Kai F. Hünemörder
Die
Frühgeschichte der
|
|
2004 380 Seiten detopia: |
Inhalt Abkürzungsverzeichnis (9) I. Einleitung
II. Zur Entwicklung der staatlichen Luftreinhaltung, des Gewässerschutzes und des Naturschutzes bis in die 1950er Jahre (25)
III.
Die Zeit der technischen Lösungsansätze:
IV. Erste Ansätze zur integrierten Wahrnehmung der „globalen Umweltkrise" 114
V. Die umweltpolitische Wende (154)
VI. Neue Gewißheiten? Zum Beginn eines umweltpolitischen Bewußtseinswandels (182)
VII. Die Untergangsstimmung von 1972 (199)
VIII. Die UN-Umweltkonferenz von Stockholm (242)
IX. Die Ausbreitung des ökologischen Diskurses 277
X. Anatomie eines Zielkonflikts im Prozeß des Strukturwandels im Ruhrgebiet: Der Protest gegen eine Großraffinerie der VEBA-Chemie AG am Niederrhein 299
XI. Zusammenfassung der Ergebnisse und Ausblick (330)
Epilog (342) Anhang (345) Quellen- und Literaturverzeichnis (359) |
Verlag: Trotz der elementaren Bedeutung der <globalen Umweltkrise> fehlten bisher umfassende Studien, die ihre Wahrnehmung in Politik und Gesellschaft auf breiter Quellenbasis historisch nachzeichnen. Der vorliegende Band schließt diese Lücke und bereichert den internationalen Diskurs um die geschichtliche Tiefendimension. Beginnend mit der Ausweitung der staatlichen Eindämmungsmaßnahmen gegenüber den gravierendsten Umweltschäden in den 1950er Jahren im Ruhrgebiet, schildert er die Wahrnehmungs- und Politisierungsprozesse in Deutschland bis zur Mitte der 1970er Jahre. Unter Einbeziehung mentalitätsgeschichtlicher Entwicklungen entsteht ein facettenreiches Bild der ersten umweltpolitischen Welle, in der den bis dahin vorherrschenden Fortschrittsvorstellungen das Paradigma der Grenzen des Wachstums entgegengestellt wurde.
Perlentaucher zu Süddeutsche 2005:
Von Hünemörders Studie zur historischen Entwicklung der Umweltpolitik zeigt sich Werner Bührer sehr angetan. Der Autor dokumentiere in seinem Buch "akribisch", wie die Anfänge eines Umweltbewusstseins ins öffentliche Interesse rückte und schließlich auch in die Politik eindrang. Indem der Autor bisher unbekanntes Archivmaterial, publizierte Zeugnisse und Aussagen von Zeitzeugen auswertet, entsteht ein "vielschichtiges und farbiges Bild" der Umweltdiskussion in der BRD, die durchaus "frappierende Ähnlichkeiten" zu heutigen Debatten aufweist, wie der Rezensent findet. Als "bemerkenswert" lobt Bührer die Erkenntnisse des Autors, dass sich Umweltbewusstsein nicht erst in der Umweltbewegung seit 1970 bildete, sondern sich bereits im "Reichsnaturschutzgesetz" von 1935 zeigte. Der Rezensent hält das Buch für "unverzichtbar" für diejenigen, die sich für die Entwicklung des Umweltschutzes interessieren und er preist, dass es "erhellende Einblicke" nicht nur in die Umweltpolitik, sondern auch in "Politik- und Mentalitätsgeschichte" zu bieten hat.
