1.2 Zunehmende Komplexität - Evolution und Entropie Meißner-2017
"Die Menschheit ist in die moderne Geschichte gegangen wie ein Tier in die Falle."
Nicolas Gómez Dávila (110)
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In unseren Supermärkten sind die Regale brechend voll. Allein schon deshalb klingt alles Gerede von einer anstehenden Nahrungsmittelkrise nach Panikmache. Lebensmittel stehen insbesondere in unseren westlichen Industrieländern im Überfluss zur Verfügung. Doch das war nicht immer so. In der Geschichte der Menschheit und ihrer Vorfahren muss-te um Nahrung und Überleben stets hart und unter teils widrigen Umständen gekämpft werden. Dies erklärt den Drang, nach einer Verringerung dieser Mühen und nach Sicherheit zu streben, und letztlich dann auch, es sich so bequem wie möglich zu machen.
Um zu verstehen, wie wir dabei in die heutige Situation geraten sind, soll die Geschichte des menschlichen Daseins skizziert werden, die sehr kurz ist - gemessen an der Dauer der Existenz unseres Planeten insgesamt. Das Leben in überschaubaren Gruppen, die Entwicklung von Intelligenz, die Suche nach Problemlösungen ebenso wie sich ändernde Ernährungsgewohnheiten sind bei der menschlich-kulturellen Evolution von besonderem Interesse. Ob es die Anforderungen an die Hominiden vor über sieben Millionen Jahren waren, sich Nahrungsplätze gut zu merken, oder - dann beim homo sapiens vor ca. 250.000 Jahren - die Entwicklung von Sprache, Informationsvermittlung und zunehmende Interaktionen zwischen den Gruppenmitgliedern, stets half dabei ein sich stetig vergrößerndes Gehirn. Lange lebte der Mensch in überschaubaren Kleingruppen von bis zu ca. 150 Personen, in denen alle mit allen Kontakt hatten.(111) Das anonyme Leben in Massen von bis zu Tausenden und Millionen von Menschen auf engem Raum ist erst ein Phänomen der Moderne.
Nötig wurde die zunehmende Schädelvergrößerung aber auch dafür, gefährliche Situationen, etwa die Bedrohung durch Raubtiere, abzuschätzen und mit früher Erlebtem abzugleichen. Ein zunehmend besseres Gedächtnis war dabei hilfreich. Auch stellten eine vielfältige Umwelt und schwieriger zu erreichende Nahrungsquellen größere Anforderungen an die Informationsverarbeitung. Sie war auch wichtig dafür, um Handlungen anderer Menschen rechtzeitig einzuschätzen und vorauszusehen. Die Interaktion mit den Gruppenmitgliedern und die Abgrenzung gegenüber Fremden gewannen an Bedeutung.
Die folgenreiche landwirtschaftliche Revolution - eine evolutionäre Fehlanpassung? ^^^^
Die zunehmenden geistigen Fähigkeiten wurden dann auch zur Entwicklung von Werkzeugen genutzt. Während Feuer seit über 250.000 Jahren und erste Spieße wohl schon vor weit über 100.000 Jahren verwendet werden, werden Pfeil und Bogen vor ca. 30.000 bis 15.000 Jahren entwickelt, damit können nun noch schnellere und gefährlichere Tiere gejagt werden. Doch mit zunehmender Verbreitung und Bevölkerungsvermehrung werden weitere Anpassungen notwendig. In der pro-neolithischen Zeit, etwa 9000 bis 7000 v. Chr., geht der Mensch daher zu einer neuen Wirtschaftsform über, in der Nahrungsmittel nicht mehr gesammelt oder erbeutet werden, abhängig davon, was vorhanden ist, sondern produziert werden. Nach über zwei Millionen Jahren Dasein als Jäger und Sammler ist dies wohl die folgenreichste Umwälzung in der Geschichte der Menschen.112
Voraus gegangen ist eine Klimaerwärmung vor ca. 13.000 Jahren, das Ende der letzten Eiszeit. Zudem wird vermutet, dass es mit zehn Millionen Menschen bereits damals einen hohen Bevölkerungsdruck gibt.113 Die Reviere, in denen die als Nomaden lebenden Menschen sich von genießbaren Pflanzen und Wildbeständen ernähren, werden knapp.
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Im Sinne des evolutionären Antriebs - Anpassung zur Sicherung des Überlebens und der erfolgreichen Vermehrung - stoßen daher Menschengruppen in neue Gebiete vor, andere werden sesshaft und beginnen, Tiere zu domestizieren und erste Kulturpflanzen zu entwickeln. Die erste große Menschheitsrevolution kommt in Gang, Landwirtschaft entsteht. Wenngleich das Jagen und Sammeln mit weniger Arbeit verbunden ist, ermöglicht sie nun mit Ernten, die sich auf ein gegebenes Stück Land konzentrieren, mehr Menschen zu ernähren, was durch den Zyklus der Jahreszeiten und des Anbaus mehr Regelmäßigkeit und Sicherheit verschafft.
Allerdings führt die Evolution häufig durch veränderte Umweltbedingungen auch zu Fehlanpassungen. Während 99,5 Prozent ihrer Evolution haben die Menschen ihre Nahrung als Jäger und Sammler beschafft, die Ernährung war vielfältiger und weniger von Vitamin-, Mineralien- oder Proteinmangelzuständen geprägt als es in späteren Ackerbaukulturen der Fall war. So waren früher Fette, Zucker und Salz sowie Nahrung generell rar, und man nahm so viel wie möglich zu sich, wenn gerade etwas zur Verfügung stand, etwa nach erfolgreicher Jagd. Fast-Food-Ketten sind deshalb so erfolgreich, weil sie diese natürlichen Jäger-und-Sammler-Instinkte bedienen.114 Nur hat sich die Umwelt mittlerweile verändert, alles steht jederzeit in großen Mengen zur Verfügung, die Instinkte waren jedoch nur sinnvoll für sich abwechselnde Phasen von Mangel und Überfluss an Nahrung.
Die durch Sesshaftwerdung und Entwicklung der Landwirtschaft nun mögliche Mehrproduktion an Lebensmitteln, vor allem Getreide, ermöglicht es, Siedlungen anzulegen und nicht in der Nahrungsherstellung tätige Menschen mitzuversorgen. Über Jahrhunderte hinweg entwickeln sich vielfältige Formen der Produktion, auch die Tierhaltung wird etabliert, Arbeitsteilung erfolgt, die Menschen spezialisieren sich, etwa im Handwerk oder auch für Tätigkeiten als Soldaten, Priester, Kaufleute und Musiker. Erste Städte entstehen, und es herrscht Nah-rungsmittelüberfluss. Der Anteil des Menschen an den Energie- und Stoffflüssen des Ökosystems Erde wird durch die landwirtschaftliche Revolution etwa um den Faktor 100 größer. Die Bevölkerung kann so nun weiter stetig wachsen. Bis zur Zeitenwende sind aus den zehn Millionen schon etwa 300 Millionen Menschen geworden, um 1750 n. Chr. sind es bereits 800 Millionen.115
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Ein erneuter Mangel tritt nun zutage: vor allem bebaubare Landflächen und Energie beginnen knapp zu werden. Nachdem in England schon im 13. Jahrhundert Brennholz knapper wurde, beginnt man hier im 18. Jahrhundert, Kohle in größerem Stil zu verheizen, auch zur Erzschmelze und Stahlerzeugung. Ein neuer Brennstoff ist entdeckt - und die nächste große Menschheitsrevolution, die Industrielle Revolution, damit vorbereitet. Sie ist wohl der weitere entscheidende Schritt zum heutigen Dilemma, auch in psychischer Hinsicht, wie sich noch zeigen wird.
Spätestens jetzt vollzieht sich auch ein Wandel unseres Weltbildes. Während die Menschen vorher noch - gezwungenermaßen - natürliche Rhythmen und Kreisläufe der Natur zu berücksichtigen hatten, und dabei auch den Launen der Natur ausgeliefert waren, konnten sie nun durch den Übergang zu Produktion und Ausbeutung die sich selbst regulierenden Regelkreise durchbrechen. Der Mensch schwingt sich aufgrund der nun entstehenden Möglichkeiten zum Herrscher über Tiere und Pflanzen auf. Er tritt befreit und vernunftbesetzt an die Stelle zuvor noch mythisch verehrter Götter, die in dieser Sicht wohlwollend, aber auch launisch und strafend Ernten und damit das Überleben beeinflussen konnten. Die Naturbeherrschung aber geht nun Hand in Hand mit einer Naturentfremdung, die wir heute bedauern, die aber kaum rückgängig zu machen ist. Die Erinnerung an eine Mitwelt, in die sich der Mensch eingebettet fühlt, als Teil eines natürlichen Ganzen, geht verloren. Mythisch-göttliche Vorgaben werden nun mit der Ratio überwunden, paradoxerweise aber wird dabei das biblische Gebot, sich die Erde Untertan zu machen, nun allzu wörtlich umgesetzt und befolgt. Intellektuell untermauert wird diese Entwicklung zudem durch philosophische Konstrukte, aber auch durch Wissenschaft und Kunst.
