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Ute Scheub
Das falsche
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2006 290 Seiten wikipe Autorin *1955 detopia S.htm |
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Ein Mann steht vor zweitausend Menschen auf, ruft »Ich grüße meine Kameraden von der SS!«, setzt eine Flasche Zyankali an die Lippen und trinkt – Stuttgart, Evangelischer Kirchentag 1969.
»Der Tod trat auf dem Weg ins Robert-Bosch-Krankenhaus ein«, notiert Günter Grass, der diesen Manfred Augst in »Aus dem Tagebuch einer Schnecke« porträtiert hat.
35 Jahre später stößt Manfred Augsts Tochter auf die Abschiedsbriefe, die Manuskripte und die Feldpostbriefe ihres Vaters. Eine erschütternde Spurensuche beginnt, bei der Ute Scheub mehr findet als nur ein einzelnes Schicksal. Wie viele jener Männergeneration, die Nachkriegsdeutschland geprägt hat, konnte Manfred Augst nicht über seine Erlebnisse im Krieg reden, schon gar nicht mit seinen Kindern, denen er nur ein ferner, liebloser Vater sein konnte. »Er ist – buchstäblich – an seinem Schweigen erstickt.«
Persönlich, anrührend, manchmal geradezu beklemmend zeichnet Ute Scheub das falsche Leben des Mannes, der ihr Vater war – und liefert das Porträt einer ganzen Generation von deutschen Vätern.
Dieses Buch gefällt mir wegen seiner sprachlichen Dichte 2006 Kay Hoffman "wolfherz"
Der Mut der Tochter, die Geschichte ihres Vaters aufzuarbeiten, sei nicht in Frage gestellt. Aber noch mehr imponiert mir die Sprachgewalt der Autorin, die es versteht, die mythische Symbolsprache der Nazis auf den Punkt zu bringen. Trotz einiger Längen halte ich dieses Buch für ein literarisches Ereignis - Bravo! Mein Kompliment.
Amazon-Lesebericht
"Das war Zyankali, mein Fräulein", sagte der Mann auf dem Podium des evangelischen Kirchentages 1969 zu der Frau neben sich, bevor er zusammensank und auf dem Weg ins Krankenhaus starb.
Zuvor hatte er die 2000 Zuhörer im Saal mit einem Gruß "an meine Kameraden von der SS" in helle Aufregung versetzt, ein Glasfläschchen an seine Lippen gesetzt und mit einem Schluck ausgetrunken. Der Name des Mannes (das heißt: das Pseudonym, das der Augenzeuge Günter Grass ihm für sein "Tagebuch einer Schnecke" gegeben hat) war "Manfred Augst, Augst wie Angst", schreibt Ute Scheub, "Er war mein Vater".
Ein fulminanter Abgang aus einem verpfuschten Leben. Und ein fulminanter Auftakt für ein bewegendes und glänzend geschriebenes Buch. 35 Jahre nach dessen öffentlichem Selbstmord, findet die Autorin auf dem Dachboden des elterlichen Hauses einen (weiteren) Abschiedsbrief des verhassten Vaters. "Jetzt könnt Ihr wahrscheinlich im Haus bleiben", steht dort zu lesen, "wenigstens noch länger. Der Bausparvertrag ist gesichert. So kann ich diesen Schritt verantworten. Was ich Euch darüber hinaus hätte sein können, bin ich auch so. Meine Hoffnung ist sogar, auf diese Weise Besinnung zu sein für Euch alle". – Das Rechtfertigungsschreiben bestätigt die Tochter in ihrem längst gefällten Urteil über ihren Vater. "Ein geschwollenes, geschwulstiges Nichts", lautet ihr Fazit. Und an den Toten gewandt fügt Sie hinzu: "Nicht mal einen anständigen Abschiedsbrief hast du hingekriegt".
Immerhin: Der Brief in der für den Vater typischen "Kampfschrift, die sich nicht darum kümmerte, ob jemand sie lesen konnte", ist Scheub Anlass genug, sich auf "eine Vatersuche" zu machen, bei der sie nicht nur das subtile Nachwirken der väterlichen Nazi-Verstrickung in ihrem Leben rekapituliert und reflektiert, sondern auch den Umgang der elterlichen wie der eigenen Generation mit der Frage nach der Schuld und danach, was aus all dem zu folgern sei. Und deshalb, wenn sie so etwas doch nur läsen: Eine lohnende Lektüre auch für die Generation der Enkel, die daraus nicht nur etwas über die Zeit ihrer Großeltern, sondern auch über die Generation ihrer Eltern erführen.