Perlentaucher zu FAZ 2004
Überzeugend findet Rezensent Andreas Rödder diese "gedankenreiche" Studie von Kai F. Hünemörder, die sich mit der "Frühgeschichte" von Naturschutz und Umweltbewegung in der Bundesrepublik Deutschland befasst. Hünemörder verzichte darauf, eine Masterthese einer globalen Umweltkrise und ihrer Entwicklungsrichtung zu präsentieren, wie sie in öffentlichen Debatten gern aufgestellt werde. Statt dessen liefere er eine "seriöse historisch-empirische" Aufarbeitung der Entwicklung der öffentlichen Wahrnehmung, Vermittlung und Diskussion der Umweltfrage sowie der Anfänge des politisch-administrativen Handelns bis 1973. Auf der Basis eines reichen Quellenmaterials gewinne er "mit großer Sensibilität für die historischen Problemlagen" eine Fülle von Ergebnissen und weiterführenden Gedanken. - Rödder hätte sich hier eine etwas stringentere übergreifende interpretatorischen Linie gewünscht. |
Lesebericht
In: H-Soz-u-Kult 2005
|
Versucht man die Wendepunkte der Umweltgeschichte des 20. Jahrhunderts zu ermitteln, fällt die Zeit von 1970 bis 1972 besonders auf. In diesen Jahren schienen die Suffixe „Umwelt-„ und „Öko-„ in Kombination mit den unterschiedlichsten Begriffen ungebändigt aus der Vokabelkiste der gesellschaftlich virulent gewordenen Themen zu springen. Den schillernden Epochenbeginn eines veränderten Bewusstseins vom Mensch-Natur-Verhältnis markierte 1970 der erste „Earth Day“ in den USA, an dem 20 Millionen BürgerInnen ihrem Unmut über eine zunehmende Naturzerstörung Ausdruck gaben. Das Thema Umwelt wurde populär, entgrenzt und Gegenstand internationaler Diplomatie. 1972 war das Jahr der Stockholmer UNO-Konferenz „Der Mensch in seiner Umwelt“ und das Jahr der Veröffentlichung der Club-of-Rome-Studie mit dem beunruhigenden Titel „Die Grenzen des Wachstums“. Die Massenproteste, schockierenden Publikationen und explodierenden Zahlen entsprechender internationaler Gipfeltreffen legen nahe, hier die Geburtsstunde des unter dem Label „Ökologie“ firmierenden Interpretationsmodells anzusetzen, in dessen Folge sich auch die ‚Umweltgeschichte‘ erfand. Worauf aber gründet sich die bemerkenswerte „Anfälligkeit“ für so genannte „grüne“ Themen? Woher stammt die erstaunliche Bereitschaft nationaler Politik, sich dieser internationalen Auseinandersetzung zu stellen? Woher also, kurz gesprochen, kam der plötzliche Sinneswandel? In seiner Dissertation hat sich der Umwelthistoriker Kai F. Hünemörder mit der (deutschen) Geschichte dieser „entscheidenden Jahre [auseinandergesetzt], in denen sich das regionale Unbehagen bahnbrach und das Bewusstsein von den Grenzen des Wachstums den ‚Fortschritt‘ als entscheidende Denkkategorie der Neuzeit ins Wanken brachte“ (S. 11). Dafür holt er weit aus. Zu Recht – denn die Tradition der Bekämpfung von Luft- und Wasserverschmutzung und Naturzerstörung reicht in Deutschland weit zurück. Hünemörder skizziert in groben Zügen die verschiedenen Entwicklungsstränge von urbanen bzw. industriellen Hygieneinitiativen einerseits und „klassischem“ Naturschutz andererseits und konzentriert sich dann auf die „Zeit der technischen Lösungsansätze“ nach 1945. In die schier unübersehbare Gemengelage paralleler Handlungsinitiativen setzt er Fokussierungspunkte, um die Entwicklungen in der Bundesrepublik an konkreten Beispielen zu überprüfen. Hünemörder richtet sein Hauptaugenmerk zunächst auf die Entwicklung der politischen, administrativen und öffentlichen Wahrnehmung von Luft- und Gewässerverschmutzung in Nordrhein-Westfalen. Nun liegt es nahe, dieses hochindustrialisierte und bevölkerungsdichte Bundesland für die Untersuchung heranzuziehen; allerdings sind einzelne Medien und Regionen dort umwelthistorisch bereits gut erforscht. Hünemörder aber arbeitet synthetischer und stützt seine Untersuchung auf eine ungewöhnlich breite Quellengrundlage. Er arbeitet nicht nur mit dem einschlägigen Aktenmaterial, sondern greift auf die