3.3 Trotzdem, Trotz dem - Ohnmacht
und Lähmung können überwunden werden
Meißner-2017
Der Weg zu den Quellen geht gegen den Strom. (Fritz von Unruh,515)
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Die Betrachtung der ökologischen Krise, ihrer Fakten und ihrer unzureichenden Bewältigung, das Aufgeben der Verleugnung also, ist zunächst bedrückend und lähmend. Wie auch bei anderen depressiven Stimmungslagen lohnt es sich, sich durch die äußeren Krusten dieses psychischen Zustandes zu arbeiten und darunter ein zumeist gut im Zaum gehaltenes Gefühl zu entdecken: Die aktuelle Situation macht, so man es sich zugesteht, vor allem wütend und zornig.
Der Biochemiker und anerkannte Forscher Erwin Chargaff machte sich mit zunehmendem Alter über das Erreichbare keine Illusionen mehr. Das Wahrscheinlichste sei leider, dass alles weitergehen werde wie bisher, nur ärger. Er äußerte trotzdem Hoffnungen, nämlich, dass vielleicht sehr junge Leute noch in der Lage seien, sich aus dem »Stupor« zu erwecken. Unsere Welt könne nur durch ein Wunder gerettet werden. Halte er sonst nicht viel von organisierten Bewegungen, da jeder Aufstand im Herzen des Einzelnen beginnen müsse, aber gelänge überall der Zusammenschluss der vielen Bewegungen für Umweltschutz und Weltfrieden, »wie viel mächtiger wäre dann ihre Stimme«.(516) Wobei er an anderer Stelle vorher schreibt: »Selbst ein riesenhafter Aufschrei wird unsere Welt nicht retten«.517 Schließlich aber setzt er auf die Kraft der Begriffe »Trotzdem«, und »Dennoch«. An diesem Hin und Her merkt man: auch er hat um seine Haltung gerungen.
Camus glaubte ebenso, dass ein menschliches Wesen nur volle Größe erlangen könne, indem es angesichts der Absurdität des Daseins mit Würde lebe.518 Die Gleichgültigkeit der Welt könne durch Rebellion transzendiert werden, eine stolze Rebellion, durch die im Grunde jedes Schicksal überwunden werden könne. Vielleicht können, so betrachtet, durch eine solche Rebellion auch die Perspektive der Endlichkeit des eigenen Lebens und unserer Kultur überwunden und eine mutige Grundhaltung entwickelt werden. Der Astrophysiker Peter Kafka meint dazu:
»Leisten Sie Widerstand! Schämen Sie sich nicht, über Dinge mitzureden, die Sie nicht ganz verstehen! Alles Wesentliche ist nicht verstanden!« (519)
So dürfe man sich nicht das Wittgensteiner Wort, »worüber man nicht reden kann, davon muss man schweigen«, zu eigen machen, um nicht dadurch schlechten Führern zu folgen und aus falscher Bescheidenheit den Widerstand anderen zu überlassen. Vielmehr sind vielleicht heute die Autoritäten der »Wachstums- und Kapitalismus-Religion« in Frage zu stellen, so wie die Reformation im 16. Jahrhundert die Autorität der katholischen Amtskirche in Frage gestellt und somit den Boden bereitet hat zur Entwicklung einer liberalen, pluralistischen Gesellschaft hin zu Freiheit und Demokratie (u. U. damit aber auch hin zu Kapitalismus und heutigem Wirtschaftsliberalismus, der seinerseits die Rolle des Staates in Frage stellt).
