2.4 Die ökologische Krise ist unabwendbar
"Die
Menschheit rast auf eine [zwar] unvorstellbare, aber [doch] gewisse Katastrophe
zu,
wenn sie nicht auch das Unvorstellbare
bedenkt
und
daraus
die
richtigen Konsequenzen zieht."
Martin
Urban (453) wikipedia
Martin Urban *1936 in Berlin
215-232
Mit Hungersnöten, Revolten, Rohstoff- und Energieknappheit, Artensterben, Dürren und Überschwemmungen, Terror und Flüchtlingsströmen454 hat die ökologische Krise bereits begonnen. Es handelt sich nicht um ein erst zukünftiges Phänomen. Die Frage ist allerdings, wohin sie noch führen wird.
Obwohl der Weltuntergang immer noch nicht eingetroffen ist, lohnt es sich, die Szenarien näher anzusehen, die mit dem letzten Update der »Grenzen des Wachstums« im Jahr 2004 vorgelegt wurden. Sie lesen sich nüchtern, von apokalyptischer Panikmache keine Spur. Auch werden hier nicht - wie oft unterstellt - genaue Prognosen geäußert, sondern nur mögliche Entwicklungen je nach ihrer Wahrscheinlichkeit des Eintretens dargestellt. Etliche Parameter wie Bodenschätze, eventuell getroffene Maßnahmen zur Geburtenkontrolle und gegen Bodenerosion oder mögliche technische Entwicklungen wurden dabei in Computermodellen durchgespielt.
Ebenso wurden Rückkoppelungs- und Verstärkungseffekte einberechnet sowie eine zumeist erst verzögert eintretende Wirkung getroffener Maßnahmen.
Am wahrscheinlichsten erscheint heute das erste im Update dargestellte Szenario: hier entwickelt sich die globale Gesellschaft auf gewohnte Weise weiter, ohne größere Abweichungen von der Politik des 20. Jahrhunderts. Die weitere Zunahme von Bevölkerung und Produktion wird schließlich gestoppt, weil nicht erneuerbare Ressourcen immer knapper werden. Um den Ressourcenfluss aufrechtzuerhalten, sind immer größere Investitionen erforderlich (mehr Input für weniger Output im Sinne der schon erörterten Entropie). Diese Investitionen fehlen dann in anderen Sektoren der Wirtschaft, was schließlich dazu führt, dass die Produktion von Industriegütern und Dienstleistungen weiter zurückgeht.
Als Folge werden auch weniger Nahrungsmittel produziert (mit bedingt durch Flächenschwund und die verringerte Bodenfruchtbarkeit bei Übernutzung) und die Gesundheitsdienste reduziert, wodurch die Lebenserwartung sinkt und die durchschnittliche Sterberate steigt. Um das Jahr 2030 erreicht diesem Szenario zufolge die Bevölkerung ihr Maximum und nimmt dann wieder ab. Nach wenigen Jahrzehnten im 21. Jahrhundert kommt das Wirtschaftswachstum plötzlich zum Stillstand und geht relativ abrupt zurück. Dieses letzte Update aus dem Jahr 2004 ist auch schon nicht mehr ganz aktuell. Zudem ist es, gerade was die Prognose des Bevölkerungswachstums angeht, auch in einigen Punkten anzuzweifeln.
Umso aufschlussreicher war es, Dennis Meadows 40 Jahre nach dem ersten Erscheinen des Berichts in München direkt zu erleben.455 Nüchtern stellte er fest, dass es 1972 zwei offene Wege für die globale Gesellschaft gegeben habe, nämlich den der Nachhaltigkeit oder den des »Overshoot«. Gewählt hätten wir den letzteren, weshalb die alte Definition einer nachhaltigen Entwicklung jetzt nicht mehr brauchbar sei. Mit etlichen Grafiken zeigte er die exponentiell weiter nach oben gehenden Entwicklungen bei Bevölkerungswachstum, Materialgebrauch, globalem ökologischen Fußabdruck oder auch hinsichtlich der seit 1900 berichteten »Naturkatastrophen (Anführungszeichen so von Meadows gesetzt).
Gemeinhin werde angenommen, spitzte Meadows zu, dass Nachhaltigkeit erreicht werden könne, indem die Reichen behalten könnten, was sie hätten, oder sogar noch mehr bekommen könnten, während die Armen den Level der Reichen erreichen würden; dies könnte, so eine weitere trügerische Annahme, durch unser bestehendes politisches und ökonomisches System erreicht werden, aber mit Entkopplung des Wachstums vom Energie- und Ressourcenverbrauch durch neue Technologien; fortlaufendes Wachstum würde uns die Mittel dafür geben, all das umzusetzen. Das natürlich hat sich längst ad absurdum geführt.
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Letztlich forderte er,
stärker auf die globalen Probleme zu fokussieren (wie Klimawandel, Bodenerosion, Luftverschmutzung, aber auch die Verbreitung von Nuklearwaffen),
einen sozialen und kulturellen Wandel herbeizuführen, auch in Hinblick auf eine geringer werdende Ölproduktion,
unsere Lebensweisen resilienter zu machen, und - das dürfte wohl das Wichtigste dabei sein -
endlich vom Reden zum Handeln zu kommen.456
Es muss daher mit einem auch bei uns deutlich spürbaren Zusammenbruch wohl schon innerhalb der nächsten Jahrzehnte gerechnet werden. Es erscheint also ratsamer, sich darauf einzustellen anstatt mit Allmachtsphantasien weiterhin Illusionen einer technischen und politischen Lösbarkeit der Probleme anzuhängen oder auf einen »letzten Retter«, etwa in Gestalt des global regierenden weisen Politikers, zu hoffen, der im Moment sowieso nirgends zu erahnen ist.