Kommentare der Tagespresse und eigene Interviews mit Protagonisten ebenso zurück wie auf Parteiprogramme, Meinungsumfragen und Manuskripte von Radiosendungen und Filmen. Hünemörder zeigt, wie technische Lösungen gegen die Verschmutzung unter den Vorzeichen der Gesundheitsfürsorge zwischen Ministerialbürokratie, Ingenieuren und Wirtschaft ausgehandelt wurden – ohne unmittelbar eine kohärente Vorsorgepolitik oder ein umfassenderes Umweltverständnis zur Folge zu haben. Aber die Schranken dieser „segmentierten Wahrnehmung“ (S. 113) begannen zu bröckeln. Willy Brandts eingängige Forderung vom „blauen Himmel über der Ruhr“ korrespondierte mit neuen sozialpolitischen Schwerpunktsetzungen, die eben auch „Volksgesundheit und Stadterneuerung“ als zu propagierende Gemeinschaftsaufgaben verstanden. Gleichzeitig lieferten die Medien beunruhigende Bilder, die die Zerstörung der unmittelbaren Lebenswelt verdeutlichten. Die zunehmende Vergiftung des Rheins zum Beispiel war schon lange Gegenstand multilateraler Verhandlungen, aber erst als im Juni 1969 nach Chemieeinleitungen Millionen Fische bauchoben stromabwärts trieben, kam es zu einem Aufschrei der Öffentlichkeit. Das Sichtbarmachen der Eingriffe in die Natur entpuppt sich als ein zentraler Faktor bei der Herausbildung eines breiteren Umweltbewusstseins. Tatsächlich könnte man diese Zeit in Anknüpfung an Luhmann als Latenzphase bezeichnen. Mit der anschließenden Untersuchung internationaler Impulse bei der Formierung deutscher Umweltpolitik gewinnt das Buch an Dynamik. Hünemörder zeichnet nicht nur die Bedeutung der amerikanischen Umweltpolitik für die deutsche Entwicklung nach, sondern analysiert auch das Zusammenspiel von internationalen Organisationen und zeigt die Antriebskraft der „International Union for the Conservation of Nature“, deren Experten seit 1946 kontinuierlich die globale Dimension der Naturzerstörung postulierten. Äußerst spannend sind die Ausführungen über OECD und NATO. Dass diese Organisationen sich etwa mit Problemen des CO2-Ausstoßes und den resultierenden Klimaveränderungen auseinandersetzten, deutet zum einen die wachsende Furcht vor daraus entstehenden Sicherheitsrisiken an; zum anderen galt es, Regulierungsmaßnahmen zu entwickeln, die den eigenen Interessenlagen entsprachen. Aber in diesem Fall „war die NATO zu spät gekommen“ (S. 145) – längst hatte die UNO die führende Koordinierungsrolle in Sachen Umwelt übernommen. In der Folge bindet Hünemörder diese Anstöße wieder in die bundesrepublikanische Geschichte ein und gleicht sie mit den innerdeutschen Entwicklungen ab. Die Skepsis gegenüber Großplanungen und rein technischen Lösungen schrieb sich langsam in den gesellschaftlichen Kanon ein. Im Exkurs zur wissenschaftlichen „Futurologie“ wird deutlich, wie sich die westdeutsche Wissenschaft aus ihrer Zukunftsvergessenheit löste, während die Politik versuchte, sich mittels einer Vorreiterrolle in Umweltfragen ein neues internationales Profil zu verschaffen. Erstaunlich früh ist in deutschen Ministerien die Frage der Umweltzerstörung in so genannten Drittweltländern aufgeworfen worden. Hünemörder öffnet nur schlaglichtartig eine vergleichende Aussicht auf die Position der DDR, kann aber doch zeigen, dass das junge Politikfeld im Kontext des Kalküls des Kalten Krieges auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs analysiert werden muss. Schließlich wird hier noch Partizipationsmodellen und Demokratisierungsprozessen nachgespürt, ohne die die Karriere internationaler Umweltpolitik kaum denkbar ist. Hünemörder stellt sich der historischen Komplexität des Themas und nimmt viele Fäden auf, aus denen das dichte Netz des entstehenden Umweltdiskurses geknüpft ist. Es ist eine bemerkenswerte Leistung, die unterschiedlichen Stränge zusammenzuführen. Denn Hünemörder bescheidet sich nicht mit der bürokratischen oder politischen Ebene, sondern beleuchtet auch die gesellschaftlichen, medialen