Eine derartige Kritik kann dann auch Teil von etwas Umfassenden sein(520), nämlich Teil einer weltumspannenden Widerstandsbewegung gegen diesen ökologisch katastrophalen Wachstumswahn der westlichen Welt. Auch indem man nicht mehr einfach alles so mitmacht, sondern jetzt schon mitwirkt am Aufbau neuer Strukturen, kann öffentlicher Druck auf die Entscheidungsträger entstehen, können Auswirkungen der Krise abgefedert und ihr zu einer positiven Eigendynamik verholfen werden, ähnlich der Revolution vor dem Mauerfall. Doch diese somit notwendige Eigenständigkeit im Denken und Handeln kann leicht verunsichern, anerzogene Einstellungen und Glaubensmuster müssen dafür in Frage gestellt werden.
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Vom Gegenwillen zum kreativen Willen
Bei Betrachtung der Isolation im existenziellen Sinne wurde deutlich, dass eine Abnabelung von den Eltern zwar Selbstständigkeit und Unabhängigkeit, aber dann auch ein manchmal erschreckendes Auf-Sich-Gestellt-Sein bringen kann. Ergänzen müsste man an dieser Stelle, dass dieser Prozess nach Ansicht des Analytikers Otto Rank einen erheblichen Gegenwillen benötigt.521 Dieser wird jedoch in der Erziehung oft als schlecht vermittelt, so dass das Kind dazu neigt, sein gesamtes Gefühlsleben und seinen Willen als schuldbeladen zu erleben und daher zu unterdrücken. Das Kind wächst dann eher zu einem Erwachsenen heran, der seine Gefühle unterdrückt und den Akt des Wollens selbst als schlecht und verboten betrachtet. Aber nur aus dem Akzeptieren des Gegenwillens heraus kann dieser wiederum sich zu einem positiven und dann kreativen Willen weiterentwickeln.
In der jetzt sich zuspitzenden Phase der ökologischen Krise ist wieder ein »Gegenwille« des Einzelnen nötig, ein Überwinden von eingetrichterten oder durch Resignation entstandenen Schuld- und Ohnmachtsgefühlen, ein Trotzen, wie es die Kinder in der Abnabelungs- und Trotzphase vormachen. Die von oben vorgegebenen Glaubensmuster, »Wachstum ist nötig« oder »der Einzelne muss nichts tun, Politik und Wirtschaft machen das schon«, dürfen und müssen massiv in Frage gestellt werden. Das geht nicht ohne den Zorn zu spüren, der sich unter den Krusten der Resignation verbirgt - etwa im Sinne der diskutierten »emotionalen Ergriffenheit«. Aus diesem nötigen Gegenwillen kann dann, da ein reifes Erwachsenendasein (hoffentlich) längst erreicht ist, rasch ein positiver, ein gestaltender Wille werden.
Es hat keinen Sinn, auf der Ebene von Wut und Zorn stehen zu bleiben, da hieraus allein eher destruktive Entwicklungen wie Gewalt oder in der Politik Populismus entstehen, aber diese Gefühle zu spüren ist Voraussetzung für die weitergehende eigene Krisenbewältigung. Dieses emotionale Ergriffensein kann viel Energie für eigenes, entschlossenes Handeln liefern. Es kann dabei helfen, zu einer eigenen Haltung und eigenen Werten zu kommen, und ein ganz anderes Gefühl, nämlich Mitgefühl für andere, Nächste oder betroffene Fernste, entstehen lassen, was im besten Sinne »Sinn« vermittelt, der im Alltagstrott oft abhanden kommt.
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Bei sich sein
Um dahin zu kommen, braucht es im Grunde nicht viel, kein Geld, keine Vorgaben, keine Esoterik oder Religion, eigentlich auch kein Buch. All das ist hilfreich, aber nicht zwingend notwendig dafür, in sich hinein zu spüren, die innere Stimme zu hören, bei sich zu sein, die eigenen, oft genug unterdrückten Gefühle wie etwa Wut und Zorn, aber auch Mitgefühl, wahrzunehmen und dadurch zu eigenen Wertbindungen zu kommen - also nicht mehr anders zu können als wie von innen vorgegeben. Auf vielen, ganz persönlichen Wegen kann es gelingen, zu sich zu kommen und die dabei hinter anfänglichem Unbehagen entstehende Kraft, nämlich die eigenen Fähigkeiten zu spüren. So kann nach Überwindung von Verleugnung und Ohnmacht aus dem notwendigen Ärger über die Krise sowie dem Hadern mit dem Schicksal ein Experimentieren mit neuen Möglichkeiten werden, aus dem »ich will nicht« ein »ich will«. Die ökologische Krise ist das Spiegelbild der eigenen inneren Krise, und an der kann jeder Einzelne arbeiten.
