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Vom Umgang mit Wünschen 
Die Sehnsucht nach Glück 

Wer aber auf das Glücklichsein 
verzichtet, erfüllt sein Dasein 
nicht.   Ludwig Marcuse

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Es war einmal ein armer Kohlenbrenner im Schwarzwald, der hieß Peter Munk. Weil er ein Sonntagskind war, hatte er bei dem guten Waldgeist Glasmännlein drei Wünsche frei. Er wünschte sich Ansehen, Macht und Geld. Man kann sich denken, daß ihm das schlecht bekam. In seiner Not schloß er mit dem bösen Waldgeist, dem Holländer-Michel, einen Pakt. Der versprach ihm ewigen Reichtum unter der Bedingung, daß Peter ihm sein weiches, empfindsames Herz gäbe und sich dafür eines aus Stein einsetzen ließe. Peter war zunächst sehr zufrieden mit diesem Handel. "Das kalte Herz" ließ ihn keine Sehnsucht, kein Leid spüren, und er konnte in Ruhe seinen Geschäften nachgehen ...

Nicht nur einfältige Märchenhelden wie dieser von Wilhelm Hauff haben schon oft gemeint, daß ein warmes Herz nicht nur etwas sei, auf das man leicht verzichten könne, sondern daß es durch seine unvernünftige Schwäche die wirklich großen Taten geradezu verhindere. "Dein Leben soll kalt sein — darum darfst du keinen Menschen lieben", das ist auch der Preis, den in Thomas Manns Roman der Teufel vom modernen Doktor Faustus, dem Komponisten Adrian Leverkühn, für unbegrenzte Schöpferkraft fordert. Und der kleine Kay in Andersens Schneekönigin merkt es nicht einmal, als ihm die Splitter aus dem Spiegel des Teufels ins Herz und ins Auge dringen und sein Gemüt vereisen. So sehr hat er sich kalte Intellektualität gewünscht.

Wünschen ist gefährlich. Sich das Richtige zu wünschen, ist wohl die schwierigste Aufgabe, die ein Mensch im Leben zu bewältigen hat. Falsch zu wünschen bedeutet in der Moral des Unbewußten den sicheren Untergang. Nur im Märchen können die kalten Männerherzen durch Frauen- und Zauberkraft ohne das Zutun ihrer Eigentümer wieder lebendig gemacht werden – im wirklichen Leben rächen sie sich mit eisiger Einsamkeit und psychischem Tod.

Doch auch ein zu heißes Herz führt in die Katastrophe. Nicht nur um den Preis, sondern auch im Namen der Liebe zu gierig zu sein, bringt den Tod. "Der süße Wahn" macht Patricia Highsmiths Helden David zum Mörder. Selbst als er zum Schluß, in die Enge getrieben, von einem Haus herunterspringt, gibt er seinen Wunsch nicht auf: "Nun überlegte er nicht länger und schritt hinaus in den kühlen Raum, zu raschem Flug hinab zu ihr, erfüllt allein von dem Gedanken an ihre schön geschwungene Schulter. Nackt, wie er sie nie gesehen hatte."

Weil das Wünschen so gefährlich ist, ziehen es viele Menschen vor, es ganz zu unterlassen oder sich nur Dinge zu wünschen, von denen sie sicher sein können, daß sie sie auch erhalten werden: einen netten Nichtraucher im mittleren Verwaltungsdienst mit Auto, ein Häuschen in der S-Bahn-Region, eine kleine Affäre mit einer Frau, die nicht zuviel erwartet. 

Wenn man seine Wünsche zähmt, verlieren sie ihre Krallen. Man springt dann nicht aus dem Fenster oder liefert seine Seele dem Teufel höchstpersönlich aus. Man wird nicht plötzlich zu Eis. Aber man ist auch nicht mehr aus Fleisch und Blut.

Die wildesten, unmäßigsten Wünsche hat man als Kind. Fünf Kugeln Schokoladeneis, jetzt, sofort, auf der Stelle; die Fähigkeit, jeden in einen Däumling verwandeln zu können, der nur noch ein einziges Mal "Stör mich nicht" sagt; die vollkommene Freiheit einer Pippi Langstrumpf - die Wünsche wuchern in prächtiger Macht und Vielfalt, um schließlich in dem Wunsch der Wünsche zu gipfeln: die magische Kraft zu besitzen, alle Dinge so zu gestalten, wie man es will, und zwar aus keinem anderen Grund als dem, daß man es eben so will.

