Utz Rachowski

Ein Dichter und ein Bürgerrechtler
aus dem im Vogtland

1993  Namenlose - Erzählungen 

1995  Erinnerungen an  eine Jugend
 - Essays, Akten, Tagebuch 

2006 Red' mir nicht von Minnigerode 
Erzählungen und Aufsätze 

Wikipe Autor  *1954 in Plauen

dnb Name (40)

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Jürgen Fuchs     Gerulf Pannach 

Wolf Biermann    Siegfried Heinrichs

F.Klier    H.Schädlich    R.Kunze 

K.Renft    Platonow    Schalamow

Solschenizyn   E.Käbisch    Werdau 

Beleites     Faust-Siegmar

 

 

Im "Lokal Zum Uhu" in Zwickau in der Bahnhofstr im August 2005

 

 

1993

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1995

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2006

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1991

1991

 

basisdruck.de  

exilpen.de  PEN 

wikipedia  Siegfried Heinrichs   Autor, Opposition, Verleger , *1941 


Dosenbier ist verschwunden  

oder: 

Ich fahre oft nach Berlin

Von Utz Rachwoski

 

Ich fahre viel nach Berlin, und ich meine Westberlin damit. Ich hab’ noch einen Koffer dort. Aus zehn Jahren Exil. Voll lebendiger Erinnerungen und echter Freunde. Jürgen liegt auf dem Heidefriedhof (Zwei Weltkriege/ Zersetzungsmaßnahmen/ Stecken in uns/ Wir sind die Kinder/ Wir sind dran). Alt-Mariendorf ist noch immer dort, wo ich umsteigen musste von der U-Bahn-Linie 6 in den Bus nach Marienfelde, ins Aufnahmelager, als ich aus dem Knast kam im November 1980. So sah ich Berlin das erste Mal. Zehn Jahre die verfeindete Stadt.

Gerulf liegt in Schkeuditz begraben (Als ich wie ein Vogel war/ Der am Abend sang/ Riefen alle Leute nur: Sonnenuntergang!), aber das ist in Sachsen. Und Bernd Markowsky, der Fotograf, (wenn sie mit Panzern kommen, werde ich mit Objektiven werfen) ist weggegangen aus Kreuzberg und wohnt jetzt am Douro unweit von Porto. Ehemals Jenaer Friedensbewegung.

Salli, der Dichter und Liedermacher (Fürbringerstraße in Kreuzberg/Du weißt/Ist dort/Wo jeder Hund seine Scheiße hinscheißt!), – dort haben wir zusammen gewohnt – hat eine eigene Band und ist beim Rundfunk in der Masurenallee jetzt Literaturredakteur und macht manchmal eine Sendung mit mir, neun Minuten oder neunvierzig, Die Leseprobe heißt das, die neue Intendantin hat das gesprochene Wort gerade wieder heruntergefahren, aber für meine Fahrkarte aus dem Vogtland reicht das Honorar, sogar zurück.

Kuno, Vollblutmusiker, erst Thomaner, dann Renft (Du, woran glaubt der/der den Hintern quer zu der Fahne dreht?), teilte mit Salli und mir den Hinterhofblick auf die Müllkübel, nachts hörten wir sein Klavier mit den Akkorden für den nächsten Tatort, er wohnt jetzt schon zwölf Jahre im Harz. Włodek scheint heute in Warschau zu sein bei seiner alten Mutter oder ist gerade in der Ukraine unterwegs wegen einer Reportage. 