Macht durch fossile Brennstoffe
Zu technischen Erfindungen kommt es nun in rascher Folge. Thomas Newcomen entwickelte 1712 eine Dampfmaschine, ihr folgen 1784 die Dampfmaschine und in Deutschland 1835 die erste Dampfeisenbahn. Maschinen - etwa zum Formen von Metall, Mahlen von Getreide oder Spinnen von Garn - können nun modernisiert und beschleunigt werden.
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Arbeiten mit hohem Energieeinsatz, die teilweise von Menschen gar nicht mehr hätten bewältigt werden können, werden nun möglich, und damit auch Eingriffe in die Natur, die ebenso dem Menschen allein nicht möglich wären. Mit der einsetzenden Industrialisierung entstehen nun ausgeprägter Märkte, geregelt von Angebot und Nachfrage, Unternehmertum etabliert sich. Aber schon jetzt vertieft sich die Kluft zwischen Arm und Reich. Auch hier, wie schon bei der landwirtschaftlichen Revolution, ist der Fortschritt somit zweischneidig: zum Einen sorgen die Maschinen als nun wichtigste Produktionsmittel für manche Erleichterung, Muskelarbeit wird durch Dampf getriebene Apparate ersetzt und die Effizienz enorm gesteigert; zum Anderen nimmt aber auch der Energieverbrauch zu. Zudem entwickelt sich damals bereits eine hohe Luftverschmutzung; Dreck, Schrott und Abfälle häufen sich um die Fabriken, die Fabrikarbeit ist mühevoller und entwürdigender als die Feldarbeit, die Löhne reichen kaum zum Überleben, Kinder und Frauen sind dadurch oft zum Mitarbeiten gezwungen.
Weitere bahnbrechende Entdeckungen folgen. So sucht Edwin Drake 1859 in der kargen Landschaft Nordamerikas nach Öl, dies jedoch ursprünglich nicht für Motoren, sondern für Medikamente.116 Der Treibstoff setzt das 20. Jahrhundert in Bewegung, die »Megamaschine«117 gewinnt an Fahrt. Erdöl wurde vom Menschen jedoch schon in der Vorgeschichte genutzt: An der Oberfläche austretendes Erdöl wird durch den Kontakt mit Sauerstoff zu asphaltähnlichem Bitumen, das bereits vor 12.000 Jahren in Mesopotamien zum Abdichten von Booten verwendet wurde.
Deutlicher noch als bei anderen Rohstoffen zuvor kristallisiert sich nun aber, im 20. Jahrhundert, mit dem Aufbau riesiger ölabhängiger Maschinerien heraus: Wer Öl hat, hat Macht. So ist die Behinderung des Treibstoffnachschubes im ersten und noch mehr im zweiten Weltkrieg von entscheidender Bedeutung, das Öl hat die Entwicklung entsprechender Fahrzeuge (Lastwagen, Panzer, Flugzeuge, Kriegsschiffe) überhaupt erst möglich gemacht - und damit auch die moderne Massenvernichtung mit zehn Millionen Toten im ersten und ca. 55 Millionen Toten im zweiten Weltkrieg. Deutlich spüren können später insbesondere die westlichen Industrienationen die Macht der Ölbesitzer während der Ölkrise 1973, als die arabischen Förderländer ihr Erdöl als politische Waffe einsetzen.
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Neben dem Erdöl erfolgt zunehmend die Nutzung des Erdgases. Erdgasvorkommen entstehen ähnlich wie Erdölvorkommen - und werden deswegen oft mit diesen zusammen gefunden.118 Erdgas ist der Menschheit jedoch schon viel länger bekannt als Erdöl. Bereits 6000 v. Chr. werden erste Funde im heutigen Iran gemacht - Urkunden berichten dort von »ewigen Feuern«, welche für »göttliche Zeichen« gehalten werden. 5000 Jahre später, ca. 900 v. Chr., wird auch in China Erdgas entdeckt und zur Trocknung von Salz eingesetzt. Heute verschafft auch der Besitz von Erdgas verschafft den darüber verfügenden Staaten hohe Einkünfte -und Macht, wie man am Umgang Russlands mit seinen Nachbarländern öfter erleben konnte.
Die fossilen Brennstoffe führen schließlich zur Erfindung der Elektrizität, die etwa mit Glühbirnen nun auch nachts Beleuchtung - und Produktion - ermöglichte. Auch waren nun neue Möglichkeiten der Kommunikation und Datenübertragung über größere Strecken hinweg möglich. Es vollzog sich somit innerhalb von vier Jahrhunderten eine rasante Entwicklung von Forschung und Technik, parallel zur damit verwobenen Ausweitung der industriellen Produktion.
Das fossile Zeitalter aber neigt sich jetzt seinem Ende entgegen. Die aktuell diskutierte Möglichkeit, dass durch ein Wegbrechen der Nachfrage nach fossilen Energieträgern (etwa durch Nutzung anderer Energieträger, auch im Rahmen der Bemühungen um Klimaschutz) diese nun doch nicht endlich wären, erscheint zwar wünschenswert, aber eher unwahrscheinlich.119 Die Menschheit hat sich mittlerweile so organisiert, dass sie ohne die fossilen Rohstoffe nicht mehr auskommt, viele Lebensbereiche sind ohne sie nicht mehr denkbar, wie oben schon beschrieben. Die Menschheit ist somit süchtig nach Energie, verfügt noch nicht ausreichend über entsprechende »Ersatzdrogen« und schreckt daher auch nicht vor »Beschaffungskriminalität« zurück, etwa indem noch Öl oder Gas besitzende Staaten unter Druck gesetzt werden.120
Somit nähert sich wieder der Moment, in dem ein Wendepunkt benötigt wird, da Energieträger und damit auch Nahrungsmittel knapp werden. Ein rascher Wandel zu einer nachhaltigen Gesellschaft wird daher oft gefordert. Doch liegt ein solcher im Wesen unseres evolutionären Antriebes? Und hat uns die Evolution dafür biologisch und psychologisch ausreichend ausgestattet? Dies wird noch näher betrachtet werden.
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Mit der Verbrennung von Kohle, Öl und Gas im Zeitalter der fossilen Energien aber hat der Mensch nun - ungewollt - Veränderungen bewirkt, die noch in Jahrtausenden, sogar in Millionen von Jahren, bemerkbar sein werden. Evolutionär bestens ausgestattet drückt er dem Planeten seinen Stempel auf - und gefährdet damit nun auch sein eigenes Überleben.
Das Anthropozän - der tragische Sieg der Großhirnrinde (121) ^^^^
Im Jahr 2002 hat der Chemie-Nobelpreisträger und Klimaforscher Paul Crutzen daher in »Nature« vorgeschlagen, dem bisherigen Zeitalter des Holozäns das Zeitalter des »Anthropozäns« folgen zu lassen.122 Der Einfluss des Menschen auf die Entwicklung der Erde, so seine Argumentation, sei seit dem 19. Jahrhundert so tiefgreifend, dass dies geobiologisch Auswirkungen für Jahrtausende haben werde. Im Blick hatte er dabei insbesondere den Klimawandel, zu denken wäre aber auch an die sich beschleunigende Landübernutzung, die Freisetzung zahlloser künstlicher chemischer Stoffe und künstlicher Organismen, die langfristige Lagerung des Atommülls oder auch das aktuelle sechste große Artensterben.(123) Letzteres folgt den früheren großen fünf Artensterben, die zumeist durch klimatische Veränderungen oder tektonische Verschiebungen ausgelöst worden waren. Einige Zahlen illustrieren das menschliche Wirken: Mehr als 90 Prozent des Pflanzenwachstums findet in Systemen statt, die der Mensch beeinflusst, mehr als 90 Prozent der Biomasse aller Säugetiere werden vom Menschen und seinen Haustieren gestellt, und über 75 Prozent der eisfreien Landoberfläche sind nicht mehr im ursprünglichen Zustand.124
Der Zoologe und Philosoph Ernst Haeckel (späterer Wegbereiter der Eugenik und Rassenhygiene) benannte schon 1868 das »anthropolitische oder anthropozoische Zeitalter«:
Es könnte auch das Zeitalter der Culturwälder oder der Gärten heißen, weil selbst auf den niedrigeren Stufen der menschlichen Cultur ihr umgestaltender Einfluß sich bereits in der Benutzung der Wälder und ihrer Erzeugnisse, und somit auch in der Physiognomie der Landschaft bemerkbar macht.125
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Der Mensch wirkt demnach als geologische Kraft, vergleichbar mit nichtmenschlicher Aktivität etwa der Vulkane oder der Erdplattenverschiebung. Speziell gemeint ist mit »Mensch« der homo sapiens, der bis zum Übergang von vor über 10.000 Jahren vom Jäger und Sammler zur Landwirtschaft schon andere Unterarten wie den Neandertaler, homo erectus oder den Rotwildhöhlenmenschen hinter sich gelassen oder an den Rand gedrängt hat. Er ist somit als einzige menschliche Art übrig geblieben.