Warum die Krise nicht abzuwenden ist
Nun, eine Antwort darauf ergibt sich zunächst ganz banal: die Krise hat längst begonnen, wie schon mehrfach skizziert. Es bleibt wohl nur, Auswirkungen zu lindern und das Schlimmste zu verhindern. Aber dennoch wäre eigentlich zu hoffen, dass die von Meadows und anderen Autoren457 prognostizierten Szenarien noch abzuwenden wären. Dies erscheint äußerst unwahrscheinlich aufgrund der zahlreichen Dilemmatas, in denen wir weitestgehend feststecken; sie seien hier zusammengefasst:
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1. Vorherrschende Wahrnehmungsstörung und Verleugnung, auch um unangenehme Gefühle zu vermeiden.
Die Tendenz des menschlichen Gehirns, Eindrücke nach dem Wahrscheinlichsten anhand früherer Erfahrungen zu verarbeiten, erschwert eine angemessene Wahrnehmung der völlig neuartigen Situation. Dementsprechend wird sie rasch verleugnet, wenn man darauf zu sprechen kommt. Das Dilemma ist, dass das Aufzeigen von negativen Zukunftsszenarien und damit verbundene Mahnungen viele Menschen abschrecken und lähmen, andererseits aber ein Herunterspielen und Verschweigen die Illusion nährt, es sei schon nicht so schlimm oder wir hätten es im Griff. Dies aber ist letztlich unehrlich. Werden die schwierigen ökologischen Zusammenhänge doch betrachtet, kommt es trotz guten Willens, etwas ändern zu wollen, häufig zu Ohnmachtsgefühlen (»ich kann ja eh nichts bewirken«), Angst (vor zukünftigen Entwicklungen), Wut (über weiter verdrängende Mitmenschen und Politiker) und Entfremdung (von einer weiter unachtsam und umweltschädigend lebenden Welt). Diese Emotionen lähmen zusätzlich. Gerne vermeiden wir sie daher. Darin sind wir geübt, denn ähnliche Gefühle erzeugende Unsicherheiten im täglichen Leben, Gedanken an Leiden oder gar den Tod, oder allein die Möglichkeit eines Mangels haben wir nicht gerne.2. Festhalten an alten Rezepten.
Umso mehr klammern sich Menschen in unsicheren Zeiten erst recht an eingeschliffene Einstellungen und Verhaltensmuster, was sich auch politisch zeigt. So darf der Klimaschutz keine Arbeitsplätze kosten, weiterhin wird an den klassischen Kategorien des Wirtschaftswachstums und der Konsumförderung festgehalten.458 Es konnte gezeigt werden, dass gerade in Krisenzeiten die vertrauten Bahnen persönlich, aber auch politisch und wirtschaftlich umso weniger verlassen werden, da alles Neue die eh schon vorhandene Verunsicherung verstärkt. Das Dilemma ist, dass aber gerade jetzt ein mutiger Wandel zu deutlich veränderten Lebens- und Wirtschaftsweisen nötig wäre.3. Rationale Einsicht und »Muss«-Forderungen allein sind wenig wirksam.
Wir haben gesehen, dass Vorschriften, Gesetze, ökologische und kategorische Imperative, Vorschläge, was sich jetzt ändern müsse, oder etwa Moralpredigten nicht automatisch zu neuen Werten und Einstellungen führen, wodurch wir uns dann vielleicht ökologisch vernünftiger verhalten würden. Diese Appelle richten sich ausschließlich an den Verstand und sind daher so oft wirkungslos. Werte- und Einstellungswandel sind, wie die Psychotherapieforschung zeigt, allein über Aufklärung und Einsichtsgewinnung kaum möglich, und zudem langfristige und komplexe Prozesse, die auch das Entstehen und Aufgreifen intensiver Emotionen erfordern. Die aber, ein weiteres Dilemma, sind unbeliebt, im Alltag, am Arbeitsplatz, aber gerade auch in der öffentlichen politischen Diskussion.
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4. Psychotherapie der Massen nötig, aber unmöglich.
Um sich die bewusste Wahrnehmung tieferer Emotionen, ein emotionales Ergriffensein, zu erlauben, um dadurch zu veränderten Werten und Einstellungen und darüber zum Handeln zu kommen, wären eine Stärkung des Selbstwertgefühls sowie eine Ermunterung zu angemessenem inneren Widerstand mittels Psychotherapie erforderlich. Eine solche Therapie in Hinblick auf ökologische Themen wird aber von den meisten Menschen nicht gewünscht, und wäre auch im großen Stil gar nicht realisierbar - gleich zwei Dilemmatas. Einigen wenigen Burnout-Geplagten kann vielleicht indirekt eine Verbesserung der subjektiven Befindlichkeit durch Änderung ihres Lebensstiles näher gebracht werden, was noch nicht zwingend zu mehr Nachhaltigkeit führen muss. Nachhaltige Lebensstile sind zudem selbst wieder komplex und erfordern Mut, Neugier und Offenheit, aber auch ein großes Durchhaltevermögen sowie die Überwindung innerer und äußerer Widerstände und Widersprüche. - Zustände aber infrage zu stellen und sich zu widersetzen war für die meisten Menschen unserer westlichen Welt nicht vorrangiges Ziel der genossenen Erziehung, wollte man nicht als ewig in der Trotzphase oder Pubertät steckend bezeichnet werden. Genau dies aber, ein mutiges Schwimmen gegen den Strom und ein - sicher zähes - Einüben neuer Lebensstile wären erforderlich und müssten von bisher nicht vorhandenen Ökotherapeuten gestützt werden. Denn, ein weiteres Dilemma, auch Therapeuten müssen erst ökotherapiert werden.5. Möglichkeiten und Grenzen der Religionen.