Vielleicht gelingt so der Weg vom »Tun« zum »Sein«. Hierfür könnten westliche Erdbewohner, analytisch die Natur verstehend, sezierend und ausbeutend, von der orientalischen Haltung profitieren, die eher subjektiv, integrativ und ganzheitlich ist sowie dabei versucht, die Natur nicht zu analysieren und zu beschädigen, sondern sie zu erleben und mit ihr in Harmonie zu sein. Etwas ganz Neues wäre das auch in unseren Breiten eigentlich nicht: Frühe Christen sahen die Kontemplation als das Höchste an, Arbeit und Wohlstand waren dabei nicht Ziele, sondern Hindernisse, die den Geist mit Sorgen ausfüllten und Zeit in Anspruch nahmen, die an sich dem Glauben zur Verfügung stehen sollte. Erst im späten Mittelalter sehnten sich die Menschen danach, die Gesetze der Natur zu erkennen und für eine Unterjochung der physischen Welt zu arbeiten. Mitarbeit von allen wurde dabei verlangt, entweder man ruderte mit oder man war zusätzliche Last - ein Parasit auf Kosten der anderen,522 eine Sichtweise, die heute noch weit verbreitet ist.
So wurde der »Zweck« das Ergebnis aller Bemühungen, das Streben nach einem Ziel, auf einen Endpunkt hin. So wie eine Moral oder eine Geschichte einen guten Schluss haben muss, wurde alles Tun zur Vorbereitung für etwas Zukünftiges, »dann in der Rente«, oder etwa das Leben im Jenseits. Stattdessen aber kann das Leben selbst das Geheimnis sein, das gelebt werden will, eine Reise ohne Ziel, dafür mit Erfüllung und Achtsamkeit für sich, andere Menschen und die Natur.
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Chronische Stressoren jedoch wie etwa Langzeitarbeitslosigkeit, zermürbende Nebenwirkungen unserer Leistungsethik oder die ständige Konfrontation mit globalen, kaum bewältigbaren Krisen führen zu Erschöpfung und Depression; die Hoffnung, in der Krise zu sich zu finden, erscheint daher im Grunde gering.523 Aber andererseits besteht bei vielen Menschen ein tiefes Unbehagen im Angesicht der aktuellen Situation, Rat für sich selbst wird gesucht, populär-philosophische Veröffentlichungen erlangen hohe Verkaufszahlen.524
Eine angemessene Haltung zur gegenwärtigen Misere ist möglich, mit weniger Verleugnung, Ohnmacht und Resignation, dafür mit mehr Trotz, Wille, Verantwortung und neuen Chancen, so man bei sich, bei der inneren Stimme, beim eigenen Gefühl bleiben und andere Menschen mit einbeziehen kann, jedoch sich selbst nicht überfordert durch Hoffnung auf einen schnellen Wandel im großen Stil. Die folgenden Gedanken mögen dies abschließend untermauern.
Anti-resignative Perspektiven (1-10) zur ökologischen Krise ^^^^
1.