Später, in der Pubertät, ergießen sich die Wünsche in eine unendlich weite Seelenlandschaft, die aus dem Stoff der Sehnsucht erschaffen ist. Man sucht im Nebelmeer der großen Gefühle nach konturierten Dingen, die man Liebe, Erfolg, Gott nennt, aber das Wesen der Sehnsucht ist gerade, daß man ihre Objekte nicht genau benennen kann. Dieses Nicht-wissen-, Nur-ahnen-Können ist der stille Schmerz der Sehnsucht.

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"Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide!" singt Goethes Mignon, und ihr "Land, wo die Zitronen blühn" hat nur für Materialisten den Namen Italien. Die Sehnsucht "nach dem, was wir schon im stillen besitzen" (Goethe), ist auch die Sehnsucht, "welche dem Menschen ein anderes, höheres Sein verheißt" (E.T.A. Hoffmann).

Die deutsche Romantik hat, im Gegenzug zur gefühlskalten Aufklärung, das ›Ahnen‹, die Sehnsucht, weit über pubertäre Schwärmerei erhoben und zum zugleich poetischen, sinnlichen und philosophischen Urstoff gemacht. "Die Eltern lagen schon und schliefen, die Wanduhr schlug ihren einförmigen Takt, vor den klappernden Fenstern sauste der Wind; abwechselnd wurde die Stube hell von dem Schimmer des Mondes. Der Jüngling lag unruhig auf seinem Lager ..." So beginnt Novalis' Roman Heinrich von Ofterdingen, in dem das Symbol der romantischen Sehnsucht geschaffen wird: die blaue Blume. Heinrich träumt:

"Was ihn aber mit voller Macht anzog, war eine hohe lichtblaue Blume, die zunächst an der Quelle stand und ihn mit ihren breiten, glänzenden Blättern berührte. Rund um sie her standen unzählige Blumen von allen Farben, und der köstlichste Geruch erfüllte die Luft. Er sah nichts als die blaue Blume und betrachtete sie lange mit unnennbarer Zärtlichkeit. Endlich wollte er sich ihr nähern, als sie auf einmal sich zu bewegen und zu verändern anfing; die Blätter wurden glänzender und schmiegten sich an den wachsenden Stengel, die Blume neigte sich nach ihm zu, und die Blütenblätter zeigten einen blauen ausgebreiteten Kragen, in welchem ein zartes Gesicht schwebte ..."

Man kann die Sehnsucht allerdings auch zur Prostitution zwingen, dann ist sie das Plastikgefühl der Schlager: Ein perfekter Augenblick wird eingefroren und in die Ewigkeit geschossen – konserviert und tot, aber zum gefälligen Gebrauch. Und vor allem ungefährlich.

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Sicher scheint man auch mit der Hoffnung zu fahren. Hoffen schadet nicht und macht einen guten Eindruck, zumindest auf den allerersten Blick. Hoffende sind Menschen, die in die Abendsonne blicken, während sich im Vordergrund eine Kornähre wiegt, lehrt die Sonntagsbeilage der Provinzzeitung; Verstand und Logik werden in ihre Grenzen gewiesen, und das eigentlich Menschliche darf schimmern. Alte Frauen mit Rosenkränzen in den Händen hoffen, Tiere in Käfigen hoffen, Hoffnung ist der ureigene Gemütszustand der Ohnmächtigen.

Ernst Bloch hat im Prinzip Hoffnung die Ohnmacht in Macht verwandelt. "Unendlichkeit des Strebens ist Schwindel, Hölle", schrieb er und erkannte die Hoffnung als einen "militanten Affekt". Hoffnung war für ihn kein vages, sentimentales Gefühl, das sich froh und dumm ins Nichts ergießt. Wie die Romantik die Sehnsucht, so hob Bloch die Hoffnung auf eine höhere Stufe: Sie hat Struktur, Form, Perspektive. Sie ist Entwurf. Genau hier ist der Ort der Utopie. Wenn ›Nirgendwo‹ nicht überall im Nichts sein soll, muß es sich mit dem Willen zur Gestaltung verbinden. Man muß die Wünsche bändigen können, aber ihnen die Zähne und die Krallen lassen.