Blechi steht jetzt nicht mehr mit seiner Bierbüchse vor dem türkischen Imbiss vis à vis vom Mexicogrill — inzwischen ein biederer Eisladen mit Rauchverbot und sowieso nichts für uns —, er ging zurück ins Erzgebirge, Annaberg–Buchholz, dorthin, wo seine Johanna sich umgebracht hat mit siebzehn, als er im Knast saß. Dosenbier ist verschwunden. Bubi aus Reichenbach (…nennt mir die neuen Namen für die alten Narren!) wohnt in Neukölln, der Buchhändler, den sie mit brachialer Gewalt aus dem Vogtland fortgejagt haben. Mit Bubi spiele ich Fußball und Julian, seinem Sohn, immer in der Hasenheide und bei jedem Wetter, Papierkörbe und Bäume geben das Tor, je nachdem wo Platz ist, abends und im Winter stellen wir Teelichter auf, um die "Torpfosten" zu sehen.

Dann gehe ich nach dem Hermannplatz runter, ein Stück die Sonnenallee, dann links in die Friedelstraße, Nummer 6 ist eine Verlagsadresse, aber Siegfried Heinrichs sitzt gegenüber im Casa Nostra und hat schon auf mich gewartet. Ich habe mich verspätet, weil ich noch Olli Mertins traf, den jungen Westberliner Autor (... der Dichter ist ein Lehrer der Fernstenliebe), leicht bekifft und gut drauf, ich wollte die e-mail-Adresse von Bernd in Porto, aber er wusste sie nicht.

Siegfried Heinrichs sitzt am Tisch vor einem Haufen Knüllpapier, macht Verlag und den Eindruck, als sei die Cosa Nostra hinter ihm her. Rechnungen und Mahnungen auf Rechnungen. Das DSR in Zürich will Ankerplatz der Hölle von Schalamow besprechen, das ist bei Oberbaum vor zehn Jahren erschienen, Siegfried fragt, ob ich noch ein Exemplar hätte, er wolle wieder auflegen. Ja, sage ich, aber das gebe ich nicht her für die späten Schweizer. Ich bestelle einen erdigen Roten aus den Abruzzen und eine Sardellenpizza. Siegfried hat noch zu tun. Der zweite Band Jessenin und Sinaida Hippius sollen erscheinen, die Tagebücher aus dem Bürgerkrieg, und eine Neuauflage von Sándor Márai, die Bekenntnisse eines Bürgers.

Mojo, der Besitzer des Restaurants, knirscht mit den Zähnen, aber unhörbar: Papierberge und Bücher­pyramiden auf Tischtuch, Fensterbank und Stühlen. Bubi kommt noch vorbei, dann haben wir Zeit, und Siegfried bestellt zu Ehren meiner Anwesenheit ein Bier auch für sich. Dann haben wir viel Zeit. Und am Abend ganz spät sagt er immer den einen Satz, bei jeder Begegnung: Wir hätten mitspielen sollen, ein gutes Studium machen und stillhalten. Dann säßen wir heute woanders. Tausend Tage Knast.

Und die Frauen wären bei uns geblieben. — Aber, sage ich dann jedes Mal, wir konnten nicht anders. Wir mussten Mauer zur Mauer sagen. Und keiner von uns hat jemals einen Antrag aufs Weggehen gestellt, wir durften nicht bleiben. Ich wünschte mir einen dort, jetzt in Sachsen, der nicht anders konnte. Wir wurden weggehetzt und verkauft, jetzt fehlen wir in den neuen Landschaften, natürlich merkt das keiner dort. Und nun bringt Bubi wieder die story aus meinen Vernehmungsakten auf den Tisch, die Stelle, wo ich Die Wiedervereinigung Deutschlands und Die allgemeine Volksbewaffnung in einem Satz gefordert habe. Und es klappt auch heute Abend – Siegfried Heinrichs lacht sich halb kaputt, wirkt plötzlich nicht mehr wie verfolgt, kriegt sich gar nicht mehr ein.

Dann ist es schon viel zu spät, und auf dem Weg zur U-Bahn merke ich plötzlich, daß alle Freunde, mit denen ich heute zusammen war oder an die ich gedacht habe, im Gefängnis gesessen haben, alle aus meinem Koffer, und dann vergeblich gewartet haben, geliebt zu werden, die Dichter, die Buchhändler, die Rockmusiker, die Liedermacher mit dem selbstgebastelten Gestell für die Mundharmonika an ihrer Gitarre, die Fotografen, die auswanderten, weil sie ihre Bilder aus Osteuropa nicht verkaufen konnten, die Alltagsszenen aus Somalia und Afghanistan. 