Die Überwindung der Gefahrenverleugnung ist möglich ohne zu verzweifeln. Die Situation so zu akzeptieren, wie sie ist, und eine realistische Zielsetzung wirken gegen typisch resignative Ohnmachtsgefühle. Manches kann vom Einzelnen nicht geändert werden, wovon aber zu trennen ist, was letztlich in eigener Verantwortung aus guten und schlechten Seiten im persönlichen Leben gemacht oder nicht gemacht wurde. Auch der grundsätzliche Verlauf der ökologischen Krise kann nicht geändert werden, trotzdem können angemessene Lebensstile gewählt werden, um das verbleibende eigene Dasein und das unserer Kultur sinnvoll zu gestalten. Die Bewältigung der eigenen Todesangst kann zudem helfen, auch von der Angst vor der Endlichkeit der Kultur oder des Planeten insgesamt nicht überwältigt zu werden. Es ist dann nicht mehr nötig, die schwierige globale Situation auszublenden und zu verleugnen. Sie zu erkennen, anzuerkennen und darüber zu sprechen, lindert Schmerz, Angst und Lähmung.
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Man kann dabei durchaus auf das Unwahrscheinliche hoffen. Manchmal tritt es ja ein (das eigene Sterben ist sicher, eine Verschlechterung der ökologischen Krise so gesehen nur wahrscheinlich). Schleichende Veränderungen im Sinne der genannten Shifting Baselines können auch in Richtung Nachhaltigkeit gehen und neue Normalitätsvorstellungen schaffen. Aber selbst wenn man zu dem Schluss kommen muss, dass die fortschreitende ökologische Krise im Grundsatz nicht aufzuhalten ist, also selbst wiederum eine Eigendynamik hat, muss dies nicht von vornherein schlimm sein. Krisen können eine Chance darstellen, Niedergang und Aufstieg kennzeichnen das persönliche Leben ebenso wie kulturelle oder evolutionäre Prozesse. Es wird auch nach der Krise weitergehen, wenngleich unter anderen Bedingungen. In dem Niedergang der Wachstumskultur liegt, so sie genützt wird, auch eine Chance für einen Aufstieg, für nachhaltigere Entwicklungen als es die der letzten Jahrhunderte gewesen sind.
2.
Uns trifft keine Schuld. Typisch depressive Schuldgefühle sind unnötig. Die Entwicklung ist über Jahrtausende an den heutigen Punkt gekommen, die Eigendynamik der Evolution und die dabei begrenzten biologischen und psychologischen Möglichkeiten des Menschen haben uns über viele Generationen hinweg dahin gebracht. Ohne das Gefühl, Schuld an der ganzen gegenwärtigen Misere zu sein, ist es vielleicht leichter erträglich, sie sich mit all ihren Komplikationen anzusehen. Auch wenn die Welt schlecht aussieht, muss man sich trotzdem die Lebensfreude nicht nehmen lassen, weil der Einzelne nicht für alles verantwortlich sein kann.3.
Wir müssen die Krise nicht aufhalten. Weil die Krise sehr wahrscheinlich unabwendbar ist und weil uns daran keine Schuld trifft, dürfen wir die Last von unseren Schultern nehmen, die Welt retten zu wollen und andere dafür bekehren zu müssen. Denn dies funktioniert nur sehr eingeschränkt, was am Beispiel der Moralpredigten zur Erzeugung von Werten deutlich wurde. Es lohnt sich also, den eigenen missionarischen Eifer immer wieder zu hinterfragen und sich selbst davon zu entlasten.
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Auch wenn im Großen somit vom Einzelnen nicht viel bewirkt werden kann, lohnt sich trotzdem der Versuch, ökologisch und sozial einigermaßen sinnvoll zu leben, eine »ökologische Lebenskunst«525 zu entwickeln und Veränderungen in Richtung Nachhaltigkeit zu unterstützen, um täglich mit gutem Gefühl in den Spiegel schauen zu können, allein schon des »ökologischen Gewissens«526 wegen - und um teilzuhaben an einer neuen Entwicklung, die kommt und kommen muss, egal was davor noch an Einschnitten geschehen muss.
