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2.2 - Kolonialismus und Kannibalismus

Taxacher-2012

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Dass wir die Welt in eine Erste bis Dritte oder Vierte einteilen, spiegelt den Vorgang, der die globale soziale Katastrophe verursacht: Das Abendland - West-/Nord-Europa also und die deren Zivilisation in die Spätmoderne übersetzende USA - hat sich die übrige Welt Untertan gemacht, hat sich selbst als erste und zentrale Welt etabliert und die übrige zu ihrer Peripherie degradiert, deren sie sich bedient und der sie zuteilt.

Der Imperialismus Europas hat dabei gegenüber allen Eroberungen zuvor etwas qualitativ Neues: Er ist global und permanent. Er vergrößert nicht den eigenen Machtbereich, sondern er dehnt ihn ins potenziell Unendliche.   detopia-2023: Weltraum

Das verändert auch das Verhältnis zum Eroberten. »Während frühere Eroberungen ... mit Einverleibung oder Assimilation der Eroberten endeten, wurden diese fremdartigen Länder als Beute betrachtet, als Spielwiese ungeahnter Möglichkeiten - nicht als Bestandteile, sondern als Anhängsel.«(25) Eroberung bedeutet so bleibende Ausstoßung: Ausbeutung statt Integration.

Wenn der Eroberte auch nach der Eroberung der Fremde und Ohnmächtige bleibt, befindet er sich sozusagen im permanenten Zustand des Erobert-Werdens. Seit den »Entdeckungen« der frühen Neuzeit hat das Abendland im Verhältnis zur »übrigen« Welt eine Art »Ontologie des Raubes«(26) entwickelt: Niemals werden »Rohstoffe, Energien, Dinge, Menschen als >sie selbst<« wahrgenommen, denn »die Wörter >seiend< oder >nehmbar< sind ... austauschbar. ... >Welt< ist mithin der Titel für ein virtuelles Besatzungsgebiet.«(27)

   Abendländisches Schmarotzertum  

Allerdings wird der in der Menschheit zuvor nie erreichte Reichtum der Industrienationen heute größtenteils auf deren Territorium selbst erwirtschaftet. Dennoch verhält sich die reiche Insel der Seligen, auf der eine Minderheit mit abnehmender Tendenz lebt, der Mehrheit der Menschheit gegenüber als Schmarotzer. Was sie selbst gern als Symbiose, Synergie oder Austauschbeziehung darstellt, fällt in Wirklichkeit immer wieder in Ausbeutung zurück. Wir haben uns so sehr in dieser abstrusen Anomalie eingerichtet, dass wir sie kaum mehr wahrnehmen: Armut scheint ein zu bekämpfendes Rest-Phänomen zu sein.(28)

In Wahrheit ist unser Reichtum »durch die Vereinnahmung des halben Planeten finanziert, durch die Übernahme des größten Teils der übrigen Hälfte erweitert und durch den Ausverkauf neuer Formen des natürlichen Kapitals, vor allem fossiler Brennstoffe, unterhalten«.29 Wir leiten alles, dessen wir habhaft werden können, auf unsere Mühlen.

Natürlich ist die Einteilung der Welt nicht statisch und die Industrienationen sind nicht immer klar gegenüber den Entwicklungsländern abgrenzbar. »Der Westen« oder »der Nord-Süd-Gegensatz« sind geografisch unscharfe Verkürzungen.

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Japan gehört eindeutig zur »Ersten Welt«, einige Länder wie Süd-Korea oder Singapur haben aufgeschlossen. Dennoch ist das Grundverhältnis real. Der verfügbare Wohlstand pro Kopf beträgt auch in den so genannten Schwellenländern Südostasiens, Lateinamerikas oder in Südafrika gerade ein Zehntel von dem der Industriestaaten. Meist behalten die Schwellenländer nämlich in einem kaum überwindbaren Maß »Dritte Welt« in sich selbst - zu studieren in jeweils unterschiedlicher Weise in Indien, China oder Brasilien. Armut ist die Normalität einer Bevölkerungsmehrheit in Staaten, in denen sich nur eine kleine Schicht von Gewinnern aus ihr befreien kann, womit sie aber gewissermaßen aus dem eigenen Land auswandert, sich an den reichen Industrienationen orientiert und die arme Mehrheit zurücklässt. In Schwellenländern bildet sich gewissermaßen die Zerteilung der Welt noch einmal intern nach (wie in kleineren Oberschichten in den gänzlich armen Ländern auch), ohne deshalb überwunden zu werden.

Ich analysiere und verdeutliche das Verhältnis dieser Teile der geteilten Welt zueinander in vier Schritten:

 # 1. »Positiv« schmarotzt die abendländische Zivilisation in der übrigen Welt, indem sie deren natürliche Ressourcen in den eigenen Dienst stellt. Dadurch entzieht sie den Menschen in der Dritten Welt diese Ressourcen, zum Teil zerstört sie diese sogar dauerhaft. Schon zu Beginn der »Conquista« der »Neuen Welt« zeigte sich der »enge Zusammenhang zwischen der Zerstörung der Menschen, ihrer Kulturen und ihrer Mit-Welt ... Der Tenochtitlan-See im Mexiko der Eroberer wurde trockengelegt, der Ackerbau der Azteken durch Viehzucht verdrängt und Getreide in Monokulturen angebaut. Das Mexiko-Tal war vor der Industrialisierung längst in eine Halbwüste verwandelt.«30 Dabei zeigt die Conquista wie im Modell Anfang und Ende des Schmarotzertums: Weil die Eroberer auf schnelle Ausbeutung und nicht auf nachhaltige Selbstversorgung aus waren, behandelten sie alles, einschließlich der einheimischen Menschen als Rohstoff.

Im Zuge der Kolonialisierung wurden riesige Gegenden in Lateinamerika, Afrika und Asien für den Anbau von Produkten umgestaltet, die überwiegend nicht in der Region, sondern in der »Alten Welt« konsumiert werden sollten. Ganze Länder fungieren seither als Lieferanten von Bananen, Mais, Baumwolle u. a.