Im Grunde hat er nichts anderes gemacht und macht immer noch nichts anderes wie andere Lebewesen auch, er nützt die Ressourcen seiner Umgebung wie Nahrung, Wasser und Raum zur Befriedigung seiner Bedürfnisse. Dafür entnimmt er Rohstoffe aus seiner spezifischen Umwelt, greift in sie ein und schädigt sie zwangsläufig auch, was jetzt immer deutlicher - und leider auch bedrohlich - wird. Um dies und damit die heutige ökologische Krise besser zu verstehen, müssen grundlegende ökologische Mechanismen berücksichtigt werden, wie sie der Landschaftsökologe Wolfgang Haber beschreibt.126 Ihnen ist auch der Mensch - trotz seiner besonderen Bedürfnisse und Fähigkeiten - weiter unterworfen.
Haber sieht diesen ganz normalen Naturgebrauch zunächst als grundsätzlichen Trieb im Umgang mit der Natur, der allen Lebewesen eigen ist, nicht nur den Menschen. Ein weiteres Grundstreben ist wiederum der Schutz der eigenen Existenz vor der Natur, etwa bei der Gefahr, als Nahrung zu dienen oder klimatisch bedroht zu sein, aber auch beim Versuch, Konkurrenz zu überwinden. Dementsprechend konkurriert auch der Mensch zur Erfüllung seiner Primärbedürfnisse mit allen nicht-menschlichen Lebewesen um die Naturressourcen für seine spezielle Umwelt, von deren »Leistungen« er lebt. Die macht man sich nicht oft bewusst, gerade was die Leistungen »nicht sichtbarer« Lebewesen angeht, von Bakterien bis hin zu Regenwürmern, von deren Aktivitäten der Mensch profitiert. Andere Lebewesen haben wiederum ihre eigenen »Umwelten«, derer es somit unzählige in der »Natur« gibt.
In folgender Abbildung von Haber sind die Grundbedürfnisse aller Lebewesen, auch des Menschen, den spezifischen menschlichen Anliegen gegenübergestellt. Die Befriedigung der genannten, vielfältig miteinander verflochtenen ökologischen Grundbedürfnisse wird evolutionär bedingt beim Menschen eher vom Stammhirn gesteuert (Abb 2., linke Seite).
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Dieser hat nun aber zusätzlich, so Haber, einzigartige geistige Fähigkeiten - von der Entwicklung der Intelligenz und der damit verbundenen Hirnvergrößerung war schon die Rede -, die in der Großhirnrinde zu orten sind und miteinander sowie mit den Primärbedürfnissen in lebhafter Wechselbeziehung stehen (Abb. 2, rechte Seite).
Damit aber schafft er sich eine zusätzliche »mentale oder humanitäre Umwelt«, die mit der allgemeinen Umwelt laut Haber nicht vereinbar ist. Er ist daher ein Doppelwesen, und genau das kennzeichnet seiner Ansicht nach das Anthropozän. Als dieses Sonderwesen, so Haber, hat der Mensch Triebkräfte, die anderen Lebewesen fehlen, etwa die stete Suche nach immer vollkommeneren technischen Problemlösungen, so dass der Computer der Moderne fast schon als Nachfahr des steinzeitlichen Faustkeils angesehen werden kann. Andere Lebewesen dagegen sind technisch immer auf dem gleichen Stand geblieben. Somit hat der Mensch eine zweite, als kulturell bezeichnete Evolution geschaffen im Rahmen der weiter ablaufenden natürlichen Evolution, und sich damit in der Natur eine Sonderumwelt namens »Kultur« geschaffen.
Als weitere urmenschliche Triebkraft ist - völlig wertfrei - der stete Drang zum »Mehr« zu nennen, also besser, höher, oder schneller zu sein, mehr zu erreichen und zu besitzen, gesünder und zufriedener zu werden
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und damit auch länger zu leben - etwas, was auch die Medizin stets zu erreichen versucht.
Die oft beklagte Gier wäre somit unter streng ökologischen Gesichtspunkten nur eine Extremspielart dieses Grundantriebs des »Mehr«, worunter auch der Drang fällt, noch weiter in den Weltraum vorzustoßen, den Mars zu besiedeln oder neue Weltrekorde aufzustellen. Dazu kommt - hier auf Erden - die rationale, nach ökonomischen Gesichtspunkten ausgerichtete Nutzung der Natur, auch dadurch lässt sich »mehr« erreichen, ein Mehr etwa an Nahrung oder Schutz.
Das so oft gepriesene »Leben im Einklang mit der Natur« ist damit aber kaum mehr möglich. Gerade für Entwicklung und Ausbau der Landwirtschaft war, so Haber, die Vernichtung natürlicher Lebensgrundlagen notwendig (Bäume mussten gefällt, Sträucher gerodet, Äcker geschaffen werden), was sich nicht rückgängig machen lässt. Der Erhalt einer unberührten Natur ist heute als Ziel von Naturschutz überholt, allenfalls in kleinen Gebieten mit viel Aufwand durchführbar, so der Biologe Christoph Kueffer.127 Eine nicht-anthropogene (also nicht von Menschen veränderte) Natur wird demnach zur Illusion, es bleibt nur die Wahl zwischen verschiedenen Zuständen von anthropogener Natur.
Auch weist Haber nüchtern darauf hin, dass wir nicht - wie so oft gewünscht - die menschliche Gesellschaft nach den Grundsätzen der Organisation des Lebens in der Natur, also »ökologisch«, gestalten können, was ja oft von Umweltschützern gefordert und von vielen Menschen auch spirituell ersehnt wird. Vielmehr widerstreben wir mit unserem Bedürfnis, die Dinge selbst zu regeln, diesem sich selbst organisierenden System. Dieses Bedürfnis wiederum steht in Zusammenhang mit den speziellen Möglichkeiten unserer Großhirnrinde, man denke nur an damit ebenso verbundene Begriffe wie Bewusstsein, Reflexion und Wille. Offenbar besteht im Streben, die Dinge selbst regeln zu wollen, auch ein hohes Autonomiebedürfnis, also ein Streben nach Unabhängigkeit, in diesem Fall von den grundlegenden Spielregeln der Natur. Nicht nur von Eltern und anderen Menschen wollen wir also unabhängig sein - dieser Konflikt beschäftigt den Psychiater oft -, sondern auch von der uns ernährenden Umwelt.
Statt nun die Grundsätze der Lebensgestaltung in der Natur zu übernehmen übertragen wir vielmehr menschliche Prinzipien auf den Umgang mit ihr.
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So wie dominante Menschen in Partnerschaften den Ton angeben oder es gut für andere meinen, versuchen wir im ökologischen Kontext, unsere humanitären Grundsätze, betreffend etwa Gerechtigkeit, Gleichrangigkeit und Würde (siehe Abb. 2, rechte Seite), nun auf die Natur zu übertragen, dies sogar mit bestem Willen eines Naturschutzes. Der Kampf gegen das Artensterben ist Ausdruck davon. Das wird nicht funktionieren, solange wir unsere eigene Position im System nicht anpassen, und interessiert die Natur auch nicht sonderlich, zumal wir uns ja nur für die Tier- und Pflanzenarten einsetzen, die wir als schön oder erhaltenswert empfinden (für Mikroorganismen engagiert sich keiner).