Man kann dafür Vorschläge nutzen, die in diesem Buch zahlreich angedeutet wurden, auch schon bei der Darstellung der Fakten zur gegenwärtigen Situation. Man kann sie beachten, um etwas Sinnvolles tun und aus der Lähmung und Ohnmacht heraus kommen zu können. Aber wir müssen uns in der Zielsetzung nicht übernehmen.
4.
Lassen wir uns Selbstachtung und Würde nicht nehmen. Aus dem bisher Gesagten zu folgern, dass sowieso alles keinen Sinn hätte und man genauso (selbstzerstörerisch) weitermachen könnte wie bisher, wäre nicht angemessen. Das führt zu resignationstypischem Pessimismus und Fatalismus, bei manchen sogar zur Anwendung von Gewalt. Dadurch jedoch wird die Krise nur beschleunigt, nicht bewältigt oder gelindert.527 Das eigene Leben wirft man auch nicht weg, nur weil man irgendwann sterben muss.
Auch würde es sich wenigstens - außer für das eigene Gewissen - auch für die eigenen Kinder (oder Freunde, oder Eltern, oder Neffen und Nichten, oder ...) lohnen, sich von der ökologischen Bedrohung und den ihr zugrunde liegenden irreführenden Werten berühren zu lassen und Emotionen dabei zu spüren, um eigene neue Werte, Leitlinien und damit auch »Sinn« zu finden. Wir haben zwar keine Schuld daran, wie es zur heutigen Situation gekommen ist, tragen aber Verantwortung dafür, wie es heute und morgen weiter geht. Auf die Frage unserer Kinder, »warum habt Ihr nichts getan?«, können wir diesmal nicht mehr antworten: »Wir haben es nicht gewusst.«
Und es gibt genügend Möglichkeiten, im Sinne der Selbsttranszendenz denen zu helfen, die von den Folgen der Krise betroffen sind - zumeist sind es die, die sowieso schon unter schlechten Bedingungen leben müssen. Auch dies kann die eigene Selbstachtung stärken.
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5. Vielleicht gelingt es, achtsam und wachsam in der heraufziehenden Krise zu sein. Die fortschreitende Krise wird auch politische Wachsamkeit erfordern, um antidemokratische, freiheitseinengende und militaristische Tendenzen einzudämmen. Zu befürchten sind neben populistischen Vereinfachern zunehmende Konflikte und Spannungen, bis hin zu Kriegen, bei denen zunehmend Rohstofffragen eine Rolle spielen (wie schon im Irak, in Afghanistan, Kongo und Georgien). Sie können zum Rückfall in alte raffgierige Ego-Reflexe und zu Ausgrenzung von als Konkurrenz erlebten Bevölkerungsteilen führen. Hier die Ruhe und Würde zu bewahren, vor sich bestehen zu bleiben, auszuscheren aus der Masse und die eigene Meinung mutig zum Ausdruck zu bringen bzw. entsprechend auch zu handeln, wird eine große Herausforderung sein. Wie schwer das ist, wissen wir aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts.
6.
Ein gesundes Maß an Zorn verhilft zu eigener Position. Unter all dem Frust über die ökologische Krise steckt viel innere Entrüstung und Zorn. Es lohnt sich, diese Gefühle wahrzunehmen und damit selbst Stellung zu beziehen, aufrecht zu bleiben, eine angemessene Haltung einzunehmen sowie handlungsfähig zu bleiben. Wenn wir die eigene Selbstachtung und Würde ernst nehmen, wobei uns Selbsterfahrung und die eigene Auseinandersetzung mit den vier letzten Dingen helfen können, dann müssen wir nicht mehr auf die Handlungen anderer schauen, was uns oft neidisch oder ärgerlich macht. Ob Nachbarn weiter teure Urlaubsreisen unternehmen oder die Politiker immer noch versagen, ist dann zweitrangig.Im Gegenteil: besser erscheint es, sich gerade nicht allzu sehr auf politische und technische Lösungen »von oben her« zu verlassen. Gerade politisch ist in.den letzten Jahrzehnten zu wenig geschehen, um jetzt nur darauf hoffen zu können. Also sollte man sich nicht abhängig machen davon, da Enttäuschungen dann wieder Resignation hervorrufen, sondern besser unabhängig werden von Meinungen anderer, die eigene persönliche Freiheit und eigene Verantwortung wahrnehmen, und selbst Entscheidungen für sich treffen. Daher muss man sich das Recht auf eine eigene Meinung nicht nehmen lassen.