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Der Reichtum der Eroberer spiegelt sich wider in der großen Rolle, die dabei nicht Grundnahrungsmittel, sondern Luxusgüter spielten. »Eine ganze Konfiguration neuer Genussmittel wie Zucker, Rum, Tee, Kaffee und Kakao trieb die Kolonisierung mitsamt dem Plantagensystem voran.«31 Tatsächlich hat erst die europäische Kolonisation bebaubares Land praktisch restlos der intensiven Landwirtschaft zugeführt, und das keineswegs für die in den jeweiligen Regionen ansässigen Menschen. »Die europäischen Siedler hatten etwa um 1930 alles fruchtbare Ackerland der Welt in Besitz genommen.«32 Es kam zur »Ausrichtung der Wirtschaftspolitik vieler Länder der ganzen Welt nach den Erfordernissen der reichen Staaten. ... Die weltweite Perfektionierung des kommerziellen Verteilungsnetzes hat zur Beseitigung der Hungersnöte in der industrialisierten Welt beigetragen, oftmals aber die Lebensbedingungen anderer Länder verschlimmert.«33

Die Globalisierung mit ihrem Neokolonialismus hat sogar noch verschärfte Formen der »Arbeitsteilung« entwickelt, bei der nun Land der Dritten Welt zur Ernährung des Viehs der reichen Fleischkonsumenten dient oder so genannten Biosprit für ihre Autos liefert. So wurde das Grundnahrungsmittel Mais im Frühjahr 2007 für die Armen in Mexiko plötzlich nahezu unbezahlbar, weil größere Aufkäufe der USA die Preise in die Höhe trieben. Dahinter stand die Nachfrage nach Mais als Rohstoff für Biodiesel. Das ökologische Bewusstsein der Reichen nahm den Armen ihr Essen. In weiten Teilen Lateinamerikas wurde »die Rinderhaltung enorm ausgeweitet, um ... den hohen Fleischkonsum der reichen Länder zu decken. Gleichzeitig sank jedoch bei der ansässigen Bevölkerung der Fleischverbrauch. In Guatemala (ein Beispiel von vielen) verdoppelte sich die Rindfleischproduktion von 1960 bis 1972, während sich der Pro-Kopf-Verbrauch in diesem Land um 20 Prozent verringerte.«34

Der Dokumentarfilm »Darwins Nightmare« von Hubert Sauper von 2006 zeigt, wie die Produktion von »Viktoriabarsch« in Tansania einerseits den See ökologisch bedroht - weil der Raubfisch hier ursprünglich gar nicht heimisch war -, andererseits die sozialen Verhältnisse der Region korrumpiert. Die Fabriken liefern per Flugzeug billigen Fisch nach Europa und auf einem Umweg über Russland Waffen in die Bürgerkriege Kongos. Die Tansanier leben derweil bis tief ins Landesinnere von den halb verfaulten, giftig geräucherten Fischabfällen der Fabriken.   wikipedia  Darwin's_Nightmare 

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 # 2. »Negativ« schmarotzt die abendländische Zivilisation in der Natur der übrigen Welt, indem sie ihre eigenen Umweltprobleme exportiert. Die Dritte Welt ist nicht nur die Farm, sie ist auch die Müllhalde der Ersten. So wie »die Wirtschaft interne Kosten auf die im marktwirtschaftlichen Gesellschaftssystem gleichsam rechtlose Natur abwälzt«35, so wälzt sie ökologische und soziale Folgen auf die im globalen Gesellschaftssystem Machtlosen ab. (Sonder-)Müll wird in der Dritten Welt deponiert. Seit die Umweltgesetze in den Industriestaaten ab den 1970er Jahren die Entsorgung verteuerten, »wurde der Export von Giftmüll... ein lukratives Geschäft. Mexiko vergrub Abfälle aus den USA, südostasiatische Länder entsorgen einen Teil des japanischen Sondermülls, und Marokko sowie einige afrikanische Länder importieren giftige Abfälle aus Europa und aus den USA.«36

Öffentliche Aufmerksamkeit erregt dies meist nur, wenn es zu Unfällen kommt oder das Geschäft auch buchstäblich illegal war - wie im Fall des Ende 2006 an der Elfenbeinküste abgeladenen Giftmülls. »Wie Sextouristen mit ungesetzlichen Gelüsten erledigen wir unsere schmutzigsten Geschäfte unter den Armen.«37 Meist aber wird die Verschiebung der Drecksarbeit in die Dritte Welt offiziell gebilligt. So leben ganze Regionen in China von der Ausschlachtung hochgiftigen Elektroschrotts aus den reichen Ländern. Es wird geschätzt, dass solche Müllexporte »von 1990 bis 1997 von einer Million auf 11 Millionen Tonnen anwuchsen, und die Menge des Mülls aus Industrieländern, der über Hongkong nach China gelangte, wuchs von 1998 bis 2002 von 1,2 auf über 3 Millionen Tonnen. Auf diese Weise wird Umweltverschmutzung unmittelbar aus den Industrieländern nach China verschoben.«38

Die Dritte Welt wird auch dadurch zur Müllhalde, dass die Industriestaaten ihre Produktion in die armen Länder verlegen, sowohl um Arbeitskosten zu sparen, als auch um Umweltstandards umgehen zu können. Dieselben Konzerne, die »zu Hause« mit ihrer Umweltbilanz glänzen, verlegen die schmutzigen Seiten ihrer Produktion in die Dritte Welt. Oder sie produzieren Gifte, die in den reichen Ländern längst verboten sind, aber auf den Plantagen der Peripherie weiter eingesetzt werden.