Starke Auseinandersetzung 2006 Anja H. aus Grevenbroich
Manfred Augst erlangte durch seinen inszenierten Freitod auf dem Evangelischen Kirchentag 1969 traurige Berühmtheit. Mehr als fünfunddreißig Jahre später setzt sich seine Tochter Ute Scheub nun mit diesem fernen Vater auseinander. Herausgekommen ist ein starkes, ungeheuer dicht erzähltes Buch, dass den Leser betroffen zurück lässt!
Eigentlich hätte Ute Scheub Grund gehabt, auch nach dieser langen Zeit voller Groll und Verachtung zu sein, denn dieser Vater war sowohl zu seiner Lebenszeit, mehr aber noch nach seinem Tod eine Hypothek, von der sich freizumachen ein schier unmögliches Unterfangen schien. Ute Scheub aber hat ihren Weg gefunden und lässt den Leser in diesem Buch teilhaben an ihren wechselnden Empfindungen und an ihrem Reifungsprozess. Sie zeichnet ein Leben nach, das mit dem Titel bereits mehr als treffend beschrieben ist, denn Manfred Augst's Leben war geprägt durch Irrtümer und Fehlentscheidungen und da er zur Reflektion neigte, litt er daran so sehr, dass die Entscheidung für den Selbstmord die einzig logische Konsequenz schien. Das die Menschen, die ihm nahestanden mit dieser Entscheidung weiterleben mussten, kalkulierte er ein. Dennoch gelingt es Ute Scheub, ihrem Vater Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Das zeugt nicht nur von starkem, unabhängigem Geist sondern auch von der Fähigkeit, Trauer und Wut konstruktiv zu formulieren! Respekt!
Noch so einer --- 2006 von Helga König
Die Journalistin Ute Scheub ist die Tochter des Apothekers Manfred Augst. Dieser hat 1969 auf dem evangelischen Kirchentag in Stuttgart Selbstmord begangen. Seine letzten Worte, die er vor zweitausend Kirchentagsteilnehmern formulierte, lauteten: "Ich grüße meine Kameraden von der SS!"
Wer dieser Mensch war, hat sich Günther Grass, der als Redner bei der Veranstaltung zugegen war, schon damals gefragt. Ute Scheub, die zu diesem Zeitpunkt dreizehn Jahre alt war, stellt sich diese Frage noch immer.
Die Autorin schreibt von ihrem Hass auf diesen Mann, mit dem sie sich fünfunddreißig Jahre nicht befassen wollte, weil er zu seinen Lebzeiten durch sein Schweigen, seine unnachgiebige Härte und seinen generellen Mangel an Empathie seine gesamte Familie tyrannisierte. Ute litt unter diesem fürchterlichen Despoten, dem sie sich nicht entziehen konnte, weil sie noch ein Kind war. Was hat ein Mensch im Laufe seines Lebens getan, um so zu verhärten? Weshalb ist der Mann schließlich freiwillig aus dem Leben geschieden?
Genau diesen Fragen spürt die Tochter nach. Sie setzt sich mit den Aufzeichnungen ihres Vaters auseinander, der schon in den 30er Jahren als SS- Mann den Willen Hitlers, der zu seinem eigenen wurde, gnadenlos in die Tat umsetzte. Die Sprache Manfred Augsts war noch 1969 sehr nationalsozialistisch eingefärbt. Der Apotheker hatte es nicht geschafft sich der alten Ideologie zu entledigen, weil er nicht bereit war seine Handlungen, die er während der NS-Zeit begangenen hatte, zu hinterfragen. Anstelle sich mit seinem Unrecht auseinanderzusetzen, verschanzte er sich stattdessen in seinem mentalen Bunker, wie Scheub konstatiert, der ihm allerdings den Zugang zu seinen Mitmenschen verwehrte.
1934 begann Augst in Jena "Rassenkunde und Anthropologie " zu studieren. Sein Pharmazie-Studium absolvierte er erst zu Ende der 50er Jahre während der immer noch naziverseuchten Adenauer-Ära, mit der sich die Autorin in der Folge detailliert beschäftigt. Auch zeigt sie Zusammenhänge zur 68er Bewegung auf, die sich nicht als normaler Generationenkonflikt begreifen lässt, sondern vielmehr die zwingend notwendige intellektuelle Auseinandersetzung mit den vielen Alt-Nazis im neuen Establishment war. Augsts ursprünglicher Berufswunsch war der des " Zuchtwarts". Allein die Berufswahl sagt viel über den Grad der Verblendung dieses Mannes aus.
