Rudi Dutschke

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"Sagen Sie mir, Herr Dutschke, 
welche Grund­eigen­schaften müssen aus dem Menschen herausoperiert werden, 
damit sie das leisten können, was Sie von ihnen erwarten?"  -
"Nicht eine einzige!" 

Günter Gaus am 3.12.1967, im ZDF "Zu Protokoll" 

   

wikipedia Dutschke   1940-1979 (39, 1968:Attentat)

wikipedia  Günter_Gaus  1929-2004

 

detopia: 

Utopiebuch   Umweltbuch 

Kommbuch    D.htm  

Ro-Uesseler     Ri-Reiser   Pe-Kelly 

 Pe-Grottian    Pe-Brückner   He-Marcuse 

 

2021 Würdigung Dutschke als Volksredner:
 heise.de/tp/features/Rudi-Dutschke-die-Kraft-der-Worte-6041753.html 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Youtube "Zu Protokoll" 1967  

Amazon Dutschke    

Wikipedia Gaus  (1929-2004, 75) 


Rudi Dutschkes Tagebücher sind vor allem eines: 
Ein Dokument des Scheiterns 
Von Fritz Raddatz 

Ein Dokument: berührend, aufregend, Applaus und Kritik gleichermaßen provozierend. Anteilnahme allemal. Rudi Dutschke hat mit seinen Tagebüchern die Skizze zu einem Selbstporträt geliefert, mal Spiegelbild, mal Karikatur; Lachfalten sind nicht zu entdecken im gläubigen, auch fanatischen Gesicht.

Gläubig? Tatsächlich zeigen die Notate, Reflexionen, Selbsterkundungen einen zu Beginn der sechziger Jahre tief gläubigen Christen, der an Ostern 1963 hingebungsvoll schreibt: „Jesus ist auferstanden, Freude und Dankbarkeit sind die Begleiter dieses Tages; die Revolution, die entscheidende Revolution der Weltgeschichte ist geschehen, die Revolution der Welt durch die allesüberwindende Liebe. […] Das Wissen bzw. der Glaube vom Ursprung lässt das Ziel offenbar werden […] Befreiung des Menschen durch das Innewerden der Gottheit; Befreiung durch die Autorität; Freiheit in der Gebundenheit an die durch Jesus offenbarte Liebe.“

Eintragungen dieser Inbrunst finden sich zuhauf, ob Dutschke für die Gesundheit der Eltern betet, um den Erhalt des eigenen Glaubens oder – sehr früh schon – Sozialismus und Glaube für untrennbar erklärt: „der Welt größter Revolutionär – Jesus Christus“. Noch 1956 betet er für die ungarischen Aufständischen, noch 1970 – also nach dem Attentat – denkt er in der Weihnachtsnacht an „den historisch größten Mythus“. 

Es brauchte einen sorgfältigen Essay, um die christlichen Elemente im emotionalen wie intellektuellen Haushalt des bald prominent werdenden Studentenrebellen darzustellen. Ich behaupte – basierend auf recht guter Kenntnis der Person Rudi Dutschke wie aufgrund der Lektüre vieler seiner Arbeiten –, dass das Glimmen dieser unirdischen Hoffnung ihn zeitlebens mitbestimmte, auch, als er längst flackerndes Feuer zu legen suchte an die Wurzeln einer von ihm verachteten Gesellschaft.

 

Ein Instant-Marxismus, unverdaut zusammengelesen 

War es Verachtung? War es Hass? Liest man lediglich diese Tagebücher, erhält man klare Auskunft nicht. Sie geben eher Zeugnis von einer Art Selbstanstachelung, ganze Passagen lesen sich so, als habe sich da einer selbst Fieber injiziert; das giftige Medikament in der Ampulle heißt mal Faschismus, mal Imperialismus, mal Marxismus – Letzterer wird zum Allheilmittel auserkoren. Werden die beiden ersten Kategorien bis zum Keifton „die Säue“, „die Schweine“ horrifiziert, wird die Bundesrepublik allen Ernstes als „Zentrum des Faschismus“ denunziert, „die frappierende Zunahme der deutlichen Faschisierung in der BRD“ festgestellt – so heißt der neue Glaube nun Marxismus.