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 # 3. Die Industriestaaten sind Schmarotzer an der Arbeitskraft der Armen. Der Aufbau der Kolonialwirtschaft ging von Anfang an mit einer Massenversklavung einher. Indigene Bevölkerungen in der Karibik und in Lateinamerika wurden auf Plantagen und in Bergwerken innerhalb kurzer Zeit geradezu verbraucht und anschließend durch Sklaven aus Afrika ersetzt. Das moderne Bevölkerungsbild sowohl in Afrika als auch in Amerika kam durch gewaltige und gewaltsame Ausrottungs- und Umsiedlungsprozesse zustande, die der Ausbeutung von Arbeitskraft dienten. In afrikanischen und asiatischen Regionen wurde die Bevölkerung systematisch von ihrer traditionellen Beschäftigung fort zur Arbeit für die Kolonisatoren »umerzogen«, mal durch direkten Zwang, mal durch ökonomischen Druck.

Heute entwickelt die Globalisierung neue Formen der faktischen Sklaverei: Bevölkerungswachstum, Armut und Massenarbeitslosigkeit führen dazu, dass die Beschäftigungsbedingungen für die meisten Menschen auf Erden einfach diktiert werden. Die Globalisierung, wie sie faktisch abläuft - und nicht, wie sie von ihren Predigern idealtypisch beschrieben wird -, funktioniert gerade wegen des Gegensatzes von Reich und Arm; sie »nährt sich von der Auflösung des wirtschaftlichen und sozialen Gewebes der Welt, wie man von einer Pflanze sagt, sie ernähre sich von der Oberflächenverwesung der Erde«.39

Deshalb richtet sich die gesamte Struktur der angeblichen Entwicklung, also der Industrialisierung der Dritten Welt nicht nach den einheimischen Bedürfnissen, sondern danach, was sich in der Welt der Reichen verkaufen lässt. »Man verdient kein Geld, indem man in Thailand produzieren lässt. Man verdient Geld, indem man das, was man in Thailand hat produzieren lassen, in Deutschland verkauft.«40

Die arme Welt ist die billige Produktionsstraße der reichen - aber auch das nur, wenn es den Industriestaaten nutzt. Dort, wo die armen Länder durch ihre Billig-Konkurrenz tatsächlich einmal einen Vorteil gegenüber den Industriestaaten erzielen könnten - insbesondere in der Landwirtschaft -, verhindert dies der Protektionismus der »Nördlichen«. So kostet in Burkina Faso, einem der ärmsten Länder der Welt, Milchpulver aus Übersee weniger als die von den einheimischen Rinderhirten verkaufte Milch, weil die subventionierten Produkte amerikanischer und europäischer Lebensmittelindustrie noch unter den Herstellungskosten der Armen verkauft werden.41

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 # 4. Die Politik der so genannten entwickelten Welt ist darauf ausgerichtet, diese Schmarotzer-Verhältnisse unter sich wandelnden Bedingungen zu erhalten. Nach Conquista und der bewaffneten Welthandelspolitik der frühen Neuzeit waren schon der direkte Kolonialismus und Imperialismus des 19. und 20. Jahrhunderts ein Versuch, den Peripherie-Status der bis dahin entdeckten und erschlossenen Welten durch direkte Eingemeindung zu zementieren. Eigentlich ging es nur darum, denn der volkswirtschaftliche Nutzen der Kolonisierung als solcher war gegenüber der bisher betriebenen Ausbeutung ohne Eingliederung eher fragwürdig.42 Aber im Wettlauf um die Kolonien wurde die spätere »Dritte Welt« zum machtlosen Dritten im Konkurrenzkampf der abendländischen Nationen.

Diesen Objekt-Status behielt sie auch nach der Dekolonisierung bei. Sie wurde übergangslos zum Peripherie-Schauplatz des Kalten Krieges zwischen Erster und Zweiter Welt, zu jener Welt, in der allein man den Kalten Krieg auch heiß führen konnte, ohne einen atomaren Schlagabtausch zu riskieren. Für unsere Wahrnehmung ist es allerdings bezeichnend, dass man die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg auch unter globalem Gesichtspunkt die Zeit des Kalten Krieges nennt, obwohl in diesem Zeitraum mehr Menschen durch kriegerische Auseinandersetzungen ums Leben kamen als während des Zweiten Weltkriegs. Von Korea über Vietnam bis hin zu zahlreichen Bürgerkriegen und Schein-Bürgerkriegen in Afrika und Lateinamerika tobten »Stellvertreterkriege«. Man hatte den Krieg selbst exportiert wie die Waffen und den Müll.

»Der totale Krieg und der Kalte Krieg haben uns so lange zugesetzt, bis wir die Barbarei hingenommen haben. Schlimmer noch: Sie haben den Anschein erweckt, als sei die Barbarei unwichtig, verglichen mit den wichtigeren Dingen wie beispielsweise dem Scheffeln nach Geld.«43 Die Barbarei ist deshalb »unwichtig«, weil sie in die Peripherie verschoben wurde. Im neuen »Krieg gegen den Terror« werden wiederum Folter und die Zusammenarbeit mit Folterregimen in Kauf genommen, um die Sicherheit der Industriestaaten vor Anschlägen, aber auch um kontrollierbare Erdölpreise zu gewährleisten. Die Mehrheit der Weltbevölkerung bleibt im Status des Mittels für die Zwecke einer Minderheit.