Wie groß die Anzahl der Menschen war, die er anschließend in Polen und in Norditalien kaltblütig ermordet hat, lässt sich nur erahnen. Ute Scheub konnte es nicht in Erfahrung bringen, nicht zuletzt, weil die alten Seilschaften sich nach Kriegsende gegenseitig Alibis verschafften und Tatbestände erfolgreich vertuschten. Aber die Tochter vermutet, dass ihr Vater seine Krieghandlungen erbarmungslos durchführte. Die Autorin hat sich wirklich breitgefächert mit der NS-Zeit befasst und das wohl schon seit ihrem Politologie-Studium. Sie schreibt von den Verbrechen der Deutschen an den Juden, den Sinti und Roma und an den vielen Zivilisten unterschiedlicher Nationalitäten in ganz Europa und thematisiert die Absurdität des Rassenwahns, das absonderliche Sippendenken und die nationalsozialistischen Wertvorstellungen, wonach das Volk alles ist und der Einzelne nichts bedeutet und ein Freund, im Gegensatz zu einem Kameraden ein beliebig ersetzbarer Mensch ist.
Die Unfähigkeit einer ganzen Generation Mitleid mit den Opfern zu empfinden hat Folgen für die Kinder, wie Psychologen erforscht haben.
"Schuldgefühle, Hass auf den Vater, Autoaggression, Ängste, ungreifbar wie wabernde Nebelschwaden. Das Gefühl ein Nichts zu sein. Unwertes Leben zu sein..."
Ute Scheub wollte sich von all dem befreien, indem sie sich mit der Person Manfred Augst intellektuell auseinandergesetzt hat. Der Sohn eines kaltherzigen, geizigen, pietistischen Vaters - eines schwäbischen Volksschullehrers -, wurde von diesem gnadenlos gedrillt und führte im Grunde ein sehr einsames, bedauernswertes Leben.
Trotz dieser frühkindlichen Missstände und unheilvollen Prägungen kann Manfred Augst die Verantwortung für sein menschenverachtendes Tun aber nicht abgesprochen werden. Dies sieht auch seine Tochter Ute so. Nach dem Krieg engagierte sich Augst in der evangelischen Kirche, die , wie Scheub recherchiert, während der NS-Zeit leider selten wirklich klare Stellung gegen das monströse Treiben der Nazi-Schergen bezogen hat. Die christlichen Werte blieben Manfred Augst bis zu seinem Tod fremd. Er klagte die Kirche an, weil sie ihm nicht das zu geben vermochte, was er so dringend benötigte. Was dies tatsächlich war, konnte er bis zu seinem Tod nicht konkret definieren. Dem alten SS-Mann gelang es nicht seine Schuld anzunehmen. Er verweigerte sie und lebte durch seinen Selbstmord stattdessen ein archaisches Opferritual aus, durch das er offensichtlich auf die vielen , wie er glaubte, unverstandenen Kameraden der SS aufmerksam machen wollte. Seine Frau und seine vier Kinder waren für ihn kein Thema. Sie ließen ihn letztlich kalt. Die Bunkermentalität verstellte Augst den Blick für das Leid anderer, selbst seiner Nächsten.
Ute Scheub hat sich durch ihre tiefgehenden Reflexionen vom Schatten ihres Vaters befreien können. Sie hat ihre Traumatisierung hinter sich gelassen und kann sich nun endlich dem Hier und Heute zuwenden! Ein kluges, wichtiges Buch einer feinfühligen, intelligenten, bemerkenswerten Frau! Empfehlenswert!
https://www.deutschlandfunkkultur.de/ekel-scham-schuldgefuehl-100.html
https://www.perlentaucher.de/buch/ute-scheub/das-falsche-leben.html
zu Süddeutsche Zeitung, 18.12.2006
Elke Nicolini nötigt diese Auseinandersetzung Ute Scheubs mit ihrem 1969 durch Selbstmord aus dem Leben geschiedenen Vater Manfred Augst, der ein überzeugter Nazi gewesen war, einige Bewunderung ab. Der Autorin gelinge es, sich analytisch mit der Persönlichkeit ihres Vaters auseinander zu setzen und dabei dennoch empathischen Einblick in dessen "seelische Verkümmerung" zu gewinnen. Trotzdem, so Nicolini verständnisvoll, bleibe bei den Nachforschungen der Autorin immer die Angst spürbar, sie könnte auf grässliche Kriegsverbrechen stoßen. Das Buch, das den Lesern Einblick in die Persönlichkeit eines unbelehrbaren SS-Angehörigen bietet, hält Nicolini für klug und einfühlsam.