Emotionalen und wertebezogenen Einfluss auf viele Menschen haben höchstens die Religionen, aber die weisen die letzte Verantwortung einem göttlichen Wesen zu und versprechen ein paradiesisches Jenseits, was zwar tröstet und zunächst entlastet, aber bei der konkreten Bewältigung der ökologischen Krise kaum weiter hilft, da durch diese Zuweisung dem Einzelnen die eigene Verantwortung letztlich abgenommen wird (oder er selbst sie damit gerne abgibt).
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6. Es eilt.
Und, auch dies ein Dilemma, wir haben im Grunde keine Zeit mehr für langwierige psychische Entwicklungsphasen hin zu einem besseren, kooperativeren, einsichtigeren, mutigeren und ökologisch korrekt lebenden Menschen oder für einen Wandel unserer neuronalen Strukturen. Die fortschreitende ökologische Krise drängt zu raschem Handeln, was alleine schon durch den sich beschleunigenden Klimawandel sowie den nötigen Wandel der Energieträger offensichtlich wird. Die zu lösenden Probleme aber sind hochkomplex, es geht nicht nur um ein einziges, griffiges Thema wie etwa den Ersatz von ozonschädlichen Stoffen in Sprays und Kühlschränken. Und gehandelt werden muss auf globaler Ebene, nicht nur lokal in Kommunen oder in einzelnen Nationen, die in aufgeklärten Demokratien die Handlungsnotwendigkeit zumindest ansatzweise erkennen und - aus Sicht ärmerer Nationen - sich diesen Luxus leisten können.7. Ökologische Themen - ein Luxus für Gesättigte.
Von Selbsttranszendenz, also einem Über-sich-hinausgehen, einem Bezug-nehmen auf andere und auf Themen, die nicht primär nur für einen selbst wichtig sind, ist ebenso im großen Maßstab wenig zu erkennen. Solche Selbsttranszendenz ist zumeist erst möglich, wenn die primären Lebensbedürfnisse befriedigt sind, das wird im Kapitel zu den existenziellen Angelegenheiten noch deutlich werden. In weiten Teilen der Welt ist aber genau das nicht der Fall. Armut, Hunger und somit der ständige Kampf ums Überleben nehmen hier verständlicherweise einen zentralen Stellenwert ein.Die Beschäftigung mit ökologischen und globalen Fragen stellt somit weiterhin meist einen Luxus für Teile einer schon weitgehend bedürfnisgesättigten, finanziell gut aufgestellten Mittel- und Oberschicht vorwiegend in den Industrieländern dar, die jedoch gleichzeitig weiter fleißig Ressourcen und Energieträger im großen Maßstab verbraucht (dazu gehören häufig auch Umweltschützer selbst). Selbst in einem reichen Land wie Deutschland spielt Nachhaltigkeit daher letztlich nur für eine Minderheit eine entscheidende Rolle, es wird mehr darüber gesprochen als dafür getan.
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Je mehr sich aber die ökologische Krise zuspitzt, wie jetzt in einigen westlichen Ländern schon mit hoher Arbeitslosigkeit, höheren Energie- und Lebensmittelpreisen erkennbar, umso mehr ist dann eine wachsende Zahl auch der Menschen dieser an sich besser gestellten Gruppe wieder damit beschäftigt, sich um die grundlegenden Bedürfnisse und entsprechende Absicherung zu kümmern. Dadurch rückt Selbsttranszendenz mit Engagement für die Allgemeinheit wieder in den Hintergrund, ein weiteres Dilemma. Vorangehende Vorbilder bleiben somit rar.
8. Unter Druck: Rückfall in Egoismus und Sippenwirtschaft.
Unter den beschriebenen ungünstigen Voraussetzungen werden es aber all die positiven Werte, deren Notwendigkeit oben erarbeitet wurde, umso schwerer haben, zur Geltung zu kommen. So werden zunehmende persönliche und nationale Nöte kaum zu mehr Mitgefühl für andere, zu mehr Empathie und Nächstenliebe, geschweige denn Fernstenliebe und besserer internationaler Kooperation führen werden, was aber heute dringend nötig wäre. Ein globales Mitdenken für Milliarden von Menschen überfordert zudem unsere auf bis zu 150 Personen geeichte Sozialfähigkeit. Auch dies ist ein Dilemma.Vielmehr erscheint die Wahrscheinlichkeit umso größer, dass es im akuten Fall zu steinzeitlich geprägten Reflexen des Egoismus kommen wird. Also wird noch mehr als sowieso schon für sich selbst gerafft werden, was man noch bekommen kann. Sicher wird dabei häufig noch für andere, etwa im nahen Umkreis, mit gesorgt (im Sinne der Nächstenliebe auf Ebene der Sippenwirtschaft). Für große politische Entwürfe oder generelle Umstellungen der Lebensweise - außer den jeweils durch das Ereignis in dem Moment vor Ort erzwungenen - besteht in der akuten Situation jedoch kaum eine Möglichkeit, allenfalls danach.