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Eine tatsächlich apokalyptische Katastrophe produziert die Zerteilung der Welt deshalb, weil sie - entgegen allen politischen Beteuerungen - den globalen Gegensatz zwischen Reich und Arm immer weiter verschärft. »Der Unterschied zwischen dem Pro-Kopf-Einkommen in den reichen Industrienationen ... und der ärmsten nicht-industrialisierten Nation Mosambik beläuft sich auf ungefähr 400:1. Vor 250 Jahren betrug das Verhältnis zwischen reichsten und ärmsten Nationen vielleicht 5 zu 1.«44

Insgesamt betrug nach Berichten der UNO »das Verhältnis von Reichen und Armen im Jahr 1960 1:30, im Jahr 1990 1:60 und im Jahr 1997 1:74«.45 Statt einer nachholenden Entwicklung gibt es, aufs Ganze gesehen, also eine immer tiefere Zerteilung der Welt. Man kann diesen Wahnsinn sogar auf Einzelpersonen hin berechnen: Gegen Ende des 20. Jahrhunderts »besaßen die drei reichsten Menschen der Welt (allesamt Amerikaner) zusammen ein größeres Vermögen als dasjenige der 48 ärmsten Länder zusammengenommen«.46 Global gerechnet, verfügen heute 1200 Einzelpersonen über drei Prozent des weltweiten Privatvermögens - und die Hälfte der Menschheit besitzt zusammen weniger als sie.47 Diese Zerteilung der Welt hat längst ins nackte Leben durchgeschlagen: So stagniert die durchschnittliche Lebenserwartung in Afrika seit Jahrzehnten auf einem Niveau von 25 Jahren unter dem der Industriestaaten.48

 

   Menschenverbrauch  

Das Schmarotzertum der abendländischen Zivilisation an der übrigen Welt ist in seinem apokalyptischen Charakter erst erfasst, wenn man offen legt, was mit den Menschen und damit mit dem Menschsein in dieser katastrophalen Entwicklung eigentlich geschieht. Unter dem ökologischen Aspekt zeigte sich das apokalyptische Gefälle der Krise im Heraufziehen eines bisher nie da gewesenen Verhältnisses des Menschen zur Natur. In der globalen sozialen Katastrophe macht sich der Mensch parallel zur Natur den Menschen Untertan.

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In der europäischen Welteroberung als der Außenseite des neuzeitlichen Fortschrittsprojekts werden »die anderen« zum Mittel dieses Fortschritts. In den katastrophalen Folgen dieses Zugriffs wird der reine Über­lebens­kampf der Menschen zum Gegner des Fortschrittsprojekts. Die Politik der Einigung der Welt durch ihre Zerteilung führt in einen Überlebenskampf aller gegen alle, zu einer Kannibalisierung der Menschheit.

 

1. Der ewige Unfriede: Im Prozess der europäischen Welteroberung wird der Begriff der universalen Menschheit und eines alle einigenden Menschseins überhaupt erst entwickelt. Zuvor erwartete man jenseits des eigenen Kulturkreises fabelhafte Abarten der eigenen Art, sozusagen Aliens der fremden Kontinente, die man sich mit nur einem oder mit drei Augen, mit zwei Köpfen oder als Kopffüßler vorstellte und die Riesen waren oder Zwerge. Die Welteroberung entzauberte diese Erwartung. So gehen paradoxerweise die Unterwerfung, Versklavung und Vernichtung der anderen zeitlich parallel zu der Erkenntnis, dass diese anderen auch Menschen, Mitmenschen sind.

Dieser Erkenntnisprozess beginnt mit den Verhandlungen um die Indianergesetze vor Kaiser Karl V, setzt sich fort in den puritanischen Spekulationen über die Indianer als Nachkommen der verlorenen Stämme Israels und entscheidet sich schließlich in der Globalisierung der christlichen Mission. Dabei setzt sich die Erkenntnis, es bei den anderen tatsächlich mit Menschen zu tun zu haben, nicht etwa nur bei humanitären Menschenrechtlern, sondern auch bei den Conquistadoren durch. Nicht nur siegt Las Casas' Auffassung vor Karl V, sondern auch die Eroberer machen sie sich zu eigen, indem sie denen, die sie massakrieren, zuvor den Befehl zur Unterwerfung unter den spanischen König und zur Bekehrung zum christlichen Glauben vorlesen.

Die nordamerikanischen Siedler schließen Verträge mit den Einheimischen, um sie immer wieder zu brechen und durch neue zu ersetzen. Im 19. Jahrhundert wird die Weltkolonisierung in Afrika und Asien als Auftrag zur Missionierung, Zivilisierung und Erziehung begründet und getarnt. In jedem, auch dem mörderischsten Fall ist damit als Voraussetzung anerkannt, dass es um die Frage geht, wie der Mensch sich zum Menschen verhält und wie daraus eine Menschheit entsteht - die es zuvor im Singular noch gar nicht gab.

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Mitten in diesem Prozess hat sich diese Frage Immanuel Kant gestellt. In seiner Schrift »Vom ewigen Frieden« gründet Kant seine Ablehnung des Krieges in der Entdeckung, »dass zum Töten oder getötet zu werden in Sold genommen zu sein einen Gebrauch von Menschen als bloßen Maschinen und Werkzeugen in der Hand eines anderen (des Staates) zu enthalten scheint, der sich nicht wohl mit dem Rechte der Menschheit in unserer eigenen Person vereinigen lässt«.49 Das Soldatentum widerspricht also schon in seiner Anlage der Maxime, aus der heraus Menschsein sich überhaupt begründet weiß: dass der Mensch, der andere meiner selbst, nur Ziel und niemals Mittel des Handelns sein kann. Im Krieg aber wird der Mensch einfach zum Exemplar, zum Ding, zur Waffe in der Hand anderer.

Der politische Weg zur Überwindung des Krieges beginnt deshalb für Kant damit, dass die Menschen selbst über ihn entscheiden: Durch »die republikanische Verfassung«, in der »die Beistimmung der Staatsbürger dazu erforderlich wird zu beschließen, >ob Krieg sein solle oder nicht<«50, würden Kriege auf Dauer aufhören, weil sie den eigenen Interessen widersprechen. Allerdings ist sich Kant dabei bewusst, dass auch Demokratien Krieg im Interesse des eigenen gegen andere Völker führen können. Das widerspricht zwar »dem Begriffe des Völkerrechts«, entspringt aber einer Praxis »nach einseitigen Maximen durch Gewalt, was Recht sei, zu bestimmen«.51 Gerade solche Kriege, in denen nicht mehr Gleiche gegen Gleiche kämpfen, sondern mit den ideologisch, sozial oder kulturell ganz anderen, führen schließlich in den totalen Krieg, den »Ausrottungskrieg, wo die Vertilgung beider Teile zugleich, und mit dieser auch alles Rechts treffen kann« und der »den Frieden nur auf dem großen Kirchhofe der Menschengattung stattfinden lassen würde«.52 Es bedurfte eineinhalb Jahrhunderte, um diese Erkenntnis Kants militärtechnisch und politisch wortwörtlich einzuholen.