Also kann von jedem das Schweigen gebrochen und mit anderen gesprochen werden. Autoritäten sind auch 500 Jahre nach der Reformation in Frage zu stellen. Briefe an hohe Entscheidungsträger, Leserbriefe und Bücher können geschrieben werden, oder man redet auf Veranstaltungen mit, auch mit dem Risiko, erst einmal schief angesehen zu werden.
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7. Neue Gruppen bilden sich. Das kann, auch wenn es zunächst das Bedürfnis nach Sicherheit und Zugehörigkeit in der bisherigen Gruppe in Frage zu stellen scheint, sich dann ganz angenehm anfühlen, weil jeder dabei ganz bei sich sein kann. Und warum sollte man nicht selbst Vorbild sein können anstatt das nur von anderen zu erwarten? Eine bessere Reputation dadurch spornt weiter an. Außerdem: es bilden sich bereits - zumindest vereinzelt - neue entsprechend ausgerichtete Gruppen und Gemeinschaften in der Gesellschaft, an die dann auch wieder ein Anschluss möglich wird. Vielleicht reicht schließlich eine kritische Masse von zehn bis 15 Prozent der Bürger und Wähler dafür, die Parteien unter Druck zu setzen, um jetzt vordringliche Maßnahmen gegen die globale Erwärmung zu treffen. Vorbild dafür könnten in gewisser Weise Rechtspopulisten sein, die es geschafft haben, dass andere Parteien nun ähnliche Positionen vertreten, um deren Stimmen zu bekommen. Nur ist noch die Frage zu lösen, wie man die Dringlichkeit der Situation möglichst positiv vermittelt, ohne durch apokalyptische Szenarien die Wähler eher zu verschrecken.528
8.
Wagen wir es über den eigenen Tellerrand zu schauen. All die Sorgen und Ängste, was die eigene Bedürfnisabsicherung betrifft, aber auch die Zukunft der Welt, dürfen mit anderen geteilt werden, auch um zu sehen, wie sie damit umgehen. Gleichzeitig wird durch Empathie und Offenheit erlebbar, wie viel wieder zurückkommt, wenn die Enge des eigenen Dunstkreises durchbrochen wird (was an sich schon antiresignativ wirksam ist). Letztlich ist es dabei dann egal, ob dafür das Gespräch und die Initiative im direkten Umfeld und der Nachbarschaft gesucht werden oder die Kommunikation über das Internet wahrgenommen wird, das zur besseren Vernetzung zudem hilfreich sein kann.Wieder Bezug nehmen auf andere, und auf größer angelegte Themen, kann helfen, auch mit den Alltagsproblemen leichter zu Recht zu kommen. Vieles relativiert sich dann auch. Mit dem Blick über den Tellerrand ist es auch möglich, sich einmal mit anderen Themen zu beschäftigen, dadurch Zusammenhänge zu erkennen und Standardinformationen kritisch zu hinterfragen, also sich ein Mitspracherecht ebenso in anderen Disziplinen zuzugestehen (wie es sich auch dieses Buch herausgenommen hat).
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9.