und individuellen Folien, vor denen die Umweltdebatte entstand. Die teilweise sehr trockene Empirie der Ministerialbürokratien wird kontinuierlich aufgebrochen mit Hinweisen auf Pop- und Protestkulturen; den anonymen internationalen Organisationen wird die Einflussnahme einzelner charismatischer Personen wie Bernhard Grzimek, Julian Huxley und Jacques Costeau beigestellt. Bestimmte Themen werden quer durch die Kapitel verfolgt. Dazu gehören die Vermittlungsleistungen der Medien, die sprachlichen Selbstfindungsprozesse der Umweltbewegung, die steigenden Antagonismen zwischen Umwelt- und Wirtschaftsinteressen, politische Polarisierungen oder das Verhältnis von nationalstaatlichen Interessen zu außenpolitischer Repräsentation. Aber die Stärke des Buches – sein Facettenreichtum – birgt auch ein Problem. Man wünscht sich streckenweise mehr Kommentierung und inhaltliche Stringenz. Wenn man jedoch zu eigenen inhaltlichen Transferleistungen bereit ist, ist die Lektüre sehr zu empfehlen. Der oft nebulös wirkende Prozess der Globalisierung erfährt hier eine konkrete umwelthistorische Lesart. Das Buch bietet nicht zuletzt eine Orientierungshilfe in der akuten Unübersichtlichkeit internationaler Umweltpolitik und zeigt bestimmte Muster ihrer Konjunkturen, die ungebrochen gültig sind. # |
Lesebericht 2004
von Patrick Kupper
Institut für Geschichte an der ETH Zürich In: <Sehepunkte 4>, 9/2004
sehepunkte.historicum.net/2004/09/5704.html
Noch Ende der 1960er-Jahre wurden Fragen der globalen Umweltzerstörung nur in kleinen und ausgesuchten Kreisen erörtert. Zu Beginn des folgenden Jahrzehnts avancierte die Umweltfrage dann aber innerhalb kürzester Zeit zu einem der wichtigsten gesellschaftspolitischen Themen.
Dieser rasche Aufstieg der Umweltproblematik zu einem politischen und medialen Leitthema hat Vertreter und Vertreterinnen der Umwelt- und Zeitgeschichte sowie der Soziologie und Politologie in den letzten Jahren zunehmend beschäftigt.
Einen genuin historischen Ansatz verfolgt Kai F. Hünemörder, indem er in seiner Dissertation der "Frühgeschichte der globalen Umweltkrise und der Formierung der deutschen Umweltpolitik" nachgeht. Ziel seiner Arbeit ist es, "den Wahrnehmungs-, Diskussions- und Politisierungsprozess der 'Umweltkrise' in der Bundesrepublik beginnend mit den fünfziger Jahren bis 1973 chronologisch nachzuzeichnen".
Das Hauptgewicht der Arbeit liegt auf den letzten fünf Jahren der angezeigten Zeitspanne, in denen die "Umweltkrise" auf die gesellschaftspolitische Agenda kam. Gut die Hälfte des Buches ist diesem Bereich gewidmet. In den vorangehenden Teilen entwirft der Autor zwei verschiedene Entwicklungslinien, entlang derer der Boden für den nachfolgenden Politisierungsschub vorbereitet wurde.
Zum einen untersucht Hünemörder am Beispiel des Ruhrgebiets, dem er eine Vorreiterrolle innerhalb der BRD zuweist, die Diskurse zur Luft- und Gewässerverschmutzung seit den frühen Fünfzigerjahren. Zum anderen geht er den Anstößen nach, die von außen an die BRD herangetragen wurden, insbesondere durch die USA und durch verschiedene internationale Organisationen.
Für seine Untersuchung bearbeitete Hünemörder beeindruckend umfangreiche Quellenbestände. Neben diversen Aktenbeständen aus der Bundesverwaltung und aus nordrhein-westfälischen Behörden wertete er deutschsprachige Zeitungen, Zeitschriften und Publikationen sowie Dokumente der politischen Parteien und wissenschaftliche Konferenzberichte aus.
Neue Einsichten vermittelt Hünemörders Arbeit insbesondere bezüglich der Vorreiterrolle der USA und der umweltpolitischen Bedeutung internationaler Organisation wie der UNO, des Europarats, der OECD, aber auch der NATO. In vorbildlicher Weise schildert er nicht einfach die Diskussionen in diesen Organisationen, sondern konzentriert sich speziell auf die Wege, auf denen auf internationaler Ebene erarbeitetes Wissen in nationale Kontexte transferiert wurde und umgekehrt.