Kant ist sich auch schon bewusst, dass seine Überlegungen ihr ultimatives Anwendungsgebiet in einer neuen und ungleichen Beziehung der europäischen Staaten zu der eroberten Welt haben. Denn die von ihm gewünschte »weltbürgerliche Verfassung« universal gültigen Rechts findet ihren radikalen Gegensatz »im Betragen der gesitteten, vornehmlich handeltreibenden Staaten unseres Weltteils«, in der...

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»Ungerechtigkeit, die sie in dem Besuche fremder Länder und Völker (welches ihnen mit dem erobern derselben für einerlei gilt) beweisen ... Amerika, die Negerländer, die Gewürzinseln, das Kap usw. waren, bei ihrer Entdeckung, für sie Länder, die keinem angehörten; denn die Einwohner rechneten sie für nichts.«(53)

Kant erkennt, dass diese Auslöschung der anderen als Rechtssubjekte jede Friedenspolitik im innersten bedroht. Denn der Grundsatz, den Menschen nicht als Mittel zu betrachten, wird hier im größten Maßstab außer Kraft gesetzt.

Die gerade eben erst entdeckte Fülle der Menschheit wird in der ersten und damit entscheidenden Begegnung von den »Entdeckern« nicht als Teil der Menschheit behandelt. In dem Globalisierungsprozess, in dem die eine Menschheit erst entsteht (wie es heute euphemistisch heißt: »zusammenwächst«), wird zugleich ein immer größerer Teil aus der Menschheit - nämlich von den ihr zugehörigen Rechten, von ihrer Würde - ausgeschlossen. Entdeckung und Vernichtung, Einung und Zerteilung ereignen sich als ein Vorgang am innersten dessen, was Menschheit heißt.

Diese Zerteilung demontiert jeden Weg zum Weltfrieden, weil sie einerseits den permanenten Krieg in die Peripherie trägt, andererseits diese den Menschen verachtende Politik am Ende auch das Zentrum wieder einholen wird. Was die eine Seite angeht, sieht Kant - entgegen der späteren und zum Teil bis heute vertretenen These von der Befriedung ständig kämpfender wilder Stämme durch die Europäer -, dass sich mit der Kolonisierung »Unterdrückung der Eingeborenen, Aufwiegelung der verschiedenen Staaten derselben zu weit ausgebreiteten Kriegen, Hungersnot, Aufruhr, Treulosigkeit«54 verbreiten.

Kant sieht also schon die soziale und politische Zerrüttung, die einmal das Erbe der »Dritten Welt« sein wird. Zugleich macht er auch für Europa eine letztlich verheerende Bilanz des Kolonialismus auf, noch bevor dieser so recht begonnen hat. Es werde nämlich »dieser Gewalttätigkeit nicht einmal froh werden«, denn die Regime in Übersee würfen entweder gar keinen echten Gewinn ab oder sie stünden vor Aufruhr und Umsturz. Letztlich dienten sie vor allem der Vergrößerung des militärischen Apparats »und also wieder zur Führung der Kriege in Europa«.

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Noch vor Beginn des 19. Jahrhunderts analysiert Kant hier einen Vorgang, den man erst im 20. Jahrhundert in seinen vollen Auswirkungen sah, als die imperialistischen Großmächte nach dem kolonialen Wettlauf schließlich den Ersten Weltkrieg entfachten - jene christlichen Kernstaaten des Abendlandes, die, wie Kant sagt, »von der Frömmigkeit viel Werks machen, und, indem sie Unrecht wie Wasser trinken, sich in der Rechtgläubigkeit für Auserwählte gehalten wissen wollen«.55

 

2. Die Zerstörung der Humanität: Die Zerteilung nicht nur der Welt, sondern des Menschseins selbst ist also der Schatten der Entdeckung der einen Menschheit. Das konnte man schon zu Beginn der Koloni-alisierung, zur Zeit Kants, wahrnehmen, wenn man denn die in Europa entdeckte Humanität tatsächlich und nicht nur ideologisch ernst nahm. So notierte Alexander von Humboldt 1803 in Guayaquil, »dass die Idee der Kolonie selbst eine unmoralische Idee ist«, und er war sich bewusst, dass Europa mit der Welteroberung und Kolonisierung einen Weg angetreten hatte, der auch die Herrschenden, die Kolonisten, dauerhaft in eine umgekehrte Abhängigkeit führen würde, weil »das Glück der Weißen aufs innigste mit der kupferfarbenen Rasse verbunden ist und es in beiden Amerikas überhaupt kein dauerhaftes Glück geben wird, als bis diese, durch lange Unterdrückung zwar gedemütigte, aber nicht erniedrigte Rasse alle Vorteile teilt, welche aus den Fortschritten der Zivilisation ... hervorgehen«.56

Das kleine Wörtchen »teilt« ist wohl das Entscheidende in diesem Satz: Weil Humanität nicht teilbar ist, wird sie insgesamt verletzt, wo sie nicht geteilt wird, wo anderen ihr Anteil daran verweigert und geraubt wird. Eine Welt, deren Einigung auf diesem Prinzip der Teilung durch verweigertes Teilen beruht, ist im Kern und im Ganzen eine inhumane Welt. Das ist das zutiefst Empörende an den kolonialen und neo-kolonialen Zuständen.