Gönnen wir uns umweltfreundliches Weniger, und Müßiggang. »Arbeit ruiniert die Welt«, lautete eine zugespitzte Formulierung bei Betrachtung der Entropie. Warum sollte man nicht einfach alles etwas ruhiger und gemächlicher angehen, weniger arbeiten, weniger Materie und Energie in nicht mehr verfügbare Zustände verwandeln, die Mülldeponien etwas langsamer auffüllen? Insbesondere die Industrialisierung hat trotz Entlastung durch Technik und Maschinen mehr körperliche Beschwerden durch muskuläre Unterforderung sowie psychische Probleme durch zunehmenden Leistungsdruck, ungewohnte Arbeitszeiten, Vereinzelung und Verstädterung und rückläufige gesellige Rituale gebracht. Das Leben ist vermeintlich einfacher geworden, insgesamt aber komplexer und aufwändiger.»Anleitung zum Müßiggang« lautete vor einigen Jahren ein Buchtitel, ein leidenschaftliches Plädoyer für weniger Arbeit, dafür mehr Faulheit.529 Was hält also davon ab, die depressionsfördernde strenge (eher protestantische) Haltung abzulegen, die besagt, dass Spiel, Spaß, Muße, Musik, Tanz und andere Rituale schädlich für unsere Persönlichkeit und unsere Konkurrenzfähigkeit sind? Öfter zu Fuß gehen oder das Fahrrad verwenden führt weg von einer rohstoffverbrauchenden, Lärm und Stress erzeugenden hektischen Mobilität hin zu einer muskelstärkenden, gesund ermüdenden und gedankliche Kreativität ermöglichenden Fortbewegung.
Oft aber wird behauptet, großer Verzicht dürfe nicht gefordert werden. Aber erfordert nicht eher unsere gegenwärtige Lebensweise große Einschränkungen? Auf Abgase, Feinstaub, lange Anfahrtswege zum Arbeitsplatz, Zeitnot, Lärm und Stau kann eigentlich gerne verzichtet werden. Schon heute verzichtet unsere Gesellschaft auf vieles - etwa auf ruhige Städte mit sauberer Atemluft,530 auf kürzere Anfahrtswege zur Arbeit, sinnvolle Arbeitsplätze, zunehmend auf unversiegelte Grünflächen und zumeist auf gesunde Lebensmittel (es sei eigentlich eine Unverschämtheit, dass es heute gesondert Bio-Läden geben müsse, um gesunde Nahrungsmittel erhalten zu können, meinte kürzlich eine Patientin).
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Wenn schon Wirtschaft und Politik (noch) nicht vom Dogma des ewig steigen sollenden Wirtschaftswachstums lassen wollen, hindert den Einzelnen im Sinne der dargestellten Eigenständigkeit nichts daran, selbst diesen Wert schon zu relativieren. Also muss man sich nicht ärgern über ausbleibende Gehaltssteigerungen und von den Gewerkschaften vermeintlich schlecht verhandelte Tarifverträge, sondern kann stattdessen realistisch prüfen, ob man sich tatsächlich schon an der Verarmungsgrenze befindet und weiterhin ungebremst im Hamsterrad der Absicherung mitlaufen muss. Das eigene Leben und der eigene Sinn müssen immer wieder neu erfunden werden. Mit etwas trotzigem Mut, Entschlossenheit und einem Selbstbewusstsein, das nicht nur auf Geld, Konsum und Karriere beruht, sondern vielmehr auf dem Vertrauen darauf, auch mit weniger davon anerkannt und versorgt zu sein und dafür nun Teil einer weltumspannenden zivilgesellschaftlichen Bewegung zum Schutz der Lebensgrundlagen zu werden, ist das auch möglich.
Dabei wäre auch ein Weniger an heute noch alles bestimmender Wissenschaft sinnvoll. Sie hat uns in vielerlei Hinsicht in die heutige Situation gebracht. Und die Umweltprobleme sind längst ausreichend erforscht, jetzt wäre eher Handeln nötig. Beim Voranschreiten auf dem rationalen Weg des Wissens stoßen wir immer wieder an Grenzen, zu oft stören scheinbar unberechenbare Gefühle und Verhaltensweisen des Menschen den statistisch sicheren Erkenntnisgewinn. Vieles bleibt unerklärlich und unbegreiflich, wie etwa auch Liebe, Abneigung und andere Gefühle, oder das Geheimnis des Todes und der Zeit danach. Das zu akzeptieren könnte verhindern, durch vermeintlichen Fortschritt noch weiter in eine kaum mehr zu bewältigende Kompliziertheit des Lebens zu geraten.
