Teil 1 - Lange Wege in die Krise     Start     Anmerk    Weiter 

1.2 - Zunehmende Komplexität - Evolution und Entropie

Die Menschheit ist in die moderne Geschichte gegangen wie ein Tier in die Falle.
Nicolas Gómez Dávila(110)

 

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In unseren Supermärkten sind die Regale brechend voll. Allein schon deshalb klingt alles Gerede von einer anstehenden Nahrungsmittelkrise nach Panikmache. Lebensmittel stehen insbesondere in unseren westlichen Industrieländern im Überfluss zur Verfügung. Doch das war nicht immer so. In der Geschichte der Menschheit und ihrer Vorfahren muss-te um Nahrung und Überleben stets hart und unter teils widrigen Umständen gekämpft werden. Dies erklärt den Drang, nach einer Verringerung dieser Mühen und nach Sicherheit zu streben, und letztlich dann auch, es sich so bequem wie möglich zu machen.

Um zu verstehen, wie wir dabei in die heutige Situation geraten sind, soll die Geschichte des menschlichen Daseins skizziert werden, die sehr kurz ist - gemessen an der Dauer der Existenz unseres Planeten insgesamt. Das Leben in überschaubaren Gruppen, die Entwicklung von Intelligenz, die Suche nach Problemlösungen ebenso wie sich ändernde Ernährungsgewohnheiten sind bei der menschlich-kulturellen Evolution von besonderem Interesse. Ob es die Anforderungen an die Hominiden vor über sieben Millionen Jahren waren, sich Nahrungsplätze gut zu merken, oder - dann beim homo sapiens vor ca. 250.000 Jahren - die Entwicklung von Sprache, Informationsvermittlung und zunehmende Interaktionen zwischen den Gruppenmitgliedern, stets half dabei ein sich stetig vergrößerndes Gehirn. Lange lebte der Mensch in überschaubaren Kleingruppen von bis zu ca. 150 Personen, in denen alle mit allen Kontakt hatten.111 Das anonyme Leben in Massen von bis zu Tausenden und Millionen von Menschen auf engem Raum ist erst ein Phänomen der Moderne.

Nötig wurde die zunehmende Schädelvergrößerung aber auch dafür, gefährliche Situationen, etwa die Bedrohung durch Raubtiere, abzuschätzen und mit früher Erlebtem abzugleichen. Ein zunehmend besseres Gedächtnis war dabei hilfreich. Auch stellten eine vielfältige Umwelt und schwieriger zu erreichende Nahrungsquellen größere Anforderungen an die Informationsverarbeitung. Sie war auch wichtig dafür, um Handlungen anderer Menschen rechtzeitig einzuschätzen und vorauszusehen. Die Interaktion mit den Gruppenmitgliedern und die Abgrenzung gegenüber Fremden gewannen an Bedeutung.

   Die folgenreiche landwirtschaftliche Revolution - eine evolutionäre Fehlanpassung? 

Die zunehmenden geistigen Fähigkeiten wurden dann auch zur Entwicklung von Werkzeugen genutzt. Während Feuer seit über 250.000 Jahren und erste Spieße wohl schon vor weit über 100.000 Jahren verwendet werden, werden Pfeil und Bogen vor ca. 30.000 bis 15.000 Jahren entwickelt, damit können nun noch schnellere und gefährlichere Tiere gejagt werden. Doch mit zunehmender Verbreitung und Bevölkerungsvermehrung werden weitere Anpassungen notwendig. In der proneoli-thischen Zeit, etwa 9000 bis 7000 v. Chr., geht der Mensch daher zu einer neuen Wirtschaftsform über, in der Nahrungsmittel nicht mehr gesammelt oder erbeutet werden, abhängig davon, was vorhanden ist, sondern produziert werden. Nach über zwei Millionen Jahren Dasein als Jäger und Sammler ist dies wohl die folgenreichste Umwälzung in der Geschichte der Menschen.112

Voraus gegangen ist eine Klimaerwärmung vor ca. 13.000 Jahren, das Ende der letzten Eiszeit. Zudem wird vermutet, dass es mit zehn Millionen Menschen bereits damals einen hohen Bevölkerungsdruck gibt.113 Die Reviere, in denen die als Nomaden lebenden Menschen sich von genießbaren Pflanzen und Wildbeständen ernähren, werden knapp. Im


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Sinne des evolutionären Antriebs - Anpassung zur Sicherung des Überlebens und der erfolgreichen Vermehrung - stoßen daher Menschengruppen in neue Gebiete vor, andere werden sesshaft und beginnen, Tiere zu domestizieren und erste Kulturpflanzen zu entwickeln. Die erste große Menschheitsrevolution kommt in Gang, Landwirtschaft entsteht. Wenngleich das Jagen und Sammeln mit weniger Arbeit verbunden ist, ermöglicht sie nun mit Ernten, die sich auf ein gegebenes Stück Land konzentrieren, mehr Menschen zu ernähren, was durch den Zyklus der Jahreszeiten und des Anbaus mehr Regelmäßigkeit und Sicherheit verschafft.