zu Die Zeit, 27.04.2006
"Wer möchte schon gern mehr herausfinden über einen Mann, der im Selbstmord die Kameraden von der SS grüßt und der eigene Vater war", zeigt Rezensentin Gabriele von Arnim ihr Mitgefühl für die Autorin, die sich dieser Herausforderung gestellt hat. Ute Scheubs Vater hat sich 1969 auf dem Kirchentag in Stuttgart nach einer "Suada voller Wortschutt" öffentlich das Leben genommen, Günter Grass hat den Vorfall in seinem "Tagebuch einer Schnecke" beschrieben. Da war Ute Scheub dreizehn Jahre alt und nicht besonders traurig über den Tod dieses "freudlosen Peinigers". Als ausgewiesene Journalistin hat sie sich nun einer Spurensuche nach dem eigenen Nazi-Vater gewachsen gefühlt. Rezensentin Arnim folgt ihr mit großem Interesse, kluge Fragen sieht sie von Scheub gestellt, doch gänzlich gelungen findet sie das Buch nicht. Ein wenig fühlt sie sich überschüttet von der "Seelennot der Autorin", beklemmender wäre das Buch wohl geworden, wenn es in etwas kühlerem Geist geschrieben worden wäre. Dennoch ist es für die Rezensentin ein wichtiges Buch: "Gut, dass Ute Scheub es geschrieben hat."
zu Süddeutsche Zeitung, 25.04.2006
Als "beeindruckend? beschreibt Dorion Weickmann die Art und Weise, wie sich die Autorin ihrer schrecklichen Familiengeschichte gestellt habe. Im Jahr 1969 hatte der Vater sich als bekennender Nazi theatralisch das Leben genommen. Gewissermaßen als Opfer einer ignoranten Zeit im allgemeinen und einer ignoranten Familie im besonderen. Erst dreißig Jahre später habe die Autorin auf dem Dachboden einen Karton mit Manuskripten und 14 Abschiedsbriefen gefunden, die es ihr ermöglichten, das vorliegende Buch als Abschiedsbuch vom Vater zu schreiben. Der depressive und monomanische Vater, referiert Dorion Weickman, habe es als SS-Angehöriger bis in Görings Wachbataillon geschafft und wollte es noch bis zum "menschlichen Zuchtwart? bringen, wenn da nicht der verlorene Krieg gewesen wäre. Den "miserablen Vater? könne die Autorin noch irgendwie verzeihen, nicht aber, dass der Vater, den Günter Grass 1972 porträtiert hat, niemals "auch nur ein einziges Wort des Mitgefühls? für die NS-Opfer geäußert habe.
zu Frankfurter Rundschau, 16.03.2006
Es ist eine schreckliche Geschichte, die Ute Scheub von ihrem Vater, dem Apotheker Manfred Augst, zu erzählen hat: In jungen Jahren war er ein überzeugter Nazi, SS-Mann und Wehrmachtssoldat. Eine große Karriere war ihm nicht beschieden, vielleicht, weil er selbst den Nazis als ideologisch zu verbohrt erschien, wie Rezensentin Elke Buhr berichtet: Als "Rassenkundler" hatte er sich sogar dafür beworben, "Zuchtwart" beim Reichsernährungsministerium zu werden, ein Posten, den es gar nicht gab. Seine Entnazifizierung klappte auch nur auf dem Papier, Scheub schildert ihn als durch und durch harten, lieblosen und verstockten Mann. Als Scheub dreizehn Jahre alt war, setzt er seinem Leben mit einem Fanal ein Ende: Auf dem Stuttgarter Kirchentag 1969 grüßte er öffentlich die "Kameraden von der SS" und schluckte Zyankali. In vielen Details beschreibt Scheub ihre Erkundungen nach dem faschistischen Vater, sie reibt sich an ihm und hadert. Und manchmal ist es der Rezensentin fast schon ein wenig zu viel geworden. So genau wollte sie es nicht immer wissen. Aber wenn sich Scheub der "Kontinuität der braunen Seilschaften" widmet, dann ist Buhr wieder ganz bei der Sache.