9. Instabile Bindungen erschweren Engagement.
In unseren Breiten sind die physiologischen Primärbedürfnisse zwar gestillt, dafür aber kämpfen wir mit den Notwendigkeiten auf der nächsten Ebene der Bedürfnishierarchie: Sicherheit, Liebe und Zugehörigkeit, Identität und Selbstwertgefühl wollen erreicht werden. So sind wir damit beschäftigt, die berufliche Situation zu festigen und zu verbessern oder überhaupt irgendeine Arbeit zu finden, um uns selbst und unsere Familie materiell abzusichern. Beziehungsschwierigkeiten und fragile Partnerschaften spiegeln das Ringen um Liebe und Zugehörigkeit wieder. Vereinzelung und Konkurrenzdruck im Alltag sowie ein häufig nicht stabiles Selbstwertgefühl erschweren es oft, stabile Bindungen einzugehen. Die aber wären nötig für gute Kooperation und ökologisches Engagement, wie deutlich wurde. Stattdessen nehmen Depressionen und andere psychische Störungen eher zu.
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10. Digitale Technik und soziale Medien, Fluch oder Segen?
Klassische Medien erreichen die Menschen immer weniger. Auch dieses Buch wird dieses Schicksal treffen, ist es doch viel zu komplex angelegt, behandelt unangenehme Themen und maßt sich an, über Disziplinen hinweg und dann auch noch teilweise laienhaft-dilettantisch459 die Welt zu beurteilen. Es geht zudem unter in der Informationsentropie, erscheinen doch in Deutschland jährlich mittlerweile knapp 90.000 Neu- und Erstauflagen.460Die großen Chancen, die nun wiederum in einer allumfassenden Vernetzung durch das Internet stecken, etwa für eine bessere soziale Kommunikation, bessere Informationen oder auch für Energieeinsparung durch effizienteres Steuern häuslicher Geräte, drohen mehr als aufgewogen zu werden durch Internetsucht, Energieverbrauch durch große Serverlandschaften, Überwachung, Bedrohung der Privatsphäre, fake news und zunehmende Beschleunigung. Noch ist nicht entschieden, in welche Richtung das Pendel sich überwiegend bewegt, aber die Entwicklungen der letzten Jahre (NSA, Cyberangriffe auf westliche Länder, Zunahme von Burnout etc.) stimmen bedenklich. Relevante Fortschritte für die Bewältigung der globalen Krisensituation sind bisher jedenfalls nicht erkennbar.
Und Smartphone-Unterricht mit WLAN in allen Klassenzimmern, wie heute oft gefordert,461 wird zwar helfen, sich in den virtuellen Welten besser zurecht zu finden, aber nur äußerst unwahrscheinlich einen emotionalen Zugang zu Natur und Naturbewahrung schaffen. Nötig hierfür wären ganz andere Bildungsansätze, auch das ist ein Dilemma.
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11. Eigendynamik gewinnt über bewusstes Umsteuern.
Unsere zwangsläufige evolutionäre Entwicklung zu Komplexität hat, wie dargestellt, eine Eigendynamik, und uns somit wie von selbst etliche Errungenschaften beschert. Nicht ersichtlich ist, wodurch diese Eigendynamik nun plötzlich zu bremsen oder gar umzukehren wäre.
Auch hier zeigen sich zwei Seiten einer Medaille: rationales Denken, Neugier und Fortschritt haben zu wunderbaren Techniken geführt, die uns heute - insbesondere in den industrialisierten Ländern - ein bequemes Leben ermöglichen, einem Ur-Bedürfnis entsprechend. Gleichzeitig aber haben wir dafür Atomkraftwerke, Chemiefabriken, Autos und Flugzeuge geschaffen, die uns durch Müll, Plastik, Flächenverbrauch und Treibhausgasemissionen heute die Kehrseite, das Dilemma, deutlich machen. So gesehen ist unser Großhirn, das all das geschaffen hat, nicht von vornherein ausschließlich positiv zu bewerten - nach all den Siegen über die Widrigkeiten der Natur, die es ermöglicht hat, könnte sich ein erheblicher Teil des Fortschritts als tragischer Sieg erweisen. Schön wäre es, könnten wir nach zwei sich von alleine vollzogenen Revolutionen, der landwirtschaftlichen und der industriellen, nun die nötige Transformation hin zur Schonung unserer Lebensgrundlagen bewusst und rational gesteuert vollziehen. Aber, ein Dilemma, voraussichtlich werden die uns oft unbewusst steuernden Emotionen und die Eigendynamik das nicht ermöglichen.
Der Fall der Mauer 1989 und der Zusammenbruch der Sowjetdiktatur können zumindest als Beispiele für eine Eigendynamik in einer sich zuspitzenden Situation gesehen werden, die zu einer positiven Entwicklung geführt hat. Auffällig dabei ist aber, dass hier vor aller Politik zunächst die Rolle des Einzelnen immens war. Neben der Tatsache, dass der Osten wirtschaftlich bankrott war und daher das Wettrüsten nicht mehr durchhalten konnte, hat der Aufstand der Völker mit Massenprotesten (aus emotionaler Ergriffenheit heraus) wesentlich zu den Umwälzungen beigetragen. Allerdings hatte wohl auch hier erst eine durch den Bankrott spürbare Verschlechterung der Lebensbedingungen zum Protest geführt.