Interessanterweise ist das Anliegen des Naturschutzes stärker im städtischen Bereich verankert, deren Bewohner sich immer mehr von der »Natur« entfernt und Flächen versiegelt haben, jedoch weiter abhängig sind von den Erzeugnissen des sie umgebenden Landes (Primärbedürfnis Nahrung!) und dieses daher bewahrt sehen wollen. Das könnte außerdem damit zu tun haben, dass gerade die Städter mittlerweile bemerkt haben, welch wohltuenden Effekt Ruhe, Bäume und andere Pflanzen sowie Tiere haben können (mentales Bedürfnis Spiritualität, siehe Abb. 2!), bei Überlegungen zu psychischen Aspekten wird darauf zurückzukommen sein. Diese weiter bestehende Abhängigkeit von der Lebensmittelerzeugung verstärkt aber bei gleichzeitig abnehmenden Anbauflächen (Bodenverlust durch Bevölkerungszunahme, Versiegelung, Verstädterung, Erosion und Anbau von Getreide für Tierfutter oder von Pflanzen für Bioenergie) den Druck, die Landwirtschaft weiter zu intensivieren, was wiederum die industrielle Vorgehensweise dabei zementiert und die Böden weiter schädigt.
All das deutet auf einen noch zu diskutierenden Gegensatz zwischen Mensch und Natur hin, und führt zu unbequemen, aber einleuchtenden Einsichten, zu deren Verständnis die ökologischen Grundmechanismen hier nun so ausführlich dargestellt wurden. So meint Haber:
Humanität (Ethik, Gerechtigkeit, individuelle Rechte, Würde, Werte) und Ökologie (Organisation des Lebens in der Natur) sind grundsätzlich unvereinbar, aber im Doppelwesen Mensch miteinander verknüpft. Menschen brauchen die Humanität für ihr Zusammenleben und die Natur für ihre Existenz.
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Die Humanökologie, die beides zusammenführt, ist daher von einem tiefen inneren Widerspruch erfüllt: Das Humane kann unökologisch wirken, das Ökologische als inhuman empfunden werden. Nur durch ständige Kompromisse lässt sich der Widerspruch zeitweilig überbrücken. Die Übertragung humanitärer Prinzipien auf die Organisation allen Lebens auf der Erde (zum Beispiel bei der Erhaltung biologischer Vielfalt) wird scheitern - ihre Einhaltung gelingt ja nicht einmal innerhalb der Menschheit selbst. Stattdessen werden die ökologischen Selbstregulierungen schrittweise wieder auf die menschliche Population übergreifen, ohne dass diese es verhindern kann.128
Wenn man sich die in den letzten Jahren schon spürbaren Folgen des Klimawandels vor Augen führt, wird deutlich, was damit gemeint ist. Unsere spezifische Umwelt, in diesem Fall die Klima-Umwelt, gibt Feedback. Ein anderes Beispiel ist die Entwicklung multiresistenter Keime durch den absurd hohen Einsatz von Antibiotika in der Medizin und insbesondere in der Tierzucht. Auch die Dezimierung der Population für die menschliche Umwelt wichtiger Tierarten, etwa der Bienen und anderer Insekten, werden wir wiederum zu spüren bekommen, Chinesen bestäuben heute schon per Hand.
Während Klima-, Flora- und Faunaveränderungen eines Gebietes völlig normale Naturveränderungen sind, die manche Arten bei zu langsamer Anpassung mit dem Aussterben bestrafen, sind die Menschen nun selbst die Hauptursache der Umweltveränderungen, daran aber heute selbst fehlangepasst und in ihrer Existenz bedroht, worauf der Evolutionsforscher Thomas Junker hinweist.129 Demnach lässt sich sogar oft noch eine kulturelle Verstärkung der Fehlanpassung beobachten.
Ein Zurück zu einem Weniger und Einfacher, somit die eigentlich nötige Transformation zu nachhaltigem Wirtschaften, erscheint allein schon aus diesen grundökologischen Erwägungen heraus äußerst unwahrscheinlich (»ökologisch« hier also nicht im populären Sinne, sondern wissenschaftlich gemeint).
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Die faszinierende Evolution des Menschen mit der ihm eigenen Entwicklung von Sprache, Intelligenz und eines Bewusstseins seiner selbst, lokalisiert vor allem in der Großhirnrinde, hat ihm zu einem Sonderplatz in den ökologischen Systemen verholfen, auf dem es langsam einsam und gefährlich wird, nachdem er die Beziehungen zu seinen Mitlebewesen und zur pflanzlichen Umwelt dominiert und ausschließlich orientiert an seinen Bedürfnissen gestaltet hat, was wiederum aus den erwähnten Mechanismen heraus vielleicht gar nicht anders ging, und auch zukünftig nicht anders gehen wird. Der ausgeprägte Drang des Menschen nach Herrschaft, sei es über die Natur, die Technik oder auch den Mitmenschen, wird nicht ohne Weiteres zu ändern sein.
Die evolutionäre Entwicklung zeigt zudem eine gewisse Eigendynamik. So wurden die Möglichkeiten etwa der Elektrizität, aber auch der Atomkraft oder Chemie wie von selbst weiter entwickelt, zumeist angetrieben von dem Bedürfnis, die Welt im Grundsatz zu verstehen, sich das Leben weiter zu vereinfachen und um aufgetretene Probleme zu lösen. Der Biochemiker Erwin Chargaff, der selbst beteiligt war an der Erforschung der Struktur der Erbanlagen, hat das später bei Betrachtung der Entwicklung der Naturwissenschaften treffend auf den Punkt gebracht: »Was gemacht werden kann, muss gemacht werden«, und: »Was gemacht worden ist, muss verwendet werden.«130 Auch der Religionswissenschaftler und Philosoph Hans Jonas analysierte, dass gerade im Fall der Technik die bloße Verfügungsmacht ihre Anwendung zwangsläufig zur Folge hat.131 Aktuell besteht das Risiko, dass auch Techniken zur Klimabeeinflussung (Climate Engineering), die längst in das Stadium ernsthafter Forschung und erster Erprobungsversuche eingetreten sind, zum Einsatz kommen könnten, allein deshalb, weil sie nun zur Verfügung stehen.
Ein Bremsen und Innehalten ist bisher - trotz vieler ethischer Konflikte - kaum gelungen. Eine Eigendynamik gibt es auch dahingehend, dass man nach einem erreichten technischen Fortschritt rasch nicht mehr auf diesen verzichten konnte im Sinne der beschriebenen Abhängigkeit, so Chargaff:
Da in unserer Welt Verwendung leider meistens Verschwendung wird, waren die Errungenschaften der Technik begleitet vom Raubbau an den unwiederbringlichen Schätzen des Bodens und von der Vergiftung der Erde, der Luft und des Wassers. Außerdem hat die Technik sich als eine Vorrichtung erwiesen, um die Ansprüche der Menschheit immer mehr hinaufzuschrauben, so dass die Leute jetzt vorgeben, nicht mehr leben zu können ohne manche Dinge, deren Existenz vor 150 Jahren noch gar nicht geahnt war.132
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Weiter zeigt sich im seit Jahrtausenden stetig und zuletzt rasant erzielten technischen Fortschritt, also im Streben nach noch mehr Einfachheit des Daseins und nach noch mehr Sicherheit (»mehr«!), paradoxerweise eine zunehmende Komplexität und Kompliziertheit. Das wird vor allem deutlich in den immer kürzer werdenden Entwicklungssprüngen bei Nutzung der Lebensgrundlagen und Anwendung neuer Energieträger. Betrachtet man die Folgen dieser sich beschleunigenden Entwicklung, dürfte es sich wohl tatsächlich um eine kulturelle Verstärkung der Fehlanpassungen handeln. Jetzt, schon nur noch wenige Jahrhunderte nach Beginn des fossilen Zeitalters und nur wenige Jahrzehnte nach Entwicklung der Kernenergie, steht wieder ein großer Wandel im Energiebereich an.
In dieser immer rascheren Abfolge der Nutzung verschiedener Energieträger und dem damit verbundenen Weg zu immer komplizierter werdenden Lebensverhältnissen versteckt sich ein weiteres Naturprinzip, das der Entropie. Dieses physikalische Gesetz zeigt auf, wie beim Gebrauch von Energie und Materie der Weg nahezu immer nur eine Richtung nimmt, nämlich von einer Verfügbarkeit im weitgehend geordneten Zustand hin zu einer nicht mehr gegebenen Verfügbarkeit, eher einer Unordnung entsprechend. Das Verständnis dieses Grundgesetzes macht neben der Betrachtung der Evolution den Weg in die ökologische Krise - und auch die Grenzen möglicher Lösungsansätze - verständlicher, weshalb es näher erklärt werden soll.