Nur ist es ein Instant-Marxismus, in rasend durchlesenen Nächten zusammengequirlt, hektisch, zusammenhanglos, unverdaut. Dutschke las oft achtzehn Stunden hintereinander, verlangte übrigens recht herrisch dasselbe von seinen Kampfgefährten – um selbst schließlich zu konstatieren: „Die Arbeit überwog das Leben.“ Wozu andere – etwa der von ihm verehrte Ernst Bloch – ein langes Leben brauchten (auch, um Distanzen einzubauen), das wollte er in einem schier atemberaubenden Galopp erobern: Marx und Lenin und Kautsky und Rosa Luxemburg und Korsch und Mehring; Das Kapital mit Gretchen Dutschke eben mal durchgearbeitet; alles neben den sich bald häufenden öffentlichen Auftritten, neben dem Studium, neben zahllosen gehetzten Reisen, Artikeln, Broschüren, Querelen im SDS, „neben“ einer Ehe und dem Erziehen von zwei Kindern. Dass das nicht gut ging, dafür gibt es ein Indiz: die Sprache. Dutschkes Sprache, auch vor der Hirnverletzung durch den Mordanschlag, ist schieres Chaos, atemloser Wirbel toter, weil nicht wirklich durchdachter Begriffe:

„Wir wollen mit den Studenten einen kritischen Dialog über die Notwendigkeit der Durchbrechung der etablierten Spielregeln der unvernünftigen Herrschaft in den nächsten Wochen beginnen. […] Waren uns darüber einig, dass die ,Proletarisierung‘ der ,studentischen Rebellen‘ eine revolutionäre Notwendigkeit ist, schließlich wird unser Programm die Abschaffung der Arbeitsteilung und der kapitalistischen Arbeit in den Mittelpunkt der praktischen Theorie stellen. […] Ohne direkte Aktionen gegen die herrschende Klasse, ohne sinnliche Erfahrungen der Arbeiterklasse im eindeutigen Klassenkampf gegen die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse der Herrschaft des Kapitals wird es keine ‚Rekonstruktion‘ der Arbeiterklasse geben.“

Weder gibt er sich – oder uns – Rechenschaft, was die „sinnliche Erfahrung der Arbeiterklasse“, noch, was die „Proletarisierung der studentischen Rebellen“ sein mag. Interessant ist – Pars pro Toto – der Vergleich mit den Thesen seines Idols Herbert Marcuse, der eben Jahrzehnte und nicht Monate auf das Durchröntgen der kapitalistischen Gesellschaft verwandt hatte; weswegen seine Einsichten nicht nur klar und prägnant sind, sondern durchaus noch heute gültig:

 „Toleranz ist ein Selbstzweck. Daß die Gewalt beseitigt und die Unterdrückung so weit verringert wird, als erforderlich ist, um Mensch und Tier vor Grausamkeit und Aggression zu schützen, sind die Vorbedingungen einer humanen Gesellschaft. Eine solche Gesellschaft existiert noch nicht.“

 

Erhabener Anspruch und miserable Praxis

Es hat durchaus einen Zug des Tragischen, wie dieser ruhelose, durch die Zeit rasende Mann – „Habe keine Uhr seit Monaten“ notiert er einmal – auch durch das eigene Leben hastet. Er kann zwar bei anderen „eine gewisse Starre des Denkens und Formulierens“ beobachten, Lachen vermissen – aber dass er sich hinter selbst gebastelte Gitter verbannt hat, scheint Rudi Dutschke nicht zu spüren. Sonst könnte er nicht von einer „sehr guten, mehr oder weniger schönen sexual-ökonomischen Nacht“ mit seiner Frau sprechen, die er zwar betrügt wie jeder Kreissparkassenangestellte, um dann festzustellen, „der sexuelle Motor scheint zwischen uns beiden nicht zu arbeiten“ – mit der er aber kaum darüber spricht. 

„Erstmalig seit einer Ewigkeit ein intensives zweistündiges Gespräch über uns selbst und unser Verhältnis gehabt“, verrät das Tagebuch im Februar 1971. Was dann an abstruser, alphabetisch geordneter Auflistung der „Gesprächspunkte“ kommt, ist nachzulesen auf Seite 156 des Buches. Die alte Frage immer wieder: die Künder des „neuen Menschen“ leben keineswegs neu, vielmehr in den alten Mustern fort. Nun erinnern wir uns an den törichten Protz-Spruch „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment“ (den seltsamerweise die Kommune-Damen nicht umdrehten in „mit demselben“). 