10.
Wir dürfen innehalten und bei uns sein. Zu Ende gedacht führen weniger Arbeit, dafür mehr Müßiggang und Faulheit zu Momenten der Stille, die zunächst vielleicht erst einmal ausgehalten werden müssen, dann aber auch ausgekostet werden dürfen. Es kann in solchen »Perioden selbst auferlegter Einsamkeit«, wie sie zur Isolationserfahrung vorgeschlagen wurden, gelingen, ein inneres Gefühl, eine innere Stimme wahrzunehmen, auch wenn einen die frühere Erziehung vielleicht nicht immer darin bestärkt hat, innere Stimmen und Bedürfnisse wahr- und ernst zu nehmen, der Einzelne also jetzt zunächst unsicher wird beim Lauschen in sich hinein.Still zu sein fällt dem modernen Menschen, der an Lärm, Gehetze, Getümmel und Arbeit gewöhnt ist, nicht unbedingt leicht. Auch sie muss er wohl erst wieder einüben. Vielleicht entsteht sogar so etwas wie Langeweile, die gerne vermieden wird, die aber sehr fruchtbar und ideenstiftend sein kann. Eventuell lässt sich bei dieser Selbsterfahrung etwas vom emotionalen Ergriffensein spüren, vom bei sich sein, das zu neuen Leitlinien führt.
Dafür ist nicht immer die einsame Wanderung im Wald erforderlich. Statt sich im Verkehrsstau oder in der Warteschlange in der Postfiliale über die Verzögerung zu ärgern, kann die unerwartet für sich gewonnene Zeit wie in vielen anderen Situationen auch dafür genutzt werden, in sich hinein zu hören, Stimmungen wahrzunehmen und ein Gefühl für die eigene Intuition zu bekommen - oder aber andere Menschen interessiert zu beobachten und auch dadurch wieder zu Selbsttranszendenz zu kommen. Somit führt vom bei sich sein wieder ein Weg nach außen.
Von der Beschäftigung mit dem Selbst wieder in die Umwelt zurückzufinden, ist daher zunächst für den Einzelnen die Chance, sich selbst weniger wichtig nehmen zu müssen, Bedürfnisse anderer zu berücksichtigen ohne sich selbst dabei zu verlieren, dadurch die eigenen sozialen Beziehungen zu festigen, die eigene Psyche und die der Kinder damit zu stabilisieren und überhaupt erst den Freiraum zu bekommen, das Risiko einzugehen, die Verleugnung der ökologischen Krise aufzugeben. Und das muss dann gar nicht mehr zu den befürchteten Gefühlen von Angst, Depression oder Lähmung führen. Gemeinsam lassen sich im Kleinen auch unabwendbare Situationen im Großen besser aushalten, dabei empfundene und miteinander geteilte Gefühle von Irritation und Zorn können zu konstruktiven Ideen führen, selbst aktiv zu werden. Auch hier kann aus dem Gegenwillen wieder ein Wille werden.
Vielleicht erfüllt sich auch im Anblick der ökologischen Katastrophe, im langsamen Bewusstwerden, dass der Abschied von alten Gewohnheiten nicht zu vermeiden ist, in der beginnenden Überwindung des Nicht-Wahr-Haben-Wollens, in der Konfrontation mit der Endlichkeit unserer Kultur die für den Umgang mit dem Tod bestehende Hoffnung, dass wir begreifen, wie kostbar jeder Moment ist, und wie tröstlich unser Miteinander, wenn wir unserer Endlichkeit, unserer kurzen Zeit im Licht, wirklich ins Auge sehen.(531)
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Ende
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