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1  Der Ansatz

Amery-1994

Diese Rede ist hart!
Wer kann sie hören?

Johannes 6, 60

9-18

Diese Arbeit hat zwei Anlässe: den Kalender — und die Pflicht, unser Denken ein, zwei Schritte weiterzubringen. Der Kalender nähert sich dem Ende eines Jahrtausends. Dies wurde durch einen frommen Mann festgesetzt, der das Geburtsjahr des Jesus von Nazaret auf das Jahr 753 nach der Gründung Roms berechnete (die Rechnung war etwas ungenau). 

Wäre unsere Kultur noch christlich, stünde dem vierstelligen Datum höchste Bedeutung zu; unsere letzten Jahrhunderte haben dafür gesorgt, daß sich das geändert hat. Immerhin haben wir auch dafür gesorgt, daß Chinesen, Buschmänner, Polynesier an einen Kalender gekettet sind, der mit ihrer Geschichte nur wenig (und meist Unerfreuliches) zu tun hat. Das ist wohl schon die erste knappe Botschaft: knapp und banal, aber recht aufschlußreich.

Vor tausend Jahren, als unsere kleine abendländische Welt noch frömmer war, legte sich das Datum wie eine schwarze Wolke über die Gemüter: Erfüllte sich mit dem ersten Millenium nicht die Weissagung vom Endgericht, das man längst nicht mehr, wie die ersten Christen, ersehnte, aber doch noch als die End-Ursache, die causa finalis allen menschlichen Lebens anerkannte?

Nun, das Gericht blieb aus. Dafür scheint es, aufgrund neuerer und ganz anderer Daten, nach dem zweiten Jahrtausend ins Haus zu stehen — wir nennen das die Gattungsfrage. Sie lautet simpel und grausam: Geht's nicht doch zu Ende mit der Menschheit?

Wer älter als vierzig Jahre ist, hat erlebt, wie sich die schwarze Wand dieser Frage höher und höher schiebt, wie sie das muntere Fortschrittsblau verschlingt. Dies ist wohl das eigentliche Jahrhundert­ereignis, im Geschichts­grunde viel wichtiger als der Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus.

Es begann damals, in den sechziger Jahren, mit dem Klang von Jericho-Posaunen, mit dem Aufgang vieler neuer Namen und Ideen. P.Ehrlich, R.Carson, E.Schumacher, E.Goldsmith, I.Illich, D.Meadows, Club-of-Rome, G.Bateson und H.Jonas. Dazu die stürmische Entwicklung der Lebens­wissen­schaften: genaue Lehrer, lesbare Propheten, zornige und abgeklärte. 

Kurz: Das Jahrhundert, bisher von Kirchen- und Gegenkirchenvätern des 19. Jahrhunderts mehr schlecht als recht genährt, schien endlich zu seiner eigenen großen Theorie erwacht zu sein. Umfassende soziale Bewegung folgte. Und eine Zeitlang, in der Siebzigerdekade, hatten die Verwalter des Selbstmord­programms, die unverantwortlichen Verantworter in den teuren Chefetagen, tatsächlich so etwas wie Angst davor.

Das ist vorbei. 
Woran liegt's?

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An der Natur der Botschaft selbst wohl nicht. Sie ist unerbittlich und gewaltig — um Welten gewaltiger als etwa die der Herren Marx & Engels 1848. 

Und wenn der Gattung ein Funke Einsicht, ein Quentchen Logik gegeben wäre, müßte die Antwort leidenschaftlicher ausfallen als auf, sagen wir, einige Zweifel an der Zweckmäßigkeit der gegenwärtigen Besitz- und Produktions­verhältnisse. 

Warum ging dann nie — auch damals in den Siebzigern nicht — von unserer Botschaft jene knochen­erweichende Strahlung, jener Hauch des Entsetzens aus, den das <Kommunistische Manifest> über ein Jahrhundert lang aussandte?

Nun, es mag sein, daß den meisten Besitzverhältnisse wichtiger sind als das Überleben der Menschheit. Dennoch: Es muß Gründe geben, 

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Und es muß vor allem Gründe dafür geben, daß die famose Wende von 1980 bis 1990 das Bewußtsein der Bewußtseins­befingerer zuerst in den stumpf­sinnigsten Konsumkarneval und schließlich in die National­moräste des Jahrhundert­beginns zurückschnipste. 

Die Botschaft, soweit noch beredet, ist zu fatalistischen Partystichworten verkommen: der Mensch als Selbstmordversuch der Natur — als Irrläufer der Evolution — vom Prinzip Verantwortung zum Prinzip Akzeptanz — das gnostische Nein zur bösen Schöpfung — und das Büffet ist auch schon besser gewesen ...

Also nochmal: Woran liegt's?

Es liegt nahe, an das übliche Kassandra-Schicksal zu denken; an den Grimm der Verlierer gegen den Boten, der den schlechten Ausgang der Schlacht oder gar des ganzen Krieges mitteilt. 