Von Ordnung zur Unordnung - Entropie ^^^^
Geht es Ihnen auch manchmal so, dass Sie den Eindruck haben, dass vieles nicht, wie versprochen, einfacher, sondern komplizierter und unübersichtlicher wird, egal ob im Arbeitsleben, im Verkehr, bei sozialen Kontakten oder bei Gebrauchsanweisungen für technische Geräte?
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Dann haben Sie intuitiv bereits etwas vom Gedanken der Entropie erfasst, die uns jetzt beschäftigen wird. Dieser kleine Exkurs zu komplizierten Gesetzen der Thermodynamik, die aber wesentlich sind für unser Leben auf diesem Planeten, soll mit einer Übung, vorgeschlagen vom Wirtschaftswissenschaftler Jeremy Rifkin, etwas erleichtert werden:
Beobachten Sie einen Tag lang alles, womit Sie in Berührung kommen: Dinge, die Sie sehen, hören, berühren, riechen, fühlen oder konsumieren; Dinge, die Sie bekommen oder weiter geben. Dann versuchen Sie, jeden Gegenstand oder dergleichen in beide Richtungen zu verfolgen, zurück zu seiner ursprünglichen Quelle und nach vorn zu seiner letztendlichen Bestimmung. Mit hundertprozentiger Sicherheit werden Sie feststellen, dass sich alles aus irgendeiner Form von Rohmaterial (verfügbarer Energie) entwickelt, um dann irgendwo als unbrauchbarer Abfall (nichtverfügbare Energie) zu enden.133
Der erste Hauptsatz der Thermodynamik besagt, dass in diesem Prozess die Energiemenge insgesamt gleich bleibt; der zweite Hauptsatz jedoch schränkt ein, dass dabei der Weg von Zuständen mit verfügbarer oder auch freier Energie verläuft zu Zuständen mit nichtverfügbarer oder gebundener Energie, wobei dieser Prozess unumkehrbar ist. Wenn also ein Stück Kohle brennt, bleibt zwar die Energiemenge konstant, die Kohle aber wird umgewandelt in Schwefeldioxid und andere Gase, die in den Raum entweichen. Obwohl also während dieses Prozesses keine Energie verloren geht, ist klar, dass dasselbe Stück Kohle nicht noch einmal verbrannt werden und somit nicht nochmals dasselbe Stück physikalische Arbeit geleistet werden kann. Die Energie ist in einen Zustand der Nichtverfügbarkeit verwandelt worden. Entropie ist dabei das Maß der Energiemenge, die nicht mehr in Arbeit umgewandelt werden kann, entsteht also bei irreversiblen Prozessen, und hängt mit der Anzahl der Möglichkeiten zusammen, wie sich Atome oder Moleküle in einem geschlossenen System anordnen können. Im Beispiel der Kohle sind es weniger Möglichkeiten vor der Verbrennung als im Zustand danach, und dies ist irreversibel. Entropie kann somit nicht abnehmen, allenfalls weniger zunehmen.
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Energie selbst kann dabei weder geschaffen noch zerstört, sondern nur umgewandelt werden, wobei ein Teil der Energie bei jedem Arbeitspro-zess in thermische Energie, somit Wärme, umgewandelt wird. Diese geht verloren und steht der weiteren Nutzung und Transformation nicht mehr zur Verfügung. Energie kommt dabei aus zwei Quellen: zum einen aus dem irdischen, begrenzten und in menschlichen Zeitmaßstäben nicht erneuerbaren Vorrat an Energieträgern (einige haben wir bereits kennen gelernt), zum anderen aus dem Wärmezufluss der Sonne. Somit ist die Erde ein offenes System.
Gelten aber die thermodynamischen Gesetze nicht ausschließlich für geschlossene Systeme? Falsch, sagt der Physiker Dietrich Pelte.134 Denn die Energie im System Erde bleibt nahezu konstant (was ja der erste Hauptsatz der Thermodynamik beschreibt), da etwa die gleiche Energiemenge, die von der Sonne zugeführt wird, auch wieder abgegeben wird. Hinzu kommt noch ein weiterer, mit Blick auf die Gültigkeit des ersten Hauptsatzes aber nur unwesentlicher Energieverlust, der entsteht durch die vom Menschen verursachte Umwandlung der in der Erde gespeicherten fossilen Energiestoffe; die dabei entstehende Wärme wird zusätzlich ins Weltall abgestrahlt.
Ein weiteres Problem: Die Erde kann als offenes System Energie mit ihrer Außenwelt austauschen, nicht jedoch Materie. Sonnenenergie kann keine Materie erschaffen, dafür aber Leben und Wachstum im Zusammenwirken mit Materie, Mineralstoffen und Metallen ermöglichen. So übertrug Ökonom Nicholas Georgescu-Roegen das Gesetz von der Entropie auf die Materie, wonach Materie auf der Erde nur begrenzt verfügbar ist, was einleuchten dürfte. In diesem Sinne handelt es sich um ein geschlossenes System. Wenn sie genutzt wird, bleibt sie - dem ersten Hauptsatz entsprechend - in ihrer Gesamtmenge erhalten, doch geht auch hierbei ein Teil ihrer Nutzbarkeit verloren:
Bei jeder Arbeit entsteht Reibung, Materie wird dabei abgetragen und verstreut. Die etwa durch den Abrieb von Autoreifen verstreuten Moleküle sind zwar noch vorhanden, aber sie könnten nur mit unverhältnismäßig viel Zeit und Energie wieder eingesammelt werden.135
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Auch beim Recycling, das dem Verlust von Materie entgegenwirken könnte, muss jedes Mal ein Preis in Form von Wertminderung oder geringerer verfügbarer Menge bezahlt werden. Recycling vermindert oder vermehrt also nicht die beteiligte Materie, aber es geht - oft in kleinsten Spurenelementen - etwas davon verloren, häufig sinkt die Qualität, und jede weitere Recyclingrunde vermindert die vorher recycelte Menge. Auch hier gibt es somit irreversible Prozesse. Und, nicht zu vergessen, Recycling erfordert durch Sortieren, Sammeln und Aufbereiten selbst einen enormen Energieeinsatz. Der Wissenschaftsautor Christian Schütze meint daher:
Wer wirklich an die Zukunft der Menschheit denkt und es mit der Verantwortung für künftige Generationen ernst meint, den muss die Materie-Entropie ebenso besorgt machen wie die Energie-Entropie.(136)
Vermehrter Energieaufwand zum Schaffen von Ordnung ^^^^
Während die Menschheit also verzweifelt damit beschäftigt ist, durch Fortschritt und Entwicklung neuer Techniken mehr Ordnung auf der Welt herzustellen und Probleme zu lösen, verläuft der Weg von Materie und Energie genau umgekehrt: von der Ordnung einer verfügbaren, zumeist konzentrierten Energie zur Unordnung einer nicht mehr verfügbaren, zumeist verstreuten Energie (streng genommen darf Entropie nicht als Maß für Unordnung angesehen werden, da diese ja grundsätzlich reversibel sein kann). Das Paradox dabei ist: Wann und wo immer auf der Erde oder im Universum eine geordnete Struktur geschaffen wird, geschieht dies nach dem Entropiegesetz auf Kosten einer größeren Unordnung in der jeweiligen Umgebung. Anders formuliert: um aus einer Unordnung wieder geordnete Strukturen zu schaffen, muss zusätzliche Energie aufgewandt werden. Das obige Beispiel des Autoreifens mag dies veranschaulichen.
Wie viel leichter aber ist es zumeist, Unordnung herzustellen, als danach wieder aufzuräumen!
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So ist schnell etwas im Keller abgestellt, aber wehe, man muss irgendwann hier wieder Ordnung schaffen im Chaos. Oder man nehme alleine nur einen geordneten Stapel Spielkarten. Er befindet sich in einem Zustand maximaler Ordnung bzw. minimaler Entropie, die Karten befinden sich in genau einein Zustand ihrer Anordnung. Wirft man ihn nun auf den Boden, verteilen sich die Karten zufällig und ungeordnet, sie haben viele Möglichkeiten, sich anzuordnen, hohe Entropie entsteht. Um sie nun wieder aufzusammeln und in die ursprüngliche Anordnung zurückzuführen, hat man mehr Energie aufzuwenden als zuvor dafür, sie zu verstreuen.137 Von alleine jedenfalls hätten sie sich nicht wieder sortiert, hoher Energiezufluss von außen war nötig.