Akribisch zeichnet er sodann das Aufgreifen und die Konzipierung des Umweltthemas in der bundesdeutschen Regierung und Verwaltung nach. Die Schilderung dieses Prozesses verknüpft er mit einer ebenso detailreichen und dicht belegten Darstellung der Karriere des Umweltthemas in der medialen Öffentlichkeit. Allerdings tritt in diesen Kapiteln auch eine der Schwächen des Buches zum Vorschein: die mangelnde Leserführung.
Oftmals ist die Erzählung überfrachtet, sodass der oder die Lesende zwischen den vielen Programmentwürfen, Eingaben, internen und öffentlichen Stellungnahmen et cetera den Zusammenhang zu verlieren droht. Zudem machen es die zu spärlich gesetzten Zeitangaben immer wieder notwendig, Datierungen aus den Anmerkungen zu erschließen. Durch den regelmäßigen Einschub von zusammenfassenden Abschnitten sowie ein ausführlicheres Resümee im Schlusskapitel hätte die Lesefreundlichkeit mit verhältnismäßig geringem Aufwand bedeutend gesteigert werden können.
Hünemörder schließt seine Untersuchung mit der Erdölkrise Ende 1973 ab. Dieser Schlusspunkt ist meines Erachtens nicht gut gewählt. Denn nicht zuletzt Hünemörders eigene Ausführungen legen nahe, dass es sich gelohnt hätte, die folgende kurze, aber einschneidende Wirtschaftskrise mit einzubeziehen. So betont er wiederholt, welche Rolle die gute Konjunkturlage zu Beginn der 1970er-Jahre bei der Formierung der Umweltpolitik spielte. Mit dem Konjunktureinbruch 1974/75 verschärften sich die Verteilungskämpfe.
Insofern bestätigte der Verlauf der Umweltpolitik die Erkenntnis, dass Reformen in einem wachsenden System politisch deutlich einfacher durchzusetzen sind, als in einem stagnierenden oder schrumpfenden. Gleichzeitig lief in diesen Jahren die Zeit der globalen Absichtserklärungen ab. Bei der Umsetzung von pauschalen Umweltschutzforderungen in konkrete Maßnahmenpakete musste politisch Farbe bekannt werden. Für die Ausgestaltung der Umweltpolitik war dies eine entscheidende Phase, in der die Möglichkeitsräume für politische Reformen stark eingeengt wurden und in der sich politische Lager bildeten und verfestigten.
Eine solche zeitliche Ausweitung hätte allerdings auch eine Erweiterung des thematischen Fokus erfordert. Der Umweltbewegung, die von Hünemörder nur kursorisch behandelt wird, hätte mehr Platz eingeräumt werden müssen. Ebenso hätte die Atomenergiefrage, an der sich die umweltpolitischen Geister im Laufe der 1970er-Jahre stellvertretend für die gesamte Umweltfrage spalteten, ausführlicher behandelt werden müssen.
Überhaupt würde sich eine verstärkte Berücksichtigung der Rolle der Umweltbewegung auch für die Zeit bis 1973 anbieten. So scheint es plausibel, das im internationalen Vergleich späte Auftreten der deutschen Umweltbewegung als innenpolitische Kraft in direkter Verbindung mit der fortschrittlichen Umweltpolitik der sozial-liberalen Regierungskoalition zu sehen.