 

Doch wozu denn überhaupt all dies Sehnen, Wünschen und Hoffen? Die Antwort ist einfach, jedenfalls auf dem Papier: Weil die Menschen glücklich sein wollen.

Glück: Es gibt kaum einen Begriff, mit dem sich die Philosophen aller Zeiten so schwer getan haben wie mit diesem. Das liegt daran, daß Philosophie in den Köpfen von Intellektuellen stattfindet, während Glück von allen Menschen mit dem Herzen und den Sinnen erfahren wird. Kann man sich jemanden glücklich vorstellen, der Sexualität als "den wechselseitigen Gebrauch, den ein Mensch von eines anderen Geschlechtsorganen und Vermögen macht" (Kant), definiert? Oder befriedigt uns etwa Mark Aurels stoische Glücks Vorstellung: "Sei wie das Vorgebirge, an dem sich dauernd die Wellen brechen; es selbst steht fest und zähmt die Wut des Wassers, das an ihm hochzischt. Ich soll unglücklich sein, weil mir das oder das geschah? Nein! Ich bin glücklich, obwohl mir dies geschah, denn ich bin trotz allem frei von Furcht, weder in der Gegenwart niedergeworfen, noch in Angst vor der Zukunft."

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Auch die Überzeugung von Aristoteles: "Das Glück setzt ethische Vollkommenheit voraus", erwärmt das Gemüt nicht sonderlich, ganz zu schweigen von Schopenhauers Ansicht, daß das Glück des Lebens nicht in "dessen Freuden und Genüssen", sondern in der "Abwesenheit der Leiden" liege. Geradezu griesgrämig erscheint Hegels Definition der Glückseligkeit als "die verworrene Vorstellung der Befriedigung aller Triebe". 

Und Sigmund Freud, der verwundert feststellte: "Die Menschen streben nach dem Glück, sie wollen glücklich werden und so bleiben", kam gar zu dem Schluß: "Die Absicht, daß der Mensch glücklich sei, ist im Plan der Schöpfung nicht enthalten." 

In seiner Philosophie des Glücks nennt Ludwig Marcuse den Grund für diese Verdrießlichkeit: "Aristoteles und Kant, und die ihnen folgten, verhielten sich zum Glück so kühl, weil sie sich so sehr erwärmten für die Pflicht."

 

Nun kann man natürlich die Philosophen noch jahrhundertelang darüber grübeln lassen, wie sich Pflicht und Glück miteinander vereinbaren und jeden nach seiner eigenen Fasson selig werden lassen — doch das scheint auch nicht so einfach zu sein. Bei einer Meinungsumfrage in Frankreich — in anderen Ländern dürfte das Ergebnis ebenso lauten — wurde als höchstes Glücksgut materielle Sicherheit genannt. Ein festes Gehalt zum Ersten jeden Monats als Inbegriff allen irdischen Glücks? Wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt darin um, hat Wolf Biermann einmal gesungen.

Die amerikanische Autorin Gail Sheehy wollte etwas genauer wissen, was Menschen glücklich macht. In ihrem Buch Neue Wege wagen kam sie zu dem Ergebnis:

"Die glücklichsten Frauen sind ehrgeizig und mutig, sie verfügen über Wissen, sind für neue Erfahrungen offen, spielerisch und haben Humor. Die zufriedensten Männer sind fähig zur Intimität, sie sind mutig, offen für neue Erfahrungen, körperlich fit und besitzen Führungs­qualitäten."

Nun, wahrscheinlich erscheinen diese Menschen der Autorin so glücklich, weil sie sich am erfolgreichsten den amerikanischen Erfordernissen nach Sieg und Leistung angepaßt haben. Wie würde Gail Sheehy wohl die Möglichkeiten des Glücks eines alten Spitzweg-Mönchs mit Weinkrug einschätzen – so ganz unfit und ohne Führungsqualitäten?

Die Schwierigkeit, den Begriff des Glücks am Schopf zu packen, liegt also auch darin, daß für den einen Seligkeit bedeutet, was für den anderen ein Horrortrip ist.

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Mit einem Formel-1-Wagen über den Nürburgring zu rasen oder einen Tag lang reglos beim Angeln zu sitzen, acht Stunden auf dem Sofa zu liegen und zu lesen oder ein Popkonzert mit der Lautstärke eines Schallmauerdurchbruchs zu erleben – da gehen sicherlich die Ansichten über das Glück weit auseinander.