Somit nimmt immer, wenn das Entropiewachstum an einem Ort abnimmt (also die Karten wieder geordnet werden), die Entropie in der Umgebung dieses Vorgangs zu. Dies liegt an der für die Herstellung der Ordnung übermäßig nötigen Energieumwandlung, etwa in Wärme. In diesem Zustand haben die Atome oder Moleküle nun viel mehr Möglichkeiten, sich anzuordnen, ohne dass dies rückgängig zu machen ist. Das hat sich auch bei dem schon skizzierten Wechsel der Energieträger im Lauf der kulturellen Evolution gezeigt, wo stets ein erheblicher Mehraufwand nötig war, um die jeweils neuen Energieträger dann auch nützen zu können.
Für die Landwirtschaft brauchte man schon komplexere Geräte als nur für das Jagen und Sammeln, für das Fördern von Kohle dann andere Maschinen als für das Fällen von Holz, und um diese zu transportieren, waren schließlich dampfgetriebene Maschinen hilfreich. Es erforderte zudem erheblich mehr Aufwand und Energie, die jeweiligen Energieträger in eine nutzbare Form zu bringen (Ordnung zu schaffen), deutlich wird dies an der Verarbeitung von Öl in Raffinerien oder dem Spalten von Atomkernen zur Energiegewinnung. Der Mensch musste also immer wieder Ressourcen gegen andere austauschen und benötigte dafür jeweils neue Methoden, die immer komplizierter wurden, da er von leichter zu weniger leicht ausbeutbaren Rohstoffen übergehen musste. Zumeist wird dabei der sich als nächstes anbietende, also einfachste Schritt zuerst gemacht, woraus ein Dilemma entsteht. Der Archäologe Joseph Tainter meint dazu:
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In jedem mit Problemen konfrontierten System sind die ersten Lösungsschritte die produktivsten. Das kommt daher, dass der Mensch die niedrig hängenden Äpfel zuerst pflückt. (...) Die weiteren Schritte werden immer kostspieliger, bis der Aufwand in keiner Relation mehr zum Ergebnis steht und womöglich gar Verluste einfährt.138
Wie bei den Spielkarten: zur Lösung der entstandenen Unordnung muss ein im Verhältnis deutlich höherer Energieaufwand getätigt werden. Mussten etwa texanische Ölbarone in den Dreißigerjahren nur die Energie von einem Barrel Öl einsetzen, um 100 Barrel Öl an die Oberfläche zu pumpen, so sind es heute bereits 17.
Das beschriebene Prinzip zeigt sich ähnlich in anderen Bereichen unseres Lebens, so in der Landwirtschaft, wo Pestizide und Düngemittel (beides zudem auf Ölbasis hergestellt) mehr Probleme schaffen als lösen, ebenso in der Urbanisierung und im Transportwesen.139 Heute nützen wir Autos, Lastwagen und Flugzeuge; der Entropiezuwachs hierbei ist offensichtlich. Notwendig wurden dafür etwa der Bau von Straßen und Flugplätzen sowie die Einrichtung von Werkstätten und Tankstellen. Aktuell werden nun nach Verdoppelung des Güterkraftverkehrs in Deutschland seit 1990 erste Hochspannungsmasten entlang von Autobahnen gebaut, um klimafreundlich E-Lkws fahren lassen zu können.140 An die Möglichkeit einer Verkehrsreduktion wird dabei offenbar nicht gedacht.
Öl mühsam aus Ölsand fördern, Spiegel im Weltall zur Klimasteuerung aufspannen, Kohlendioxid unterirdisch lagern - die Entropiebeispiele der modernen Wirtschaft ließen sich beliebig fortführen. Viele kulturelle Errungenschaften aber - so das Wissen, wie man mit Hilfe der Umgebungsenergie Agrikultur betreibt oder Häuser baut - sowie der Bezug zur Natur sind dabei verkümmert oder verloren gegangen.141 Stattdessen wird schon an Mini-Drohnen zum Bienen-Ersatz beim Bestäuben geforscht.142
Auch für die gepriesene und ja heute nötige Bündelung und Umwandlung der Sonnenstrahlen in verfügbare Energie (Wärme oder Strom) wird wiederum selbst ein erhebliches Maß an Energie, Rohstoffen und Materie benötigt.
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Grundsätzlich unbegrenzt verfügbare Sonnenenergie stößt hierbei auf begrenzte irdische Vorräte an Rohstoffen und Materie. Ähnliches gilt für die Windkraft. Die erneuerbaren Energien haben für die Entropiebilanz daher keine Sonderstellung, so der Physiker Dietrich Pelte.(143)
Weiter haben sich durch Einführung des Computers viele Abläufe enorm vereinfacht und beschleunigt, jedoch ist es nicht zu der erwarteten Papierersparnis gekommen, die Computer sind zumeist nach wenigen Jahren wieder veraltet, für die daher nötige fortlaufende massenweise Herstellung sind wiederum etliche Rohstoffe erforderlich, und immer schneller müssen die PCs entsorgt werden. Auf einen Brief muss heute nicht mehr tagelang gewartet werden, die Mail ist in Sekundenschnelle verschickt, allerdings ohne dass wir wissen, wie sie funktioniert. Diese Zeit- und Energieersparnis hat aber dazu geführt, dass nun der Arbeitnehmer heute im Durchschnitt über 40 Mails am Tag beantworten muss und dabei das Gefühl eines (mindestens mental) immens hohen Energieaufwandes hat. Die Möglichkeiten, und damit die Entropie, haben also auch hier zugenommen. Firmen müssen daher heute schon zum Schutz ihrer Arbeitnehmer die Zeiträume begrenzen, in denen Smart-phones genutzt oder Mails beantwortet werden dürfen.
Durch all unsere Bemühungen, Ordnung in alle Aktivitäten des Lebens zu bringen, zumeist mit Hilfe von Technik, beschleunigen wir eigentlich nur die Umwandlung von Energie und Materie und damit den Entropieprozess.144 Deutlich wurde, dass dabei häufig neue Probleme auftauchen, die wieder mehr Aufwand, Energie und Materie benötigen, um sie in den Griff zu bekommen (um also Ordnung zu schaffen). Da stellt sich schon die Frage, ob Arbeit statt Nutzen eher Schaden anrichtet, wenn so viel Energie dabei verloren geht durch Umwandlung in einen nicht verfügbaren Zustand. Der Wissenschaftsautor Christian Schütze folgert daher etwas pessimistisch: »Arbeit ruiniert die Welt, macht sie ärmer, vermehrt das Wertlose«.145 Über die weitere Bedeutung dieses Satzes ließe sich trefflich streiten, oder philosophieren. Der Astrophysiker Peter Kafka schlug deshalb bereits einen »Entropiesteuersatz« vor, um die katastrophale Entropieerzeugung durch den Menschen zu reduzieren.146
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Ein Mehr an Möglichkeiten und Komplexität zeigt sich aber auch im Freizeit- und Konsumbereich, wodurch ein zunehmend hoher Energieaufwand erforderlich wird, hier noch den Überblick zu behalten, somit innere Ordnung herzustellen. Ob es die vielen Fernsehsender sind (früher gab es ja tatsächlich davon nur drei), die vielen technischen Geräte, von denen wir umgeben sind, die vielen Joghurtgläser im Supermarktregal, die immer unübersichtlicher werdende digitale Fotosammlung oder die vielen Urlaubs- und Reisemöglichkeiten - all das stresst zunehmend, so dass schon von einem Konsum- und Freizeit-Burnout gesprochen wird.147
Spezialisierung und Abhängigkeit ^^^^
Zunehmende Komplexität geht aber auch Hand in Hand mit steigender Spezialisierung, und daran zeigt sich die Schwachstelle zunehmender Technisierung: sie bleibt abhängig vom Menschen. Während in einfachen Gesellschaften Führungspersönlichkeiten leicht austauschbar sind, sind moderne Gesellschaften auf gut ausgebildete Spezialisten, etwa in der Kraftwerksführung, und deren Zusammenspiel angewiesen. Wehe aber, wenn diese versagen, menschliche Schwächen zeigen (man denke an den Suizid des Piloten) oder krank werden; ein Albtraumszenario von Katastrophenexperten ist hier eine mögliche weltweite Ansteckung an einem mutierten Grippevirus, wovon dann auch die Spezialisten an wichtigen Nahtstellen der Gesellschaft betroffen sein könnten.
wikipedia Germanwings-Flug_9525 (2015)Experten mit spezialisierten Kenntnissen sind auch in Medizin und Recht gefragt. Die Zahl der verschiedenen Fachärzte und Fachanwälte hat in den letzten Jahrzehnten enorm zugenommen. Mit bedingt ist diese Spezialisierung auch durch eine zunehmende Flut an Wissen, so dass Lehrbücher und Standardwerke rasch wieder überholt sind. Diese unüberschaubare Flut an Veröffentlichungen in Fachzeitschriften, somit an Möglichkeiten, Wissen zu publizieren oder zu erwerben, kann man gut und gerne Informationsentropie nennen. So verdoppelt sich heute die Zahl der Fakten, die wir über die uns umgebende Welt kennen, innerhalb von etwa fünf Jahren.(148) Dass dadurch die Welt besser organisiert ist, also mehr Ordnung entsteht, wird wohl niemand ernsthaft behaupten wollen.