Die Beziehung zwischen dem fehlenden Glück der Weißen und der verletzten Menschenwürde der anderen weist aber eine noch schärfere wechselseitige Abhängigkeit auf: Denn die Humanität, welche die Zeitgenossen von Kant und Humboldt entdeckten, während gleichzeitig die Weite der Welt entdeckt und erobert wurde, ist von ökonomischen und sozialen Lebensbedingungen nicht zu trennen. Sie ist im Gegenteil ein Luxusgut, insbesondere in der individualistisch gewendeten Weise, die das US-amerikanische »Recht auf Glück« und die moderne »Selbstverwirklichung« meinen.

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Diese Form der Würde des Individuums hat sich die Gesellschaft der Weißen erkämpft, während und indem sie den anderen verweigert wurde. Die massenhafte Sklaverei als Grundlage der Kolonial- und Siedlerwirtschaft entstand als »Institutionalisierung der Rechtlosigkeit eines Teils der Menschheit zu eben der selben Zeit, als die rationalistische Aufklärung angeblich ihre Glanzzeit in der westlichen Welt entfaltete«.57 Die neuzeitliche Sklavenhalter- und Kolonialgesellschaft hat anderen die Würde geraubt, damit sich eben diese Würde möglichst viele in Europa und den Siedlungsgebieten in Übersee leisten konnten.

Die Entdeckung der Humanität und ihre Zerteilung sind ein Vorgang. Deshalb ist es wichtig, das Ergebnis dieses Vorgangs im Konkreten, im Menschlichen wahrzunehmen, weil es sich gerade hier exakt manifestiert. »Das praktische Moment (Beziehung Mensch - Mensch) wird im Ökonomischen real, das Ethische des Ökonomischen ergibt sich aus der wesentlichen praktischen Beziehung.«58 Daraus, was der Mensch dem Menschen ist, seit Europa die Welt eroberte und seine Maximen globalisierte, und wie sich dieses Verhältnis heute zuspitzt, lässt sich ablesen, was der Mensch geworden ist. Deshalb ist die soziale Katastrophe der armen Welt eine Apokalypse des Menschseins insgesamt, im doppelten Sinn: ein Offenbarwerden des Menschseins und seines Untergangs.

»Es ist ein empörender Gedanke, dass es noch heutzutags auf den Antillen spanische Ansiedler gibt, die ihre Sklaven mit dem Glüheisen zeichnen, um sie wiederzuerkennen, wenn sie entlaufen. So behandelt man Menschen, die anderen Menschen die Mühe des Säens, Ackerns und Erntens ersparen.«59 Man mag darüber stolpern, dass Alexander von Humboldt hier von einem »empörenden Gedanken« spricht. Ist nicht vielmehr die Sache selbst empörend? Klingt in der Formulierung nicht eine Distanzierung mit, in der der gebildete Europäer sozusagen nur sein Bewusstsein beleidigt findet?

Andererseits ist genau in dieser Formulierung ein Kern der Sache selbst getroffen: Der gebrandmarkte Sklave auf den Antillen zerstört tatsächlich das europäische Denken, seine Philosophie der Humanität, der Menschenwürde und -rechte. Und er tut dies, indem er doch gleichzeitig mit seiner Sklavenarbeit eben diese europäische Menschenwürde, den zu ihr notwendig gehörenden Lebensstandard und Lebensstil ermöglicht.

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Der Mensch ist des Menschen Sklave: Das steht am Ursprung der Globalisierung. »Die gesamte Menschheit, die gesamte Erde wurde mit ihren unzähligen Völkern zum Gegenstand eines wirtschaftlichen Unternehmens: zum Kolonialbesitz, der Gewinn abwerfen sollte.«60 Alles und alle werden in diese Ökonomie einbezogen, es sei denn, sie stehen ihr einfach nur mit ihrer Existenz im Wege. Dann werden sie vernichtet. Die nicht versklavten, nicht unterdrückten, sondern tatsächlich verschwundenen und immer noch verschwindenden Völker sind der Grenzfall, das immer mehr unsichtbare Symbol des neuzeitlichen Verhältnisses von Mensch zu Mensch. Oftmals als Wilde und Menschenfresser verunglimpft, werden Völker tatsächlich vom weißen Mann von der Erde »vertilgt«: etwa so, wie es Claude Levi-Strauss von den weißen Brasilianern von Sao Paulo beschreibt, denen es noch im ausgehenden 19. Jahrhundert ein »Zeitvertreib« war,

»in den Krankenhäusern die verseuchten Kleidungsstücke der Pockenopfer zu sammeln und sie, zusammen mit Geschenken, entlang der Pfade aufzuhängen, die noch von einigen Stämmen benutzt wurden. Was zu folgendem Resultat führte: Im Staat Sao Paulo, der so groß ist wie Frankreich und den die Landkarten von 1918 noch zu zwei Dritteln als >unerforschtes, von Indianern bewohntes< Gebiet verzeichneten, lebte, als ich im Jahr 1935 dort ankam, kein einziger Eingeborener mehr.«61

Angesichts der »ungeheuerlichen und unbegreiflichen Katastrophe ..., welche die Entwicklung der westlichen Zivilisation für einen ebenso großen wie unschuldigen Teil der Menschheit bedeutete«, hält Levi-Strauss die Europäer in Südamerika nur mit einem dortigen Volk für vergleichbar: mit den Azteken und ihren massenhaften Menschenopfern. Ihr »manischer Durst nach Blut und Folter« sei ein Phänomen, das »sie uns zur Seite stellt, nicht weil sie die einzigen Ungerechten gewesen wären, sondern weil sie dies in unserer, d. h. in maßloser Art gewesen sind«.62

Der Mensch der Zivilisation, die schließlich auch die Azteken in einem Blutbad beseitigte, ist des anderen Vertilger, der sich von ihm ernährt, ausbeutend oder vernichtend. Er ist der Kannibale der Menschheit geworden.

