren geführt — und zu aufregenden Ergebnissen.

Schimpansen können nicht nur Werkzeuge einsetzen, sondern teilweise sogar Werkzeuge herstellen und zum Gebrauch an der richtigen Stelle bereitlegen. Sie brechen sich aus Pflanzenhalmen Röhrchen zurecht, die sie als Geruchssonden verwenden, um Termitenhügel nach lebenden Termiten abzusuchen. Sie schlagen mit Steinen Nüsse auf. Sie verwenden Blätter, um ihren Hintern von Fäkalienresten zu säubern. Sie basteln aus Pflanzenfasern eine Art Schwamm, um Wasser aufzunehmen und zu trinken. Schimpansen wurden beobachtet, wie sie mit Hölzern, die sie als Hebel benutzten, eine Lebens­mittelkiste aufbrachen; andere, wie sie aus herum­liegenden Ästen eine Art Leiter bauten, um aus einem Gehege zu entkommen. Dies alles zeugt von einem planenden Vorausdenken, das man bislang ausschließlich dem Menschen zugebilligt hatte.

Schimpansen zeigen aber auch ein hochentwickeltes Sozialleben. Sie verfügen über eine besonders ausgepräg­te Fähigkeit zu sozialem Lernen. Ihre Formen des Zusammenlebens sind wesentlich flexibler, ihre Formen der Verständigung untereinander differenzierter als diejenigen anderer Affenarten. Und im Gegensatz zu allen anderen Affenarten können sich Schimpansen an auffallend unterschiedliche Umweltverhältnisse anpassen — eine der hervorstechendsten Eigenschaften der frühen Hominiden.

Aufgrund der bisherigen Ergebnisse hält man es mittlerweile für möglich, daß die Schimpansen der geheimnis­vollen Übergangs­population sehr nahe kommen, über die wir auf dem Wege fossiler Funde bis heute nichts erfahren konnten. Es könnte sein, daß die Schimpansen Abkömmlinge gemeinsamer Vorfahren sind, die sich — im Gegensatz zum Zweig der Hominiden — wenig oder gar nicht verändert haben.

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Christoph Lauterburg  1998