Die Menschenaugen, nicht die Bilder des Krieges. Weil sie unterschied, daß sie danach auch nicht mitspielten und es nicht anders konnten. Morgen werde ich zurückfahren. Vortrag für die Birthler-Behörde in Halle, Eine Jugend im Visier der Stasi, Martin-Luther Universität, Melanchthonianum, Hörsaal A, viele werden kommen, und ich werde ein wenig mitspielen. Damit die Frauen nicht weglaufen.

10. Mai 2005


Mörike-Preis der Stadt Fellbach  

Seit 1991 vergibt die Stadt Fellbach im Andenken an den Dichter Eduard Mörike, der 1873 einige Zeit in Fellbach lebte, den Mörike-Literaturpreis. Der Preis wird im Turnus von drei Jahren verliehen. Er ist mit 12.000 Euro dotiert. Ausgezeichnet werden deutschsprachige Dichter und Schriftsteller, die durch die Qualität ihres Schaffens würdig erscheinen, im Namen von Eduard Mörike geehrt zu werden. 

Mit dem Mörike-Preis ist ein Förderpreis verbunden. Er ist mit 3000 Euro dotiert. Er kann auch an fremdsprachige Autoren verliehen werden. Über die Zuerkennung des Mörike-Preises entscheidet eine Vertrauensperson in alleiniger Verantwortung. Die Vertrauensperson wird vom Oberbürgermeister der Stadt Fellbach auf Vorschlag einer Jury benannt. Die Jury besteht aus einem Vertreter des Literaturarchivs Marbach und einem ordentlichen Professor für Literatur an einer deutschsprachigen Universität. Der Förderpreis wird vom Preisträger vergeben.

Erster Träger des Mörikepreises war 1991 Wolf Biermann, der den Förderpreis Utz Rachowski zuerkannte. Das Foto zeigt die beiden mit Fellbachs damaligem OB Friedrich-Wilhelm Kiel (l.).  fellbach.de/moerike/132.asp   fellbach.de/kultur___unterhaltung/kultur___highlights/moerikepreis  

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Utz Rachowski: "Beide Sommer", Leipziger Literaturverlag, Leipzig 2011, 123 Seiten

Audio     Beitrag vom 11.04.2011     Besprochen von Marko Martin

Mit atemberaubender Eindringlichkeit

Die Erzählungen und Essays Utz Rachowskis sind eine Entdeckung. In "Beide Sommer" stemmt sich der Dichter mit Poesie und Genauigkeit gegen die ritualisierten Mechanismen des Verdrängens: ruhig, eindringlich und mit unverwechselbarer Stimme.

Utz Rachowski einen Heimatdichter zu nennen, ist nichts Ehrenrühriges. Es verlangt der scheinbar betulichen Bezeichnung allerdings etwas ab, denn der 1954 in Plauen geborene Lyriker und Erzähler ist ein Aufbegehrender – wie so viele, die aus dem sächsischen Vogtland stammen: Gerhard Zwerenz, Hans Joachim Schädlich, Gerald Zschorsch, Jürgen Fuchs. Ende der siebziger Jahre wegen "staatsfeindlicher Hetze", das heißt wegen der Verbreitung von Biermanns Liedern und Reiner Kunzes Gedichten, ins Gefängnis geworfen, wurde er später nach Westberlin ausgebürgert, wo dann auch seine ersten Bücher erschienen.

Dass Rachowski zu Unrecht bislang ein wenig im Schatten der anderen Autoren stand, ist nun in seinem jüngsten Buch "Beide Sommer" zu entdecken. Es versammelt zwei Erzählungen und drei Essays, und wer einmal diese unverwechselbare, ebenso ruhige wie eindringliche Stimme gehört hat, wird sie wohl nie wieder vergessen.