Ist das Problem damit gelöst, daß jeder à la Friedrich dem Großen nach seiner Fasson selig wird? Selbst wenn man Glück als den Zustand definiert, in dem man ist, wenn man alles hat, was man will, oder moderner als totale "Motivationsbefriedigung": Auch das ist nur ein formaler Trick, denn zu wissen, was man wirklich will, und nicht das Falsche zu wünschen, ist ja gerade so heikel. Nebenbei scheint es das Glück nicht besonders zu lieben, wenn man es frontal zu stellen versucht: "Ja, renn nur nach dem Glück / Doch renne nicht zu sehr! / Denn alle rennen nach dem Glück / Das Glück rennt hinterher" (Brecht).

Einen Namen verbindet man ganz besonders mit dem Wort Glück: Epikur. Epikuräer zu sein bedeutet nicht, sich sein Leben lang durch Hirsebrei ins Schlaraffenland zu fressen, sondern das Glück mit Vernunft zu suchen. So schlug Epikur zum Beispiel vor: Verzichte auf ein kleineres Glück, um ein größeres zu erreichen - nicht aus masochistischer Askese, sondern als Mittel zum Zweck, aus Raffinesse. Schon die Überlegung, was das "kleinere" und was das "größere" Glück ist, kann vor dem gröbsten ›Sich-Verwünschen‹ retten. Manchmal.

Weil einige Menschen es zu allem Überfluß als Glück empfinden, andere unglücklich zu machen, scheint das Glück alles in allem eine zu ernste Sache zu sein, als daß man es dem einzelnen überlassen könnte.

Es gibt menschenfreundliche Phantasten, die wunderschöne Luftschlösser bauen und ihren besten Freunden darin ein Zimmer einräumen. Man nennt sie Träumer und findet sie rührend. Aber es gibt auch Leute, die nicht nur ihre besten Freunde sowie ihre Katze glücklich sehen wollen, sich allerdings nicht aufs paradiesische Jenseits vertrösten lassen, sondern die für alle und hier denken und wünschen. Man nennt sie Utopisten. Und das klingt schon bedeutend unfreundlicher als Phantasten.

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Annäherung an Nirgendwo  

Utopie, die 
(als unausführbar geltender Plan
ohne reale Grundlage)
Duden*

Wer herrscht, bestimmt, was Realität und was Utopie ist. Utopisch waren einmal: das Wahlrecht für Frauen, die Menschen­rechte für Farbige, das Verbot von Kinderarbeit. Realistisch ist, daß politische Gefangene gefoltert werden, Wälder sterben und Atomsprengköpfe mit der insgesamt 1,6-millionenfachen Sprengkraft der Hiroshima-Bombe existieren.

"Die Herabsetzung der Weltrüstungsausgaben um nur ein Prozent würde reichen, um 200 Millionen hungernden Kindern ausreichende Nahrung zu verschaffen." Eine Zeitungsmeldung. Eine Utopie.

Was eine Utopie ist, wissen die Herrschenden jeweils ganz genau. Sie haben die größte Propagandalüge aller Zeiten ersonnen, utopisch mit unrealistisch gleichzusetzen. Auf diese Weise kann man alles ins Reich der phantastischen Ideen verweisen, was vom eigenen Denken und Wollen abweicht.

Doch was bedeutet nun ›utopisch‹ wirklich? Es gibt so viele Definitionen dieses Wortes wie Bücher zum Thema. Nehmen wir zum Beispiel die des Soziologen Karl Mannheim in Ideologie und Utopie (1929): "Utopisch ist ein Bewußtsein, das sich mit dem es umgebenden Sein nicht in Deckung befindet." Nun behaupten die einen: "und sich auch nie befinden kann", während die anderen sagen: "noch nicht in Deckung befindet". Über dieses Wörtchen "noch" hat der marxistische Philosoph Ernst Bloch 2000 Seiten verfaßt. Der österreichische Dichter Robert Musil dachte zwanzig Jahre lang darüber nach. Ulrich, sein "Mann ohne Eigenschaften", nimmt 1913 ein Jahr Urlaub vom Leben, um über die in Teile zerfallene Wirklichkeit zu reflektieren, und entwickelt eine Philosophie der Möglichkeit, ein einziges Plädoyer für die Utopie:

 

*detopia-2009:  In meinem DDR-Duden von 1970 steht: "Utopie, die  (Wunschbild einer menschl. Gesellschaftsordnung, das nicht den objektiven Gegebenheiten entspricht; übertr für  Schwärmerei)" 

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"Utopien bedeuten ungefähr so viel wie Möglichkeiten; darin, daß eine Möglichkeit nicht Wirklichkeit ist, drückt sich nichts anderes aus, als daß die Umstände, mit denen sie gegenwärtig verflochten ist, sie daran hindern, denn andernfalls wäre sie ja nur eine Unmöglichkeit; löst man sie nun aus ihrer Bindung und gewährt ihr Entwicklung, so entsteht die Utopie."