In vielen Punkten bestätigt, untermauert und ergänzt Hünemörders materialreiche Darstellung bisherige Forschungsergebnisse. Was den internationalen Kontext betrifft, erschließt sie neue Bereiche. Es ist zu hoffen, dass die Arbeit Anlass und Basis zu weitergehenden Untersuchungen im oben angesprochenen Sinne gibt. Hierbei wäre eine engere Verschränkung des Umweltthemas mit der Gesellschaftsgeschichte wünschenswert. Hünemörders Ausführungen enthalten verschiedentlich Ansätze dazu, die sich lohnten, weiter ausgebaut und gründlicher ausgearbeitet zu werden. #
Zur Vita
Dr. Kai F. Hünemörder, Postdoktorant am Kolleg von 2004 bis 2006
1993-1999: Studium der Mittleren und Neueren Geschichte, Politische Wissenschaft und Wissenschaftsgeschichte in Kiel, Lissabon und Kopenhagen
1999-2002: Promotion im Fach Geschichte an der Universität Kiel mit einer Arbeit über die "Frühgeschichte der globalen Umweltkrise... (1959-1973)"
2002-2003: Wissenschaftliche Hilfskraft an der Abt. Historische Anthropologie und Humanökologie der Universität Göttingen
2003: Referent für Umwelt und Energie bei einer Parlamentsfraktion im Schleswig - Holsteinischen Landtag
2004: Postdoktorand und Koordinator am Graduiertenkolleg "Interdisziplinäre Umweltgeschichte"
Studienschwerpunkte: Umweltgeschichte, Zeitgeschichte, Weltinnenpolitik
Lehrveranstaltungen: 2005: Meilensteine der Umweltgeschichte, Blockseminar, Arbeitskreis Umweltgeschichte
Veröffentlichungen
Die Frühgeschichte der globalen Umweltkrise und die Formierung der deutschen Umweltpolitik (1950-1973), Stuttgart 2004. (Historische Mitteilungen der Ranke Gesellschaft: Beiheft 53)
Die Heidelberger Studiengruppe für Systemforschung und der Aufstieg der Zukunftsforschung in den 1960er Jahren, Technikfolgenabschätzung Theorie und Praxis, 13 (2004) 1, S. 8-15.
Vom Expertennetzwerk zur Umweltpolitik: Frühe Umweltkonferenzen und die Ausweitung der öffentlichen Aufmerksamkeit für Umweltfragen in Europa (1959-1972), in: Archiv für Sozialgeschichte 43 (2003), S. 275-296.
Kassandra im modernen Gewand. Die umweltapokalyptischen Mahnrufe der frühen 1970er Jahre, in: Frank Uekötter; Jens Hohensee (Hrsg.): Wird Kassandra heiser? Beiträge zu einer Geschichte der "falschen Öko-Alarme". Stuttgart 2004. (Historische Mitteilungen der Ranke Gesellschaft: Beiheft) S. 78-97.
1972 - Epochenschwelle der Umweltgeschichte?, in: Franz-Josef Brüggemeier und Jens Ivo Engels (Hrsg.): Konflikte, Konzepte, Kopetenzen. Beiträge zur Geschichte des Natur- und Umweltschutzes seit 1945. Frankfurt am Main 2005, S. 124-144
"Environment is our love" - Rückblick auf die UN-Umweltkonferenz von Stockholm, in: Jahrbuch Ökologie 2006, München 2005, S. 159-172.
Vortragstätigkeit
01.12.04 „100 Jahre Naturschutz in Schleswig-Holstein: Frühe Schwerpunkte, herausragende Akteure und blinde Flecken“ Workshop der Akademie für Natur und Umwelt des Landes Schleswig-Holstein: Naturschutzgeschichte in Schleswig-Holstein, Neumünster
22.-24.04.05 „Das Hannoverische Magazin, der gelehrte Landmann und das nützliche Vieh: Zum medialen Diskurs über die Rinderpest in Kurhannover (1750-1789)“ DFG-Workshop: Landschaften agrarisch-ökonomischen Wissens. Regionale Fallstudien zu landwirtschaftlichen und gewerblichen Themen in Zeitschriften und Societäten des 18. Jahrhunderts, Potsdam
24.5.05 „Der aufgeklärte Staat und das liebe Vieh: Handlungsansätze und Grenzen der Rinderseuchenbekämpfung in Kurhannover aus umwelthistorischer Perspektive (1750-1789)“ Wirtschafts- und Umweltgeschichtswerkstatt, Bielefeld
9./10.09.05 „Vom Pritzelkram“ zur „europäischen Umweltpolitik: Schlüsselperioden des deutschen Naturschutz vom Kaiserreich bis zur umweltpolitischen Wende am Beispiel Schleswig-Holsteins (1906-2004)“ 24. Konferenz der Prinz-Albert-Gesellschaft e.V.: Umwelt und Geschichte in Deutschland und Großbritannien, Coburg