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3. Die neue Sklaverei: Die Kannibalisierung des Verhältnisses von Menschen mit Würde zu entwürdigten Menschen ist keineswegs Vergangenheit, koloniale Geschichte, sondern in der Gegenwart in ein neues Stadium getreten. Ein symbolischer Ort dafür war Cubatao, das so genannte Tal des Todes in der Nähe des eben erwähnten brasilianischen Sao Paulo. Hier lebten die Armen in den von der petrochemi-schen Industrie verseuchten Sümpfen in Stelzenhäusern. Bis in die 1990er Jahre hinein waren Wasser und Luft so vergiftet, dass 35 Prozent aller Kinder vor ihrem ersten Geburtstag starben. Manche wurden ohne Gehirn geboren. Die überlebenden Kinder lebten hinter Gittern, um nicht in die Sümpfe zu fallen. Bei Bränden, die in dem öligen Wasser leicht ausbrachen, starben die Menschen schutzlos in ihren Hütten. »Es gab keine Vögel in Cubatao, angeblich nicht einmal Insekten, und seine Bäume verwandelten sich in geschwärzte blattlose Skelette. Laborratten, die 1986 in einem gemieteten Zimmer in Villa Parisi, dem ärmsten und verschmutztesten Teil der Stadt, gehalten wurden,... erlitten beträchtliche Schäden am Atmungssystem.«63 Aber warum lebten hier Menschen, wo es Ratten kaum vermochten? Weil die Armen Brasiliens kein Land haben, auf dem sie von ihrer eigenen Hände Arbeit leben können. Sie müssen sich deshalb - als Sklaven ohne Sklaverei - in den Städten durchschlagen, in denen sie oft keinen anderen Wohnraum finden als im Straßengraben oder eben im verseuchten Sumpf.

Was sich in Cubatao abspielte, stellt den wahren Zustand der Welt dar, nur dass er insgesamt schwerer wahrzunehmen - oder leichter zu leugnen - ist. Selbst die Sklaverei ist nicht wirklich vorbei, sondern in neuen Formen ein Massenphänomen. Die UN schätzte 1999, dass etwa 20 Millionen Menschen weltweit »bonded labour« leisteten, d. h. in einem System von Besitzlosigkeit und Überschuldung als Lohnsklaven arbeiteten.64 Wahr­scheinlich ist diese Zahl viel zu niedrig angesetzt, gibt doch das Internationale Arbeitsamt in Genf 1996 allein die Zahl der Kinder bis 14 Jahren, »die unter Bedingungen leben, die der Sklaverei in nichts nachstehen«, mit 200 Millionen an.65

Der größte Teil dieser neuen Sklaven arbeitet für internationale Firmen bzw. für die Märkte der Industrieländer. Diese Sklavenarbeit ist der Schlüssel zu der Frage, warum es so viel Kapitalflucht aus den Industriestaaten gibt, so viel Verlagerung von Arbeitsplätzen, aber so wenig wirkliche Entwicklung in den Entwicklungsländern.

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Die abwandernden Firmen nutzen die Unterdrückungsstrukturen an den neuen Produktionsstätten, um den Faktor Arbeit - also den Faktor Mensch - in ihrer Kalkulation zu minimieren. Dazu dienen Schuldknechtschaft und Kinderarbeit: Wie Naomi Klein berichtet, wurden die minderjährigen Vertragsarbeiter für Adidas, Reebok, Umbro u. a. regelrecht an ihre Arbeitgeber verkauft und wie Sklaven mit einer Brandmarke versehen. Heimliche Filmaufnahmen dokumentierten die Arbeit in Kindersklaven-Fabriken in Indonesien und China, wo Kleider für Disney- und Mattel-Puppen (»Barby«) genäht wurden.66 Oder man nutzt die so genannten »Sonder­wirtschafts­zonen«, in denen die Firmen agieren können, ohne auch nur an das Steuer- und Arbeitsrecht der »Gastgeberländer« gebunden zu sein. Allein in China soll es 1998 etwa 400 solche Zonen mit ca. 30 Millionen Beschäftigten gegeben haben.67

Auch die Verteilung des globalen Konsums zeigt die Zerteilung der Welt in ihrer wirklichen Radikalität: »Das reichste Fünftel der Welt konsumiert 86 Prozent sämtlicher Güter.«68 Dass im Verhältnis von Mensch zu Mensch ein globaler Kannibalismus herrscht, lässt sich am besten am primären Konsum, der Nahrung, ablesen: Während »die Hälfte der Getreideernte weltweit für Viehfutter verwendet wird«69, haben mehr als eine Milliarde Menschen »weniger zu essen, als der Körper eigentlich braucht. ... Etwa 13 Millionen Menschen verhungern jährlich, direkt oder indirekt.«70

Gleichzeitig kaufen Konzerne seit Jahren in großem Stil Land in der Dritten Welt auf, um dort für ihre Kunden Nahrungsmittel herzustellen, meist, indem der Boden Einheimischen entzogen wird. So pachtet das Scheichtum Katar Land in Kenia, ohne sich um die Rechte dortiger Kleinbauern der Orma und Pokomo zu kümmern. Der US-Finanzinvestor Blackstone baut die größten Palmölplantagen der Welt in Kamerun auf, indische Firmen sichern sich gegen den ohnmächtigen Protest dortiger Hirten Land in Äthiopien. Diese Beispiele(71) so genannten Land-Grabbings ließen sich vermehren.

Auf den Weltmeeren herrscht derweil das reinste Freibeutertum. So fangen Fischereiflotten aus EU-Ländern die Gewässer vor der westafrikanischen Küste so rigoros leer, dass die einheimischen Kleinfischer kaum mehr genug zum Leben haben.72

Beim Grundlebensmittel schlechthin, dem Wasser, sprechen die Zahlen ebenso für sich.