Ein Utopist wählt also nicht die Unmöglichkeit, sondern die – seiner Meinung nach – beste aller Möglichkeiten, die nur noch nicht Wirklichkeit ist. Doch er wartet nicht demütig darauf, daß das Gnadenreich von oben auf ihn herabbricht: Er erschafft selber etwas. Der Utopist ist ein Mittler zwischen Phantasie und äußerer Realität. Anders als der Tag- oder Nachtträumer reißt er keine unüberbrückbare Kluft zur Realität auf, sondern will die Realität tatsächlich überwinden, das heißt wandeln. Damit ist er der eigentliche Realist, denn Realität ist der permanente Wandel. "Selber Fiktionen, sind sie [die Utopien] einzig imstande, das Fiktive in der bestehenden Gesellschaft zu enthüllen" (Lars Gustafsson).

Doch ist die Utopie nicht nur von der Illusion zu unterscheiden; auch die Futurologie, die Wissenschaft von der Zukunft, ist nur entfernt verwandt mit ihr. Der Sinn einer Utopie ist es nicht, das Richtige vorauszusagen, sondern sie ist ein Denkspiel mit verschiedenen Möglichkeiten, das die Gegenwart in Frage stellt. Das Morgen (= die Zukunft) ist im utopischen Denken mehr symbolisch zu verstehen als konkret zeitlich. Utopie ist nicht Reform, Entwicklung, Plan, sondern Wendung, Umschlag, Bruch und Insel. Nur wenn etwas riskiert wird, kann etwas gewonnen werden. 

In seinem Werk Ursprung und Gegenwart, in dem der Schweizer Kulturphilosoph Jean Gebser 1949-53 die Fundamente eines neuen Bewußtseins darlegte, heißt es denn auch: "Die behagliche Vorstellung von einer fortschreitenden, kontinuierlichen Entwicklung ist antiquiert. Kein wirklich entscheidender Prozeß, der also mehr ist als ein bloßes hier- und dorthin tastendes, fast spielerisches Geschehen mit seinen Vor- und Rückläufigkeiten, verläuft kontinuierlich, sondern stets quantenmäßig, also in Sprüngen."

Letzteres hat der Utopie den Vorwurf der Ungeschichtlichkeit eingebracht. Geschichtlich ist das, was die Historiker dafür erklären – gewöhnlich alles, was sich mit langer Schleimspur gemächlich in gerader Linie vorwärtsbewegt.

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Ideen haben so gedacht zu werden, daß sie für die jeweils bestehende Gesellschaftsordnung nützlich sind. Sind sie es nicht, nennt man sie absurd, ungeschichtlich, utopisch.

Keine Utopie ist von demjenigen zu trennen, der sie denkt, und jeder steht in der Geschichte. Utopien sind, bei allen Sprüngen, nicht objektiv, ewig, allgemeingültig, einfach aus dem Grund, weil nichts, aber auch gar nichts in diesem Leben objektiv, ewig und allgemeingültig ist.

Utopien sind zugleich losgelöst von der historischen Wirklichkeit und bezogen auf sie. Jede Utopie ist engagiert, manchmal intuitiv ersehnend, manchmal kämpferisch handelnd. Ein Utopist macht sich nicht nur Gedanken darüber, wie die Welt ist – das tut der analysierende Gesellschaftskritiker –, sondern er denkt sich aus, wie die Welt sein könnte und sollte, er wagt eine Synthese. Dieses fast spielerische Zusammensetzen bringt eine weitere typische Eigenschaft der Utopie hervor: Sie ist meist nicht nur Theorie, abstrakter Gedanke - sie ist auch ein Bild, etwas sinnlich Geschautes. Sozialutopien sind daher keine Staatstheorien, sondern Staatsromane. Der Wille zur Gestaltung macht sie zu künstlerischen Produkten - über deren ästhetische Qualität man natürlich wieder streiten kann. Der Utopist sucht neben der Wahrheit auch die Lust. Er möchte die Vernunft mit dem Glück verbinden, ist der anspruchsvollste, unbescheidenste, begehrlichste, sehnsüchtigste und mutigste Mensch der Welt, weil er sich nicht damit abfindet, daß Wünsche machtlos sind.