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12. Gefährdung der Demokratie.
So wie die Finanzkrise 2008 eine enorme Eigendynamik entwickelt hat, die - wie beschrieben - zu demokratisch nur noch gering legitimierten Entscheidungen führte, die aber keine grundsätzlichen Systemänderungen bewirkten, wird auch die ökologische Krise politisch noch eine weitere Eigendynamik entwickeln. Irgendwann doch zu treffende unpopuläre Maßnahmen könnten für Unruhen sorgen.
Zudem sind auch in unseren Ländern nun häufiger ausgeübte Terrorattacken schon heute teilweise Ausdruck der ökologischen Krise, haben doch die Ärmsten der Welt keine Lust mehr, an den Bildschirmen unserer luxuriösen Lebensweise zuzusehen, was zu Gewalt, aber auch zu Flüchtlingsströmen führt. Die für viele Menschen unpopuläre Maßnahme, Flüchtlinge nicht an Grenzen im Regen stehen zu lassen, hat seit 2015 schon für Unruhen gesorgt. Dabei verändert sich die Stimmung im Land, was Parteien nach oben spült, die man da nicht sehen will. Gefährdet ist die Demokratie aber auch durch die Komplexität der Probleme, die kaum noch jemand durchschaut, und die eine gründliche Diskussion erfordern würde, wofür - wieder ein Dilemma - immer weniger Zeit zur Verfügung steht.
13. Der Einzelne oder die Politik?
Mehrfach wurde in diesem Buch schon das Dilemma deutlich, dass der Einzelne weder alleine noch durch Zusammenschluss mit Gleichgesinnten derzeit ausreichend in der Lage ist, die Politik zum nötigen Wandel unserer Lebens- und Wirtschaftsweise zu bewegen, dass es aber ohne Veränderungen auf Ebene des Einzelnen erst recht nicht gehen wird. Andererseits zeigt sich auch die Ebene der Entscheidungsträger noch nicht bereit, einen solchen Wandel anzustoßen, wäre es doch dafür nötig, Gewinnstreben und Wachstumsideologie in Frage zu stellen. Durchaus mögliche positive Zukunftsvisionen gibt es daher ebenso nicht.14. Eher Konflikte als Konsens.
Es geht bei der insgesamt pessimistisch anmutenden Betrachtung weniger um die eine große ökologische Katastrophe, auch nicht um den Weltuntergang oder das Aussterben der Menschheit. Nein, eher geht es ganz nüchtern um das schon mehrfach erwähnte Risiko bewaffneter Konflikte im Kampf um geringer werdende Ressourcen sowie um Klimakriege.462. An die Verbreitung nuklearer Waffen sei dabei erinnert.Über Jahre hinweg werden immer wieder Klima- oder Artenschutzgipfel durchgeführt, was auch weiterhin die primäre Voraussetzung dafür ist, die anstehenden Probleme friedlich im Konsens lösen zu können. Spitzt sich die Situation jedoch zu, und davon ist ökologisch gesehen für die nächsten Jahrzehnte auszugehen, werden rasch anderweitig Tatsachen geschaffen, vor allem wenn noch weitere politisch passende Gesichtspunkte hinzukommen. Und auf internationalen Konferenzen gefundener Konsens schließt nachfolgende Konflikte und Scheitern beim Versuch der Umsetzung in den jeweiligen Ländern nicht aus.
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15. Lieber viel und bequem (und dabei süchtig) als weniger und aufwändig (und dabei autonomer).
Im Sinne des nächsthängenden Apfels wird zumeist das leichter Machbare gemacht. Dies geschieht unter Rückgriff auf das, was schon da ist und was man schon kennt, ohne grundsätzliche Verhaltensmuster und Ziele, wie etwa das Streben nach noch mehr Wohlstand, in Frage zu stellen. Selbst Mühe aufwenden und Hand anlegen, oder mehr Fahrrad fahren statt Auto, mehr regional wirtschaften als internationale Dienstreisen zu absolvieren, all das vermeiden wir momentan noch. Angesichts der Komplexität unserer Lebensweise ist dieser Weg zum oft gewünschten einfacheren Leben so schwer. Eher ziehen wir auch weiterhin technische Lösungen wie eine bestäubende Elektro-Biene oder Klimawandel bekämpfendes Geo-Engineering oder Nahrung sichernde Gentechnik vor. Zumeist führt das aber zu mehr Komplexität, Entropie und Systemanfälligkeit.Zudem sind wir mit unserem zunehmend großstädtischen Leben und der Abhängigkeit von Technik abhängig von Rohstoffen, die von weit entfernen Ländern für die Herstellung all der hier scheinbar benötigten Geräte und Maschinen zunächst in andere weit entfernte Länder und zum Verkauf dann zu uns gebracht werden müssen. Nötig wären aber eine Vereinfachung von Technik und Lebensweise, weniger Konsum und mehr Eigenarbeit, um sich aus dieser Abhängigkeit zu lösen.