Allerdings führt die Evolution häufig durch veränderte Umweltbedingungen auch zu Fehlanpassungen. Während 99,5 Prozent ihrer Evolution haben die Menschen ihre Nahrung als Jäger und Sammler beschafft, die Ernährung war vielfältiger und weniger von Vitamin-, Mineralienoder Proteinmangelzuständen geprägt als es in späteren Ackerbaukulturen der Fall war. So waren früher Fette, Zucker und Salz sowie Nahrung generell rar, und man nahm so viel wie möglich zu sich, wenn gerade etwas zur Verfügung stand, etwa nach erfolgreicher Jagd. Fast-Food-Ketten sind deshalb so erfolgreich, weil sie diese natürlichen Jäger-und-Sammler-Instinkte bedienen.114 Nur hat sich die Umwelt mittlerweile verändert, alles steht jederzeit in großen Mengen zur Verfügung, die Instinkte waren jedoch nur sinnvoll für sich abwechselnde Phasen von Mangel und Überfluss an Nahrung.

Die durch Sesshaftwerdung und Entwicklung der Landwirtschaft nun mögliche Mehrproduktion an Lebensmitteln, vor allem Getreide, ermöglicht es, Siedlungen anzulegen und nicht in der Nahrungsherstellung tätige Menschen mitzuversorgen. Über Jahrhunderte hinweg entwickeln sich vielfältige Formen der Produktion, auch die Tierhaltung wird etabliert, Arbeitsteilung erfolgt, die Menschen spezialisieren sich, etwa im Handwerk oder auch für Tätigkeiten als Soldaten, Priester, Kaufleute und Musiker. Erste Städte entstehen, und es herrscht Nah-rungsmittelüberfluss. Der Anteil des Menschen an den Energie- und Stoffflüssen des Ökosystems Erde wird durch die landwirtschaftliche Revolution etwa um den Faktor 100 größer. Die Bevölkerung kann so nun weiter stetig wachsen. Bis zur Zeitenwende sind aus den zehn Millionen schon etwa 300 Millionen Menschen geworden, um 1750 n. Chr. sind es bereits 800 Millionen.115


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Ein erneuter Mangel tritt nun zutage: vor allem bebaubare Landflächen und Energie beginnen knapp zu werden. Nachdem in England schon im 13. Jahrhundert Brennholz knapper wurde, beginnt man hier im 18. Jahrhundert, Kohle in größerem Stil zu verheizen, auch zur Erzschmelze und Stahlerzeugung. Ein neuer Brennstoff ist entdeckt - und die nächste große Menschheitsrevolution, die Industrielle Revolution, damit vorbereitet. Sie ist wohl der weitere entscheidende Schritt zum heutigen Dilemma, auch in psychischer Hinsicht, wie sich noch zeigen wird.

Spätestens jetzt vollzieht sich auch ein Wandel unseres Weltbildes. Während die Menschen vorher noch - gezwungenermaßen - natürliche Rhythmen und Kreisläufe der Natur zu berücksichtigen hatten, und dabei auch den Launen der Natur ausgeliefert waren, konnten sie nun durch den Übergang zu Produktion und Ausbeutung die sich selbst regulierenden Regelkreise durchbrechen. Der Mensch schwingt sich aufgrund der nun entstehenden Möglichkeiten zum Herrscher über Tiere und Pflanzen auf. Er tritt befreit und vernunftbesetzt an die Stelle zuvor noch mythisch verehrter Götter, die in dieser Sicht wohlwollend, aber auch launisch und strafend Ernten und damit das Überleben beeinflussen konnten. Die Naturbeherrschung aber geht nun Hand in Hand mit einer Naturentfremdung, die wir heute bedauern, die aber kaum rückgängig zu machen ist. Die Erinnerung an eine Mitwelt, in die sich der Mensch eingebettet fühlt, als Teil eines natürlichen Ganzen, geht verloren. Mythisch-göttliche Vorgaben werden nun mit der Ratio überwunden, paradoxerweise aber wird dabei das biblische Gebot, sich die Erde Untertan zu machen, nun allzu wörtlich umgesetzt und befolgt. Intellektuell untermauert wird diese Entwicklung zudem durch philosophische Konstrukte, aber auch durch Wissenschaft und Kunst.

  Macht durch fossile Brennstoffe  

Zu technischen Erfindungen kommt es nun in rascher Folge. Thomas Newcomen entwickelte 1712 eine Dampfmaschine, ihr folgen 1784 die Dampfmaschine und in Deutschland 1835 die erste Dampfeisenbahn. Maschinen - etwa zum Formen von Metall, Mahlen von Getreide oder Spinnen von Garn - können nun modernisiert und beschleunigt wer-


 

 

 

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