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Durch den Schwerpunkt auf das Faktenlernen - schließlich leben wir in einer Wissensgesellschaft - fängt die Tendenz zur Spezialisierung schon im Grundschulalter an, unser Bildungswesen ist stark darauf ausgerichtet. Spezialisierung verhindert jedoch das Erkennen von Zusammenhängen, ein Überblick über ein Gesamtgeschehen kann nur schwer gewonnen werden. Biologen aber weisen darauf hin, dass Überspezialisierung einer der Hauptfaktoren für das Aussterben einer Spezies ist. Sie verliert dadurch zumeist die Fähigkeit, sich einem Wechsel der Umweltbedingungen anzupassen.
Für den Einzelnen werden die gesellschaftlichen Verhältnisse aber immer unüberschaubarer. Bei der Finanzkrise 2008 beispielsweise gab im Zusammenhang mit dem Desaster der Bayerischen Landesbank ein bayerischer Ex-Finanzminister im Interview zu, blauäugig gewesen zu sein, er ärgere sich maßlos, dem Heer der blinden Lemminge gefolgt zu sein, die die Geschäfte als völlig risikolos eingeschätzt hätten: »Wir sind aber über die Risiken komplizierter Papiere erst gar nicht unterrichtet worden.«149 Häufig sind somit Experten und Politiker selbst nicht mehr in der Lage, wenigstens Teilbereiche unserer komplexen Welt zu verstehen, worauf auch der Wirtschaftsforscher Niko Paech hinweist:
Wir haben riesige und extrem komplexe Ökonomien erschaffen. Selbst Experten für Makroökonomik behaupten heute nicht mehr, dass sie die gesamte Finanzökonomie noch durchschauen. Und dann erwarten wir von den Politikern, dass sie das Richtige tun, um die nächste Krise zu verhindern? Angesichts einer solchen unbeherrschbaren Situation habe ich mit den Politikern schon manchmal Mitleid.(150)
Entropie im Medizinbetrieb - ein Exkurs ^^^^
Auch im Gesundheitswesen wird ein großer Aufwand getätigt beim Bemühen, Ordnung und Wohlbefinden zu schaffen, was dem Autor dieser Zeilen aus vielfacher persönlicher Erfahrung sehr vertraut ist. So versteht kaum noch ein niedergelassener Arzt den Honorarbescheid, mit dem die Kassenärztlichen Vereinigungen versuchen, die Gelder der gesetzlichen Krankenkassen gerecht zu verteilen, die Regeln für diese Ordnungsweise werden immer komplizierter.
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Ähnliches zeigt sich bei der Medikamentenverordnung: Durch sogenannte Rabattverträge zwischen Krankenkassen und Pharmafirmen sollen die Medikamentenpreise niedrig gehalten werden. Überschaubar ist die jeweilige Preisgestaltung damit aber nicht mehr. Der Apotheker benötigt heute eine aufwändige Software dafür, nun das richtige Mittel für den Patienten herauszufinden, das die zu seiner Krankenkasse passende Pharmafirma hergestellt hat. Wieder ist kompliziertes Vorgehen mit hohem Aufwand nötig um noch einigermaßen Ordnung und Durchblick zu schaffen.
Auch der Input in der medizinischen Behandlung wird durch Technisierung immer größer, der Output wächst jedoch nicht entsprechend mit. Elf Prozent ihres Bruttosozialproduktes wenden die Deutschen bereits für Gesundheitsleistungen auf, sie stehen nach den Amerikanern und den Schweizern damit weltweit an dritter Stelle.151 Offenbar führen auch im Gesundheitssystem, ähnlich dem Beispiel der Ölförderung, immer größere Investitionen zu stetig kleineren Erfolgen. So werden hierzulande jährlich 900 kostspielige Herzkatheteruntersuchungen pro 100.000 Einwohner durchgeführt (bei der ersten Auflage dieses Buches 2009 lag die hierfür verfügbare Zahl noch bei 600)152, was einem einsamen europäischen Spitzenplatz entspricht, während allein durch Ernährungsumstellung einer ganzen Bevölkerungsgruppe im finnischen Nordkarelien die Zahl der Herzinfarkte um 70 Prozent zurück ging.
Führend ist Deutschland auch bei Bypass-Operationen und im Gelenkersatz an Hüfte und Knie, zudem gibt es hier bezogen auf die Bevölkerung die meisten Krankenhausbetten in der EU, mehr Ärzte als in anderen Ländern und mehr als doppelt so viele Kernspin-Geräte verglichen mit dem europäischen Durchschnitt.153 Drastische Fehl-und Überversorgung besteht auch bei der Verordnung fraglich wirksamer Medikamente, ebenso bei Röntgen- und Computertomographieuntersuchungen, aber auch bei der Durchführung von Knochendichtemessungen und Gelenkspiegelungen.154 Hierzu stellte eine Studie kanadischer Orthopäden fest, dass zwei Jahre nach Durchführung einer Kniegelenksspiegelung (Arthroskopie) in der Gruppe der operierten Patienten weder die Schmerzen geringer waren oder die Funktionstüchtigkeit besser, dies im Vergleich zu einer Gruppe mit ähnlich chronischen Kniebeschwerden, die nur zwölf Wochen lang mit Krankengymnastik und anschließend weiter mit Medikamenten behandelt worden waren.155
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Natürlich spielen Gewinnstreben von Gesundheitsindustrie und Ärzten bei dieser Aufblähung des Gesundheitswesens eine große Rolle. Dazu kommen auch neue Kundennachfragen, etwa nach Selbstoptimierung durch Medikamente, Botox und Schönheitschirurgie, oder nach prädiktiver Medizin. Und schließlich ist auch der demographische Faktor zu bedenken. Ein höherer Anteil älterer Menschen und eine längere Lebensspanne tragen zu den Gesundheitskosten erheblich bei.
Der Trend geht aber auch im Medizinbetrieb zu mehr Komplexität, Technisierung und Spezialisierung. In Deutschland sind bereits 5,2 von 80 Millionen Menschen direkt oder indirekt im Gesundheitswesen beschäftigt,156 dennoch hat man den Eindruck, dass es in den Basisdisziplinen wie der Kranken- und Altenpflege, also bei der Betreuung des Patienten selbst, sehr an Personal mangelt, das zudem stark mit Dokumentation beschäftigt ist (wohl auch um Ordnung zu schaffen). Die zunehmende Kompliziertheit wirkt auch hier und führt zu Unzufriedenheit bei Personal und Patienten, wie der erfahrene Internist, Notfallmediziner und Autor Michael de Ridder aktuell am Beispiel eines guten Freundes schildert, der - bei erfolgreich behandelter Krankheit - von seiner Krankenhauserfahrung berichtet:
Kaum erinnere ich mich, einen Arzt gesehen zu haben. Erklärt hat mir die Krankheit niemand; meist schaute ich in müde, freudlose Gesichter - und kalt war es, die Atmosphäre war geradezu frostig! 157
Die »einfache« (entropiearme), sprechende und patientennahe Medizin, wie sie ambulant insbesondere Hausärzte, häufig mit Hausbesuchen, praktizieren, aber auch Kinderärzte und Psychiater, kommt dabei zu kurz. Nicht umsonst rangieren diese drei Arztgruppen stets am unteren Ende der ärztlichen Einkommensstatistik. An der Spitze liegen technikorientierte Fachgruppen wie Radiologen und Orthopäden. Dabei weiß man mittlerweile, welch große Bedeutung die »Droge Arzt« hat, auch bei der Wirksamkeit von Medikamenten. Gesucht wird der Arzt als »guter Freund«, mit Empathie, Sachverstand und Respekt.158 Allein die Beziehung wirkt hier schon heilend.