16. Geringe Hoffnung auf Verstand und Vernunft.
Der Verstand könnte ja, so gesehen, seine Möglichkeiten auch hin zu einem großen Wandel der menschlichen Lebensweise, hin zur Nachhaltigkeit, einsetzen. Aus der betrachteten Biologie und Psychologie des Nichtstuns folgt jedoch, dass auf der psychischen Ebene wohl weiterhin die Verleugnung, der Zuschauereffekt sowie die geringe Fähigkeit zum Erfassen komplexer und noch nicht greifbarer Ereignisse dominieren werden. Eine plötzliche Änderung unseres genetischen Programms und unserer Verhaltensweisen, die für über 99 Prozent der Dauer unserer Anwesenheit auf der Erde durchaus angemessen waren, erscheint äußerst unwahrscheinlich (auch angesichts der Erfahrungen aus dem 20. Jahrhundert). Der Autor Gregory Fuller ist an dieser Stelle sehr drastisch und sieht wenig Chancen, die bisherige Zivilisierungstendenz umzukehren:
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Der Verstand allein reicht nie und nimmer aus, den notwendigen Großverzicht in die Wege zu leiten. Einzig der sofortige Super-Paradigmenwechsel könnte das Überleben der Spezies, vielleicht, garantieren. Der Planet müsste umorganisiert, der Egoismus unterdrückt und alle Partikularinteressen zum Schweigen gebracht werden. Bei einem vernünftigen Wesen wäre dies möglich. Wir aber sind geboren worden als denkende und fühlende Wesen, die ihre Selbstsucht nur ausnahmsweise hinter das globale Allgemeininteresse zurückstellen vermögen. Gandhi war ein solcher Mensch, und Christus und Buddha und Martin Luther King.(463)
17. Ökologie versus Humanität, Mensch versus Natur?
Die Diskussionen darüber, ob der Mensch in der Lage sein wird, die ökologische Krise zu bewältigen, führen oft zu dem Punkt, dass Ökologie und Humanität bzw. Mensch und Natur einander als unversöhnbar gegenübergestellt werden. Dabei kann der Mensch nicht als völlig von der Natur getrennt betrachtet werden, wenn er sich auch in vielen Punkten von anderen Lebewesen unterscheidet. Die Gefahr aber heute ist, dass eine weiter bestehende Abhängigkeit von der Natur sowie grundlegende Gemeinsamkeiten mit anderen Lebewesen heruntergespielt und die speziellen geistigen, selbstreflexiven und dadurch dann auch technischen Möglichkeiten des Menschen überschätzt werden, was - ungewollt vielleicht - wieder die Dominanz des Menschen im Sinne des Anthropozäns verstärkt. Prinzipien der Humanität jedenfalls widerspricht unser Lebensstil auf Kosten fernst und in Zukunft lebender Menschen heute schon.
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18. Naturentfremdung und -defizitstörung.
Teil dieses diskutierten Dualismus ist auch die Frage, wie sehr wir von der Natur entfremdet sind, was Natur hier überhaupt bedeutet, wie sehr wir sie (noch) brauchen und was ein etwaiges Eingebundensein bedeuten könnte. Fakt ist, dass wir kaum noch wissen, wo unsere Nahrung herkommt, die wiederum mit rationalisierter Technik im industriellen Maßstab bei uns angebaut wird, womit gleichzeitig die Böden geschädigt sowie durch Produktionsüberschüsse und Subventionen die Märkte verzerrt bzw. Bauern in ärmeren Ländern benachteiligt werden. Das Dilemma ist, dass wir zumindest einen minimalen Bezug zu unseren Lebensgrundlagen haben müssten, um diese schätzen zu wissen und dadurch ihren Erhalt zu unterstützen, geschweige denn um auch die heilenden Funktionen von Natur und Grün bewusst zu nutzen. Nahrung wird auch zukünftig nicht nur aus dem Labor kommen können. Durch zunehmende Technisierung und Digitalisierung, die hier nicht grundsätzlich verteufelt (aber auch nicht überschätzt) werden sollen, entfernen wir uns immer mehr von den natürlichen Umgebungsfaktoren, bleibt uns doch nicht zuletzt immer weniger Zeit, uns damit in Muße zu befassen (wo doch Technik und Internet uns doch eigentlich Zeit sparen helfen sollen! Ein weiterer Gegensatz). Nachhaltigkeit nur bezogen auf Flug- und Plastikvermeidung sowie erneuerbare Energien greift zu kurz. Für eine Wirksamkeit der anstehenden Therapie brauchen wir schon auch eine emotionale Beziehung dazu, was wir mit Nachhaltigkeit überhaupt erreichen wollen - nämlich die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen, die wir außer für unser basales Überleben genauso zum Wohlbefinden brauchen wie andere Beziehungspartner, beispielsweise Eltern, Partner und Freunde.
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19. Wahrscheinlich geschieht das Wahrscheinlichere.