"Die Straße. Die Straße meiner Kindheit ist eine Pflastersteinstraße mit unbefestigtem Randstreifen. Wo die Randstreifen enden, beginnen Felder. Wo die Felder enden, steht ein Ortsschild. Auf ihm steht Reichenbach im Vogtland."

Dort besucht das Kind, das der Autor war, in den Sommerferien die Großmutter, Momente voller Glück und Harmonie. Die Erzählung aber endet mit diesen Worten:

"Es war Sommer, ein heißer Tag, an dem meine Kindheit zu Ende ging. Es war Dienstag, der zwanzigste August neunzehnhundertachtundsechzig. In der darauffolgenden Nacht überschritten, unter anderem in der Höhe von Vogtland und Erzgebirge, 500.000 ausländische Soldaten die tschechoslowakische Grenze. Die Straße meiner Kindheit ist eine Pflastersteinstraße mit unbefestigtem Randstreifen und geht zu beiden Seiten in Feld über."

Es ist gut, dass dieser Text, 1984 erstmals erschienen und seither vergriffen, nun wieder zugänglich ist. Und gewiss kein Zufall, dass es damals der Schriftsteller Hans Sahl war, als Antinazi-Emigrant in New York lebend, der sofort das Universelle dieser im Lokalen wurzelnden Prosa erspürt hatte:

""Utz Rachowski hat die Fähigkeit, in der Idylle auch das Unheil, das ihr droht, anzudeuten, den Krieg im Frieden."

Inzwischen lebt Rachowski wieder im Vogtland, doch auch die jüngsten literarischen Essays ziehen ihre Spannung aus Konflikten – zwischen Heimat und Welt, Reden und Verschweigen, ganz ungeschützt gesagt: Zwischen Lüge und Wahrheit. Denn die seelische Verwüstung durch zwei deutsche Diktaturen, denen Rachowski hier in der Rezeption der Bücher von Christoph Meckel oder Jürgen Fuchs nachspürt, hinterlässt bis heute ihre Spuren. Nicht zuletzt im Wort "Diktatur", das mitunter allzu lässig suggeriert, hier habe ein schlimmer Staat eine im Grunde unschuldige Gemeinschaft ahnungsloser Bürger unterdrückt.

Ohne jemals in moralistisches Tremolo zu verfallen, aber bohrt Utz Rachowski genau hier ungleich tiefer und fragt nach der Verantwortlichkeit des Einzelnen, nach Familiengeheimnissen und Verdrängungs-Mechanismen. Die suggestive Lakonie seiner Erzählungen und Gedichte kommt damit auch den Essays zugute – in keiner Zeile wird geeifert oder geschwätzt.

Denn niemals verbirgt der von ostdeutscher Landschaft so fundamental geprägte Autor die Brüche - und nicht die Notwendigkeit, mitunter eben solche Brüche herbeizuführen. In seinem Gedicht "Die Tauben von Weimar" etwa heißt es:

"Hier liefen sie um die Brunnen und fraßen Bockwurstreste

Hier lief ich davon mit siebzehn riß ab von den Wegen der Gemeinschaft"

Von Joseph Brodsky stammt das kluge Diktum: "Ästhetik ist Ethik." Utz Rachowskis Texte beweisen das in geradezu atemberaubender Eindringlichkeit, die keinen Platz lässt für hohle Rhetorik. Wohl aber für ein Selbstbewusstsein, das man nicht allein vor 1989 auch anderen (ost)deutschen Schriftstellern gewünscht hätte:

"Chinesischer Türhütergott. Schlagt an den Pfosten ihn ruhig.
Es ist ohnehin nur Schein.
Denn Gott behütet die Dichter nicht
und vor ihnen schützt auch
kein Gott."

 

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Utz Rachowski, ein Dichter aus dem im Vogtland