Zu Zeiten, als man in die Institution Staat noch Vertrauen hatte, entstanden die sogenannten Staatsromane, die ein mehr oder minder vollständiges Modell einer besseren Gesellschaftsordnung ausmalen. Sie sind eine wesentliche Manifestation utopischen Denkens, schöpfen es aber keineswegs aus. Die wichtigsten seien, als wesentlicher historisch-philosophischer Bodensatz, in Stichworten vorgestellt:

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Platon: "Der Staat" ("Politeia"), geschrieben im 4. Jh. v. Chr.
Ein von Philosophen regierter Staat, der durch strenges hierarchisches Ständewesen gekennzeichnet ist. Einziges Ziel: diesem Staat möglichst gut zu dienen. Gemeineigentum und "Weibergemeinschaft". Frauen erhalten zwar dieselbe gleich hochqualifizierte Erziehung wie die Männer, sind aber im übrigen keineswegs gleichberechtigt.
Eine Utopie der Ordnung.

Thomas Morus: "Utopia" ("De optimo rei publicae statu, deque nova insula Utopia"), Erstausgabe 1516
Das Staatsideal des englischen Lordkanzlers, der 1535 wegen Hochverrats hingerichtet wurde, gab der literarischen Gattung den Namen. Insofern sind alle Utopien im Ursprung ›positiv‹. Utopia kommt von griechisch "ou topos": kein Ort, nirgends. Der Reisebericht stellt die Insel Utopia vor. Ihre Kennzeichen: Abschaffung des Privateigentums und der Geldwirtschaft, Arbeitszeitbegrenzung, Gleichwertigkeit von Kopf- und Handarbeit, eine harmonische Einbettung des einzelnen ins Kollektiv. Gleiche Ausbildung für Frauen und Männer, aber eine patriarchalische Familienstruktur.
Eine Utopie der Liberalität.

Tommaso Campanella: "Der Sonnenstaat" ("La città del sole"), Erstausgabe 1623
Der italienische Dominikanermönch beschreibt eine theokratische Monarchie, in der Gehorsam die oberste Tugend ist. Auf Taprobane (Ceylon) gibt es Eigentumslosigkeit und gleiche Bildungschancen für alle. Die Ehe besteht zum Zweck der besten Zuchtwahl. Die Astrologie, mit der Anbetung der Sonne, ist das geistige Zentrum dieses Staates, der den einzelnen unerbittlich "kosmischen Gesetzmäßigkeiten" unterwirft.
Eine Utopie der totalen Ordnung.

Francis Bacon: "Neu-Atlantis" ("Nova Atlantis"), Erstausgabe 1627
Der englische Politiker und Wissenschaftler entwirft mit seiner Insel Bensalem ein Staatswesen, dessen ganzes Streben der Weiterentwicklung von Wissenschaft und Technik gilt. Große Aufmerksamkeit kommt der Produktion von Konsumgütern zu. Patriarchalische Familienstruktur.
Eine Utopie des Glücks durch wissenschaftlichen Fortschritt.

Johann Gottfried Schnabel: "Die Insel Felsenburg", Erstausgabe 1731-43
Der einzige populär gewordene deutsche Staatsroman. Eine soziale Gemeinschaft ohne Privateigentum und Geld auf der Grundlage des Pietismus, die sich nach einem Schiffbruch bildet. Kein Exil (wie die Robinsonaden), sondern ein Asyl. Agrarisch, streng patriarchalische Familienstruktur.
Eine Aussteiger-Utopie.

Louis-Sébastien Mercier: "Das Jahr zweitausendvierhundertvierzig" ("L'An deux mille quatre cent quarante"), Erstausgabe 1771
Eine bedeutsame Wende in der Geschichte der Utopien: von der Orts- zur Zeitutopie. Das Frankreich des Jahres 2440 hat eine konstitutionelle Monarchie. Das Feudalsystem ist abgeschafft, die Reichen sind entmachtet. Die Ideale der Aufklärung wurden verwirklicht. Es herrschen Vernunft, Toleranz und eine ›mustergültige‹ Ordnung. Frauen sind – in Maßen – intellektuell gebildet.
Eine Utopie des Zukunftsoptimismus.