Selbst wenn man nicht gleich von Untergang sprechen will, muss man doch - ungern und allem verinnerlichtem Fortschrittsoptimismus zum Trotz - schließlich zu dem Schluss kommen, dass die Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Klimakatastrophe aufgehalten werden kann, dass sie und die Ressourcenknappheit nicht verstärkt zu Konflikten führen werden, dass sich die Menschen (vor allem in den Industrieländern) in kurzer Zeit schon durch Vernunft und Empathie umweltfreundlicher verhalten werden, dass sie nicht weiter am eigenen Ast (oder dem anderer Menschen) sägen und sich somit beschleunigt dem eigenen Ende (sei es nun dem Ende ihres Lebens oder ihrer Kultur) näher bringen werden, dass sie im Falle sich zuspitzender Entwicklungen nicht in den gut eintrainierten Egoismus verfallen werden, dass also die Wahrscheinlichkeit für all das erheblich kleiner ist als die Wahrscheinlichkeit eines gravierenden Einschnittes, einer erzwungenen erheblichen Veränderung unserer Lebensweise, einer Zunahme auch kriegerischer Konflikte.Im Zeitalter von sonst hoch gepriesener Wissenschaft und Statistik erstaunt es schon, dass eigentlich kaum Bereitschaft besteht, sich mit diesen (Nicht-) Wahrscheinlichkeiten zu beschäftigen. Stattdessen wird am Ende von Publikationen oft ein Zweckoptimismus gepredigt, der sicher für einen guten Buchverkauf hilfreich ist, der aber der Realität und der wohl kommenden zukünftigen Entwicklung kaum gerecht wird. Wahrscheinlich geschieht das Wahrscheinlichere - diese Erkenntnis stammt aus der Betrachtung der Entropie. Deren zweiter Hauptsatz besagt nichts anderes, so der Astrophysiker Peter Kafka, als »dass Wärmeenergie nicht von kälteren zu heißeren Körpern strömt oder dass die wärmebedingten Zufallsbewegungen der Teilchen in einer Teetasse nicht dazu führen, den ganzen eben aufgelösten Zucker wieder auf dem Löffel zu versammeln«.464 Rückwärtsbewegungen sind energetisch kaum möglich (nicht komplett unmöglich, aber eben äußerst unwahrscheinlich), und auch sonst nicht immer wünschenswert. Niemand will zurück in die Steinzeit. Allerdings werden wir auch nicht den heutigen Lebensstandard beibehalten können, bei dem sich sowieso zunehmend die Frage stellt, ob dieser tatsächlich immer zu unserem Wohl beiträgt. Dass das Wahrscheinlichere eher geschieht, kann daher auch eine Chance darstellen.
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20. Tiefgreifende Änderungen erst nach einschneidenden Ereignissen.
Große Entwürfe und Systemänderungen sind wohl erst nach einer deutlichen Zäsur, nach unfreiwilligem Aufgeben der Verleugnung, möglich. Offenbar ist erst nach kritischen Lebensereignissen, zu denen dann auch solche Einschnitte gehören können, eine entsprechende Reflexion möglich, wie wir gesehen haben. Erst dadurch wird es zu einem »emotionalen Ergriffensein« und einer entsprechenden Wandlung von Einstellung und Verhalten kommen. So hat der zweite Weltkrieg zu bisher erfolgreichen Bemühungen geführt, Konflikte in Mitteleuropa friedlich zu lösen, entsprechende politische und diplomatische Netze sind dafür geknüpft worden (dass das Netz der Institutionen, etwa der EU und der Vereinten Nationen, für die neuen Krisen aber nicht mehr ausreichen könnte, ist deutlich geworden).465
Hiroshima und Nagasaki haben bewirkt, dass atomare Waffen (außer leider zu zahlreichen Versuchen) seitdem nicht mehr eingesetzt wurden. Der erwähnte Wirbelsturm von New Orleans hatte auch der sich einem Abkommen zur Minderung von Treibhausgasen zuvor vehement widersetzenden US-Regierung die Augen dafür geöffnet, dass etwas getan werden muss (die nachfolgende Regierung schließt nun allerdings die Augen wieder). Fukushima hat, zumindest in Deutschland, zum Atomausstieg geführt. So sind viele sinnvolle Fortschritte (leider) erst nach einschneidenden Ereignissen möglich gewesen. Für die Zeit danach aber sind die vielfältigen Initiativen und »Reallabore« wichtig, die heute schon das klassische Wirtschaftssystem unterwandern. Auf sie wird dann zurückgegriffen werden können, die bereits Eingeübten werden dann ihr erworbenes Wissen einer Postwachstumsökonomie weitergeben können (und müssen). Denn dass die ökologische Krise nicht erst kommt, sondern im Grunde schon weit fortgeschritten ist, wurde mehrfach deutlich. Selbst ein sofortiger theoretischer Stopp aller Treibhausgasemissionen würde die Zunahme ihres Anteils in der Atmosphäre auf Jahrzehnte hinaus nicht bremsen können; drei weitere planetare Grenzen sind zudem bereits überschritten. Was über mindestens zwei Jahrhunderte sich dahin entwickelt hat, lässt sich kaum innerhalb von zwei Jahrzehnten grundlegend umsteuern.
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Selbstheilungskräfte des Systems Erde
Offensichtlich ist solch ein »Herzinfarkt«, der nicht zum Tode, aber doch zum Umdenken führt, für die menschliche Zivilisation notwendig. Auch das System Erde insgesamt ist einem lebenden Organismus vergleichbar; der Mediziner, Biologe und ökologische Vordenker James Lovelock hat dafür den Begriff »Gaia« geprägt, benannt nach der alten griechischen Gottheit Gaia. Diese und die Hindu-Göttin Kali hatten die gleichen Charakteristika: sie waren weibliche, freundliche und nährende Göttinnen, doch wer gegen die Regeln verstieß, wurde eliminiert.466
Lovelock beschreibt die Erde als sich selbst regulierendes System mit komplexen Rückkopplungsschleifen und Zusammenhängen. Gaia habe die enorme Fähigkeit, sich von ernsten Krisen zu erholen, die es seit Beginn des Lebens mindestens 30 Mal gegeben habe. Jede davon habe 70, manche sogar 90 Prozent der damals existierenden Lebewesen getötet. Das System reguliere also nicht nur sich selbst, sondern heile sich auch. Auch die aktuelle Krise ist eine solche lebensgefährliche Situation.