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Die Gleichung »mehr Medizin gleich mehr Gesundheit« trifft somit nicht zu.159 So profitieren hierzulande vor allem Menschen mit höherem Bildungsgrad und überdurchschnittlichem Einkommen von der gestiegenen Lebenserwartung.160 Vergleiche zeigen eine deutliche Korrelation zwischen dem Pro-Kopf-Einkommen und ausgewählten Gesundheitsparametern.161 Eigentlich lautet somit die Gleichung: »Reiche leben länger und gesünder«. Armut hingegen macht krank.
Der technische Wandel wiederum hat das Leben bequem gemacht, dabei aber auch durch Abnahme von Muskelarbeit zu Bewegungsmangel geführt. Dieser wiederum verursacht nicht nur Muskelatrophie, sondern fördert auf diesem Wege - und im Zusammenspiel mit den unangepass-ten Eßgewohnheiten - die Mehrzahl der Volkskrankheiten, von den Herz-Kreislauferkrankungen über den Diabetes bis zu den Skelett-Muskelkrankheiten.162 Nun gut, dafür haben wir ja dann wieder die großen technischen Möglichkeiten des Medizinbetriebs.
Globale Entropie
^^^^Die zunehmende Komplexität hat aber neben steigendem Energieaufwand, hoher Entropie und Abhängigkeit von Spezialisten weitere Folgen. So führt sie heute global zu einer weltweiten Vernetzung. Störungen an einem Ort können dadurch rasch auf andere Bereiche übergreifen und Krisen immer unberechenbarer machen. Das Risiko dafür ist umso größer, je enger die Elemente eines Systems zusammenhängen. Internationale Netze etwa, die früher Versorgungssicherheit beispielsweise bei Ernteausfällen garantierten, sind mittlerweile so eng verbunden und reagieren derart nervös, dass sie eine lokale Krise nicht abfedern, sondern im Gegenteil weiter tragen bis hin zum Kollaps des Systems, egal ob auf dem Finanzmarkt, in den Stromverbünden oder in der Industrie.163 Informationsflüsse sind in Sekundenbruchteilen global möglich, wodurch Bildung und Kommunikation global möglich wird, aber ebenso eine enorme Anfälligkeit entsteht, wie die versehentliche Beschädigung von Internetleitungen in Tiefseeregionen bereits zeigte.
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Die digitale Revolution selbst wiederum hat aber mittlerweile zu einem Informationsüberfluss und damit zu einer zunehmenden Unübersichtlichkeit geführt. Allein schon die aktuell virulent werdende Nachrichtenunordnung durch »Fake News« ist entropisch. Das Internet bläht sich immer weiter auf wie die vom Urknall getriebene Erweiterung des Universums, die Vielzahl der Möglichkeiten und damit die Entropie nehmen zu.
Auch wird schon davon gesprochen, dass in geopolitischer Hinsicht die Ära der Ordnung in ein Zeitalter der Entropie übergegangen ist. Demnach diktiert nicht mehr eine Großmacht oder eine Gruppe von Großmächten das Weltgeschehen, sondern es gibt eine Vielzahl von Kräften, die hier Einfluss haben, so Nationen, multinationale Konzerne, ideologische und religiöse Bewegungen, Terrorgruppen oder auch Nicht-Regierungs-Organisationen im Umwelt- und Menschenrechtsbereich. Unordnung wird das Kennzeichen internationaler Politik sein, meint der Professor für Politikwissenschaft Randall L. Schweller (dies schon 2014, also noch vor der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten):
Es wird eine Welt voller Verwirrung und Instabilität geben. Eine Zeit rastloser Unordnung, die von einer ziellosen aber heftigen Feindseligkeit gegenüber den herrschenden Gegebenheiten geprägt sein wird und in der man keinen gradlinigen Fortschritt erkennen wird. Die jetzt entstehende Welt wird das erste wirklich multipolare System sein und damit seit der Herausbildung des modernen Staatensystems erstmals eine Welt ohne westliche Hegemonialmacht. Um Krisen und Konfrontationen zu verhindern, müssen sich die permanenten tektonischen Machtverschiebungen im Überbau einer internationalen Ordnungsinstanz widerspiegeln - in den Ordnungs- und Gesellschaftsnormen des Systems. Allerdings bewirkt die zunehmende Entropie, dass die veraltete globale Architektur nur immer lauter knarrt und sich immer hartnäckiger einer Sanierung widersetzt. Niemand wird wissen, wo die Ordnungsinstanz ihren Sitz hat, denn sie wird gar keinen festen Sitz haben. Ohne Ordnungsinstanz aber kann es keinerlei Kontrolle und Steuerung geben. Die bereits überladene und chaotische Landschaft wird mit weiteren Sinnlosigkeiten angefüllt. Und das Phänomen der internationalen Kooperation, wenn es überhaupt je mehr als eine Schimäre war, dürfte einen langsamen, aber sicheren Tod sterben.(164)
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Eigentlich bedeutet Evolution in unserer Vorstellung Fortschritt, neues Leben und faszinierende Komplexität. Eigentlich müsste sie doch die Ordnung auf der Erde verbessern. Doch wir müssen wohl, auch wenn wir nicht so recht wollen, das Gegenteil zur Kenntnis nehmen: Unordnung, Chaos und Umweltzerstörung nehmen zu. So wie schon die Schlussfolgerungen von ökologischer Seite nicht erbaulich waren, sind sie es ebenso nicht unter physikalischen Gesichtspunkten. Auch Pelte verbindet dabei die Entropie mit dem Begriff der Nachhaltigkeit, der uns noch beschäftigen wird:
Menschliches Handeln ist umso nachhaltiger, je weniger die natürliche Entropieproduktion auf der Erde durch dieses Handeln beeinflusst wird.
Menschliches Handeln ist ein Synonym für alle Prozesse, deren Existenz die Existenz des Menschen voraussetzt. Die Natur ist gnadenlos: Irreversible Prozesse produzieren Entropie (sie erfordern die Wandlung von Energie) und der Mensch kann sich dieser strikten Abfolge von Ursache und'Wirkung nicht entziehen. Die natürlichsten Lösungen für nachhaltiges Handeln wären demnach auch:
die Anzahl der Menschen zu beschränken, etwa durch Hungersnöte, Kriege, oder ähnliche Katastrophen,
das menschliche Handeln zu beschränken und damit einen Verlust an Wohlstand hinzunehmen.
Selbstverständlich sind diese Lösungen politisch inkorrekt. Es gibt genügend Vorschläge, wie die Menschheit der Entropiefalle entgehen könnte. (...) Derartige Vorschläge erfordern immer, einen Prozess (z.B. Rohstoffabbau) durch einen anderen (z.B. Wiederverwertung) zu ersetzen, wobei nicht nachgewiesen ist, dass der neue Prozess tatsächlich die Entropieproduktion verringert.165
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Wenn man auch den Entropiegedanken sicher nicht auf alle gesellschaftlichen Bereiche anwenden kann, ohne ihn zu überstrapazieren(166), so trägt er bei der Betrachtung der ökologischen Krise, vor allem bei der Frage der abnehmenden Rohstoffe und zunehmenden Erwärmung durch deren Endprodukte, erheblich zum Verständnis der letztlich in eine Richtung ablaufenden Vorgänge bei. Er macht von physikalischer Seite Grenzen unseres Handelns deutlich. - Trotz aller evolutionären Vorteile gegenüber den Tieren, die der Mensch in seiner Komplexität grundsätzlich hat: Der jetzt notwendigen schnellen Wandlungsfähigkeit zur Lösung der gewaltigen globalen Probleme stehen zudem zahlreiche fest in uns verankerte Verhaltensweisen und psychische Mechanismen entgegen, die uns die Gefahren der heutigen Situation entweder nicht erkennen lassen oder schnell zu Verharmlosung oder Verleugnung führen.
Evolution, Entropiegesetz, Biologie und Psychologie hängen hier eng zusammen.
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Meißner-München-2017