Etienne Cabet: "Die Reise nach Ikarien" ("Voyage en Icarie"), Erstausgabe 1840
Ein kommunistischer Staat mit sozialistischer Planwirtschaft, in dem es weder Privateigentum und Geldverkehr noch Standesunterschiede gibt. Ein Industriestaat, der Zentralisierung und Rationalisierung anstrebt. Ehe mit rigider Sexualmoral. Frauen bekommen die gleiche Ausbildung wie Männer, haben aber kein Wahlrecht.
Eine Utopie der sozialen Gleichheit.

Edward Bellamy: "Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf 1887" ("Looking Backward: 2000-1887"), Erstausgabe 1888
Der amerikanische Anwalt und Journalist entwirft im Boston der Zukunft eine Gesellschaft der staatlichen Planwirtschaft, ohne Autos, aber hochindustrialisiert. Gerechte Entlohnung und Wohlstand für alle. Die Frauen sind in das Erwerbsleben eingegliedert.
Die Utopie einer humanen Industrienation.

William Morris: "Kunde von Nirgendwo" ("News from Nowhere"), Erstausgabe 1890
Der Vorläufer der Jugendstilbewegung malt ein London der Zukunft aus, in dem Privateigentum abgeschafft ist, aber das Kunsthandwerk sehr gepflegt wird. Vorindustrielle Produktionsweisen, ökologisches Bewußtsein.
Eine Utopie der Ästhetik und Natürlichkeit.

B.F. Skinner: "Futurum Zwei" ("Walden two"), Erstausgabe 1948
Der amerikanische Behaviorist knüpft an Thoreaus Robinsonade "Walden" (1854) an und entwirft eine "aggressionsfreie Gesellschaft". Auf der Grundlage der Verhaltenspsychologie, mit der man das Verhalten von Menschen durch Belohnung des erwünschten Verhaltens gewaltfrei steuern kann, zeichnet er ein Gemeinwesen, in dem es keine Differenz mehr zwischen den Wünschen des einzelnen und dem Wohl der Allgemeinheit gibt. Frauen und Männer sind vollkommen gleichberechtigt.
Eine Utopie der Machbarkeit des guten Menschen.

Ernest Callenbach: "Ökotopia" ("Ecotopia"), Erstausgabe 1975
Die amerikanischen Weststaaten haben sich - mit einer Frau als Oberhaupt - zu einem Staat zusammengeschlossen, der Alternativen zur Umweltzerstörung der Industrienationen entwickelt. Sonne und Meer werden als Energiequellen erschlossen. In Harmonie mit der Natur zu leben, ist oberstes Gebot.
Eine Utopie der ökologischen Intaktheit.

Rubén Ardila: "Futurum Drei" ("Walden tres"), Erstausgabe 1979
Der kolumbianische Psychologe führt Skinners Futurum Zwei weiter, indem er dessen verhaltenspsychologische Methoden in einem heutigen Staat der Dritten Welt anwendet.
Eine Utopie der Machbarkeit des guten Menschen.

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Die Staatsromane markieren wesentliche Neuorientierungen in der Geschichte. So stehen (mit Bezug auf die Antike) Thomas Morus, Tommaso Campanella und Francis Bacon für die humanistische Loslösung aus einer gottgegebenen und feudalen Ordnung. Der Staat ist kein Gottesstaat mehr, sondern ein souveränes, auch an Machtausübung interessiertes Gebilde. Der Mensch der Renaissance erwacht zum Ich-Bewußtsein.

Schnabel und Mercier sind Kinder der Aufklärung, die Kant als "Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit" definiert. Das Bürgertum entwickelt Selbstbewußtsein und Macht mit den Grundwerten Freiheit, Gleichheit, Individualismus.