Doch diese Beschreibung eines Abenteuers – Dutschke nennt sich „besonders initiiert“ – ist dann doch von peinigender Banalität: „Als Manfred mich für die Diskussion über politisch-sexuelle Probleme abholte, ging ich direkt vor der Abfahrt zu ihr und sagte: ,Jutta, du regst mich auf.‘ Ging raus, rannte noch einmal zurück und sagte ihr: ,Ich komme bald wieder.‘ Leider war es 4:00 Uhr am frühen Morgen, so begann unser direktes Verhältnis erst am nächsten Tag. Wir liebten, soweit das möglich war. Sie hatte ihrem Freund in Cambridge gesagt, dass sie etwas später kommen wird. Leider musste ich sie ,enttäuschen‘, in Hamburg hatte ich über Solschenizyn zu sprechen, die Liebe zur Revolution und Politik bedeutet dann mehr als zu einer lieben Genossin.“

Derlei lässt sich wahrlich mühelos rückübersetzen ins böse kapitalistische Leben, da stünde allenfalls „Leider musste ich in Düsseldorf über die Profitrate sprechen“, und im letzten Satz müssten nur die Begriffe ausgetauscht werden – „als die Liebe zu meiner Frau und den Kindern“ –: fertig ist das bewährte Drehbuch.

So energisch ich mich wehre gegen das abschätzige Urteil über „die 68er“ – ohne deren Mut, Anstoß und Aufbegehr so manche Verkrustung uns erhalten geblieben wäre –, so vehement stoßen mir doch immer wieder die Widersprüche zwischen erhabenem Anspruch und miserablem Einlösen auf. Rudi Dutschkes Tagebuch ist auch insofern ein Dokument: des notwendigen Scheiterns nämlich.

Dabei sein Leben zum Tode hin, nach dem Attentat, ein wieder anderes Zeugnis gibt. Von einem so tapferen, so zähen Kampf des Schwerstverletzten, den seine Witwe im Nachwort schildert: „Die Zerstörung seines Gehirns war weit größer, als man zunächst annahm. Zwei Kugeln wurden durch sein Gehirn geballert und haben viele Narben von totem Gewebe hinterlassen.“

Es ist nahezu grässlich zu lesen, wie er sich einerseits aufbäumt, Sprechen, Lesen neu erlernen muss und – zwischen Pillen, epileptischen Anfällen und ohnmachtsähnlicher Müdigkeit – andererseits immer und immer wieder der schwarze Zweifel herbeischleicht: „Ganz gesund werde ich wohl nie mehr.“ Eintragungen über so viel Angst, Schmerz, Verzagen, dass man heulen möchte. Die Trauer um diesen Menschen ist das Bleibende.

Diesem Gebot des noblen Umgangs mit dem Nachlassbuch Rudi Dutschkes hat der Verlag leider keineswegs entsprochen. Die Sorglosigkeit der Edition ist haarsträubend. Das galt ja bereits für den kleinen Erinnerungsband des Sohnes Marek, den man so nachlässig betreute, dass auf Seite 13 von „der Kugel“ in den Kopf gesprochen wird, auf Seite 27 von „Bachmanns Kugeln aus Kopf und Körper operiert“ und schließlich im Verlagstext „die Kugeln, die ihm Bachmann in den Kopf geschossen hatte“, steht. Schon das eine empörende Schlampigkeit. 

Falls es damals noch einen Lektor im Hause Kiepenheuer & Witsch gegeben haben sollte – jetzt hat man ihn ganz offensichtlich nicht mehr beschäftigt. Die Anmerkungen muss ein Kind formuliert haben, das nie davon erfahren hat, dass Thomas Brasch verstorben ist oder dass McCarthy immerhin US-Senator war, dafür aber Jaspers „Philosoph, Psychiater und politischer Schriftsteller“ nennt, Andrzej Wajda „berühmt“ sein lässt, Alexander Blok dafür nur „bedeutend“, und der Schriftsteller Peter Schneider darf überhaupt nur „Publizist“ sein. Ralf Dahrendorf ist „Politologe, Mitglied der F.D.P.“, dafür wenigstens geboren, während John Arden – „ist ein englischer Dramatiker“ – keine Lebensdaten gegönnt sind. 

Mal ist jemand „bedeutendst“, mal wird einem Schriftsteller ein Tagebuch zugeschrieben, das es nicht gibt, und mal „besaß“ Giangiacomo Feltrinelli – darin offenbar gelegentlich am Kamin schmökernd – eine „umfassende Bibliothek zur internationalen Arbeiterbewegung“, statt korrekt anzugeben, dass der italienische Verleger das neben Moskau und Amsterdam drittgrößte Forschungsinstitut zu dem Thema stiftete. Kurzum: eine Frechheit gegenüber dem Publikum und eine Schnödigkeit gegen Rudi Dutschke. Der Verlag sollte diese rundum katastrophale Nicht-Edition schleunigst vom Markt nehmen und einem verantwortungsvollen Herausgeber eine Neuausgabe überantworten.

 

Die Tagebücher 1963–1979; hrsg. von Gretchen Dutschke; Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003; 432 S.

DIE ZEIT 13/2003   Adresse:  zeit.de/2003/13/P-Dutschke  

 

 

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