Lovelock zeigt sich nicht optimistisch hinsichtlich einer gelingenden Konfliktlösung zwischen menschlichen und planetarischen Bedürfnissen, »wenn ich mir die Hoffnungslosigkeit unserer Versuche anschaue, mit uns selbst, geschweige denn mit dem Planeten zu leben«.467 Aber Menschen seien eine zähe Spezies, ebenso wie der Planet ein zäher Organismus sei. Es werde überall viele Menschen geben, die so eine Krise überleben würden, was auch immer passiere, aber: »Die Zivilisation wird wieder ganz von vorne anfangen müssen.«468
Das sind pessimistische Töne von jemandem, dessen Gaia-Theorie insbesondere in spirituellen Kreisen so etwas wie ein Religionsersatz im Sinne einer animistischen Glaubensrichtung geworden ist. Der 1919 geborene Wissenschaftler zieht eine Parallele, die sich bei Betrachtung der heutigen Situation tatsächlich immer wieder aufdrängt:
Ich vergleiche unsere jetzige Situation immer mit dem Europa der 30er Jahre kurz vor dem Zweiten Weltkrieg. Wir alle ahnten, dass ein Krieg kaum zu verhindern war. Das folgte dem Gesetz der Stammesgesellschaften, zu denen wir schließlich gehören und denen wir uns auch schwerlich entziehen können. Und wir wussten nicht, was wir tun sollten. Wer deutlich auf die Entwicklung hinwies, galt als finsterer Pessimist und wurde nicht ernst genommen. Und doch ahnten wir alle tief innen, dass irgendetwas Übles passieren würde. So war es ja dann auch. Ich glaube, dieses sehr allgemeine Gefühl des Unwohlseins ist heute wieder weit verbreitet. Die Menschen kennen nicht die Natur der Katastrophen oder Desaster, die möglicherweise vor uns liegen. (...) Wir sind in dieser alten Stammeskultur gefangen. (...) Ich hoffe darauf, dass die bevorstehende globale ökologische Krise so eine Art Reaktion des globalen Stammes provoziert, vergleichbar mit der Reaktion auf eine territoriale Aggression. Wenn es zu einer kollektiven Reaktion kommt, dann haben wir eine Chance, dann könnten wir für eine Menge Fragen Antworten finden. Aber es werden nicht irgendwelche bedeutungsschweren Worte sein, die diese Reaktion auslösen können. Es muss irgendwas passieren, irgendeine Überraschung, irgendein Desaster ausreichender Größenordnung, die den Leuten rund um den Globus deutlich macht, dass sie wirklich bedroht sind und besser etwas dagegen unternehmen sollten.469
* * *
Die ökologische Krise schreitet voran. Im Sinne der Eigendynamik kann es grundsätzlich noch zu Entwicklungen kommen, die wesentlich zur Lösung beitragen. Es sollte nicht ganz verschwiegen werden, dass es hierfür zunehmend ernsthafte Bemühungen gibt, bei vielen Bürgern (Verhaltensänderungen, Engagement in zivilgesellschaftlichen Initiativen), aber auch national (Energiewende, Atomausstieg) wie international (Klimaabkommen, Nachhaltigkeitsziele der UN).
Eine gegenteilige Eigendynamik erscheint jedoch wahrscheinlicher. Viele Dilemmatas, in denen wir stecken, führen zu dem unangenehmen und daher gern verdrängten Fazit, dass die ökologische Krise nicht mehr abgewendet werden kann.
Viele Menschen verspüren zumindest ein tiefes Unbehagen, verbunden mit der Ahnung, dass es so wie bisher nicht mehr lange weitergehen kann. Angesichts der vielen aufgeführten Gründe für den pessimistischen Ausblick bleibt offenbar nur die Alternative: Verzweiflung oder Selbstbetrug, somit resignieren oder weiter so tun, als ob man die Dinge im Griff hätte oder schon ganz viel für Nachhaltigkeit tut, was oft mehr im Kopf als real geschieht.
Die Fachleute und Experten wiederum überbieten sich intellektuell in Analysen, was denn die Ursache für die heutige Situation sein mag (auch dieses Buch ist wohl ein Beispiel dafür). Aber konkrete Lösungen können auch sie nicht bieten, zu komplex und einmalig ist die Situation, es bleibt bei eher wirkungslosen Appellen.
An dieser Stelle wird es also Zeit, mit der Bewältigung der eigenen »Krise« zu beginnen, die zu unserem widersprüchlichen Verhalten führt und zudem durch die Konfrontation mit der Umweltkrise hervorgerufen wird. Aus dem Umgang mit alltäglichen Tiefpunkten lässt sich dabei einiges lernen. Dabei geht es auch um die persönliche Haltung, um ein Abwägen von Pessimismus und Optimismus. Und es soll ein anderes Wertesystem vorgestellt werden, das es erleichtert, neben den schönen Seiten von Lust und Freude die schier unerträglichen Gewissheiten unseres Daseins, wozu Krisen, Krankheit und Tod gehören, zu ertragen. Auch die Begrenztheit, die die ökologische Krise mit sich bringt, erhält dadurch eine neue Dimension und lässt sich als Chance annehmen - wenn wir das zulassen.
231-232
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J. Lovelock Peter Kafka Gregory Fuller
Meißner, München 2017