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Ein Nordamerikaner konsumiert pro Person und Jahr 1280 Kubikmeter Wasser, Asiaten 535, Südamerikaner 311 und Afrikaner 186. Dass dies mit der ökonomischen Zerteilung der Welt und nicht etwa mit geografischer Wasserarmut zu tun hat, zeigt der Wasserverbrauch der Australier, die auf dem trockensten Kontinent der Welt leben, aber mit 694 Kubikmeter Wasser so viel verbrauchen wie die Europäer auch.73 Eine UN-Kommission prognostizierte bis zum Jahr 2025, dass »die Zahl von Menschen ... mit unzureichender Wasserversorgung auf 47 Prozent der Weltbevölkerung anwachsen wird«.74

Die gegenwärtige Zuspitzung der Verhältnisse zeigt sich darin, dass auch die Körper der Armen in den Neokolonialismus als Waren einbezogen werden: ihre Organe oder ihre Kinder. Arme verkaufen ihre Kinder auf dem Adoptionsmarkt der Reichen.75 Totgeborene oder früh gestorbene Kinder armer Regionen werden von der Kosmetikindustrie ausgeschlachtet. Reiche Kranke reisen nach Indien, weil es hier Organe billig gibt, auf die sie zu Hause lange warten müssen. Slumbewohner verkaufen ihre Nieren. Kriminelle töten auch für dieses Geschäft.

Schließlich dienen die Körper der Armen - insbesondere von Frauen und Kindern - der Befriedigung der Reichen: Sextourismus, Zwangsprostitution und Frauenhandel sind keine Nischenphänomene, sondern ein weltweit bedeutender Wirtschaftszweig. Die Zahl der Zwangsprostituierten wird auf etwa fünf Millionen geschätzt, zwei Millionen davon sind Kinder.76

Ein schon 1949 ausgehandeltes »Übereinkommen zur Beseitigung der Ausbeutung durch Prostitution« wurde von Frankreich nur unter der Bedingung unterzeichnet, »seine Anwendung zwar im Mutterland selbst, aber nicht in den überseeischen Departements und Territorien durchzusetzen«.77 Besser kann man die Zerteilung der Welt nicht dokumentieren.

 

4. Ums nackte Leben: Die Kennzeichnung des Verhältnisses vom Menschen zum Menschen in unserer Zivilisation als Kannibalismus stammt von Günther Anders. Er sprach 1980 von einem »postzivilisatorischen Kannibalismus«78 - und bezog diesen auch auf die Umkehrung der kantschen Maxime, den Menschen niemals als Mittel zu gebrauchen. Da unsere Zivilisation auf universaler Ausbeutung alles Gegebenen beruht, bezieht sie konsequent auch den Menschen darin ein. »Da die Welt prinzipiell als Rohstoff gilt, muss auch das Weltstück >Mensch<, damit das Prinzip nicht verletzt werde, als solcher behandelt werden.«79

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Das Verhältnis unserer Zivilisation zum »nackten Leben« hat Giorgio Agamben in den letzten Jahren eindringlich analysiert. Die neuzeitliche Macht ist »biopolitisch« geworden - wie Michel Foucault formulierte: Sie gestaltet das Leben ihrer Untertanen, optimiert und designt es. Heute besteht diese Politik im Herstellen von »Lebensqualität«, von »Volksgesundheit«, von »Fitness für die Globalisierung«.

Aber dieser Vorgang produziert, wie Agamben zeigt, gleichzeitig jene, die mit ihrem nackten Leben negative Objekte dieser Politik werden - einbezogen durch Aussortieren. Dies begann im 20. Jahrhundert mit den massen­haften Flüchtlingen, die nirgends hingehörten, nur ihr nacktes Leben gerettet hatten und damit zu einem Problem für die zivilisierten Systeme wurden.80

Ich fürchte, dass dieses Ursprungsproblem in bisher unbekanntem Ausmaß auch am Ende der Biopolitik stehen wird. Ein weiterer Schritt in der zivilisatorischen Definition von nacktem Leben nennt Agamben die »Euthanasie«, also die Unterscheidung von lebenswertem und lebensunwertem Leben - die keineswegs von der Nazidiktatur, sondern schon zuvor von Medizin-Politikern eingeführt wurde und auch heute propagiert wird.81

Die Todeslager des Archipel Gulag und die Vernichtungsmaschine des Systems Auschwitz führen die Benutzung und Vernichtung des nackten menschlichen Lebens ins systematische Extrem.82 Aber auch die Experimente von Ärzten in den USA an zum Tode Verurteilten83 gehören in diesen Bereich, wo die Zivilisation - und nicht etwa ein Rückfall in »vormoderne Barbarei« - einen neuen, radikalen Kannibalismus, den Verbrauch menschlichen Lebens entwickelt. Das dafür verwendete menschliche Leben muss nur so entwertet, so sehr auf sein nacktes Leben reduziert werden, dass die Schwelle überschreitbar erscheint, ohne dass dies als ein monströser Schritt noch wahrgenommen wird.

Agamben deutet an, dass die größte Verwandlung von menschlichem in entwertetes Leben in unserem Verhältnis zur »Dritten Welt« stattfindet.84 Das bedeutet, dass alle im 20. Jahrhundert schon ausgeprägten Formen des neuen Kannibalismus als furchtbare Möglichkeit über dem größeren Teil der Menschheit schweben, wenn erst einmal die entscheidenden Runden im Kampf um das ökologische und soziale Überleben eingeläutet werden.

Vielleicht sind die Selbstmordattentäter, die ihr nacktes Leben als Waffe einsetzen, um wahllos solche zu töten, die ihrer Meinung nach zur reichen Welt des Westens gehören oder mit ihr paktieren, Vorboten dessen, was kommt. Dabei gehören diese Täter oft gar nicht zu den wirklich Armen. Aber sie nisten ihre Ideologie in der Realität der Zerteilung der Welt ein. Und es ist das auffälligste Kennzeichen dieser Kannibalisierung, dass den Rekruteuren der menschlichen Waffenkörper anscheinend ein unerschöpflicher Nachschub zur Verfügung steht.

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(2) 1. Erste Täter und erste Opfer   - Taxacher 2012