Besonders reich an Utopien ist das 19. Jahrhundert (Etienne Cabet, Edward Bellamy, William Morris). Die Industrialisierung, der Siegeszug von Wissenschaft und Technik erzeugen einen euphorischen Fortschrittsglauben. Am Ende des Jahrhunderts flaut der optimistische Glaube an eine immer strahlendere Zukunft des Menschen allerdings ab. Einigen dämmert es, daß doch nicht alles automatisch zum Besten wird. H.G. Wells bringt diesen fürchterlichen Verdacht 1895 in dem Roman Die Zeitmaschine zum Ausdruck. Sein Zeitreisender, der sich mit einer Maschine in der vierten Dimension Zeit bewegen kann, landet im Jahre 80701 in einer scheinbar

"... paradiesischen Idylle. Zarte elfenhafte Wesen, die Eloi, leben dort. Unverständlich ist dem Zeitreisenden allerdings, daß sie sich bei einbrechender Dunkelheit voller Angst verkriechen. Bald wird der Grund offenbar: Die Morlocks, unterirdisch hausende primitive Fleischfresser, halten sich die Eloi als Zuchtvieh."

Wells: "Vor Weltzeitaltern, vor Tausenden von Generationen, hatte der Mensch seinen Bruder aus dem Wohlleben und dem Sonnenschein verdrängt; jetzt kehrte dieser Bruder zurück – aber verwandelt!" Nun bricht die Zeit der negativen Utopien, der Anti-Utopien an, die das 20. Jahrhundert kennzeichnet – das Jahrhundert von Stalin und Hitler, der Atombombe und der Psychopharmaka. Hier einige herausragende Romane, die von tiefem Mißtrauen gegen den Staat geprägt sind, was für frühere Utopisten undenkbar war:

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Jewgeni Samjatin: "Wir" ("My"), Erstausgabe 1924
Das Leben in einem Staat, dessen Bürger nur noch Nummern sind. Persönliche Freiheit ist abgeschafft, Glück ist völlige Unterwerfung. Sex gibt es gegen rosarote Gutscheine, die im Sexualbüro erhältlich sind. Individualität ist eine Krankheit, die mit Röntgenstrahlen ›geheilt‹ wird.

Aldous Huxley: "Schöne neue Welt" ("Brave new World"), Erstausgabe 1932
Eine total konditionierte und manipulierte Wohlstandsgesellschaft, in der Menschen nach Maß in der Retorte gezüchtet werden. Gewalt von außen ist nicht mehr notwendig. Jeder ist auf chemischem Weg so ›glücklich‹ gemacht worden, daß Freiheit und Kunst abgeschafft werden konnten.

George Orwell: "1984" ("Nineteen Eighty Four"), Erstausgabe 1949
Ein permanent kriegführender, von einer Einheitspartei regierter Staat, in dem jeder vom "Großen Bruder" überwacht wird. Sex dient nur der Fortpflanzung, eine neue Sprache soll jede Art von geistiger Rebellion ausschalten.

Ray Bradbury "Fahrenheit 451", Erstausgabe 1953
Ein totalitärer Zukunftsstaat, in dem das Lesen von Büchern verboten ist, da die freie geistige Entfaltung einen nicht kontrollierbaren Risikofaktor bildet. Die Feuerwehr ist dazu da, Bücher zu verbrennen.

Arno Schmidt: "Die Gelehrtenrepublik", Erstausgabe 1957
Im Jahre 2008, nach einem Atomkrieg, haben sich 5000 Künstler und Wissenschaftler auf einer künstlichen Insel im Pazifik zusammengeschlossen. Die Kolonie der Genies ist in eine amerikanische und eine russische Hälfte geteilt. Es herrscht ein erbitterter Geheimkrieg, in dem sich die Insel schließlich selbst zerstört.

Anthony Burgess: "Uhrwerk Orange" ("A Clockwork Orange"), Erstausgabe 1962
Im London der Zukunft wird ein Gewalttäter durch Gehirnwäsche zu einem mechanisch reagierenden Instrument gemacht, unfähig, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden.

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Doch: Keine Anti-Utopie ohne Außenseiter. Das ist natürlich ein literarischer Spannungstrick, doch verkörpern die Protagonisten der erwähnten Romane, die Nummer D-503, Bernard Marx und Helmholtz Watson, Winston Smith und Julia, Guy Montag und Clarissa, Charles Henry Winer und sogar Alex, sieht man es psychologisch, den Wunsch des Autors, es könne doch noch anders kommen als befürchtet. Auch negative Utopien sind Utopien. Die Beschreibung einer Angst kann nur vor dem Hintergrund einer Hoffnung entstehen. Zynismus ist das Gegenteil von Utopie, nicht Anti-Utopie.

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