Aber es ist zu befürchten, daß die Schwierigkeiten tiefer liegen; daß nämlich die Sprache des Boten überhaupt nicht verstanden wird. 

"Die Grünen haben völlig recht — es kann sie nur keiner hören." Der gute Satz stammt von dem Sozialwissenschaftler Niklas Luhmann.

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Die neue Botschaft war zunächst nur als etwas ganz Allgemeines, als eine Neufassung alter Prophetien vom Jüngsten Gericht zu begreifen, die schwarzen ledernen Flügel des Verhängnisses überschatten alles, und unter allgemein Betroffenen kann Todfeindschaft nicht oder kaum entstehen. Man versucht nicht hinaufzusehen — man hielt und hält sich einfach an die alten Schlüsselwörter und Streitgegenstände: Rechts gegen Links, Kapital gegen Arbeit, Produktion und Konsum, Toleranz gegen Fundament­alismus.....

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Und die Grünen Aktiven? 

Nun, zunächst war klar, daß sie gar nicht recht haben können, weil sie unübliche Haartrachten und unübliche Kleider tragen und sich als Minister in Turn­schuhen vereidigen lassen und nichts von Produktion verstehen. 

Anderer­seits können sie noch weniger recht haben, weil sie im Durchschnitt bürgerlich sind, weil sie kaum weniger Auto­kilometer pro Jahr zurücklegen als die Normalmenschen. 

Ja, nach einem gewissen Anfangsschreck sah man, daß sie tatsächlich Normal­menschen sind; daß sie die üblichen Denk- und Tatweisen in den Nerven­bahnen haben, daß sie sich nur allzu gern in die realexistierenden Beziehungsstränge einklinken, daß sie zunehmend aufbauend und erbaulich wirken wollen — und so kommt's zum treuen Einmarsch ins laufende Programm; kommt's zur fleißigen Kärrnerarbeit in Kreisen und Gemeinden (die hier nicht schlecht­gemacht werden soll, um Gottes willen!), kommt's zum Gerangel um Biotope und Grenzwerte und Müllent­sorgungs­methoden; kommt's leider auch zur albernsten, aber so beruhigenden Formel vom "ökologischen Umbau der Industrie­gesellschaft".

Zudem fühlen sie sich bedrängt, die Grünen, durch so viele andere Verwundete der Gesellschaft, die es zu betreuen gilt, weil sie das verfaulende Unions­christen­tum und der verkommene Liberalismus an der politischen Findelpforte abgeliefert haben: Menschen-, Frauen-, Minderheits-, Flüchtlings­rechte...

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Und so blieb und bleibt's beim ständigen und folgenlosen Gruseln unter der schwarzen Wolke, bleibt's beim vertrauten Betrieb, bleibt es bei der still­schweigenden Mehrheits­überzeugung, daß man die alten Streitriten und Gesellschaftsspiele einfach weiter­spielen muß, weil man sonst ohnehin nichts mehr hat. 

Aber alle diese Riten und Spiele sind schon entkernt, durch den steinernen Blick der Gattungsfrage jeder wirklichen Lebenskraft beraubt, während die Lava der Panik unter immer dünnerer Erddecke kocht und an immer mehr Stellen ausbricht. Das betrifft die Politik, das betrifft die Ökonomie, das betrifft die Glas­perlenspiele der Intelligenz und die Botschaften der Kirchen — Primitiven- und Primatentheater im allerwörtlichsten Sinne, Stellproben kultureller und biologischer Standardszenen, die sich nicht mehr zu einem noch sinnvollen Drama fügen wollen.

Dabei gilt es, uns selbst nicht zu entschuldigen, uns mehr oder weniger geschätzte, mehr oder weniger verschämte Vordenker. Genau am Grenzstrich zur wirklichen Gattungslogik haben wir haltgemacht; ob Fundi oder Realo, ob shallow* oder deep, ob in philosophischen Kuckuckuswolken oder in dampfender Heimatscholle siedelnd.

Aber so darf man leider nicht aufhören — nicht mit dem Denken. Jedenfalls nicht, wenn man Partei ist; das heißt, wenn man die Partei des Lebens ergreift (und zwar mit einem vollen Ja zu seiner Todesdurch­wachsen­heit). Dann haben wir Abstand zu nehmen von den Ablaßmärkten der Politik, von den Panflöten­quartetten des New-Age-Konzerts. 

*  (d-2010:)  flach, seicht;  fig oberflächlich 

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Es genügt auch nicht, ein paar feinsinnige Räusperer in die Lügen der Macher einzu­flechten — und schon gar nicht kann es gestattet sein, in die philo­sophischen Wonnen des Weltuntergangs hinabzurodeln, wo dann eh alles wurst ist.

Vielmehr ist der Schmerz der Genauigkeit fällig, und den gilt's uns selber anzutun. Es gilt, genau hinzusehen auf Leben und Tod, ohne Abstriche, Auslassungen und Verschleierungen, und noch im schrecklichsten Schein dieser Jahrtausend­wende den Steg in die Entscheidung (und das heißt in eine Wahlfreiheit) wahrzunehmen.

Das setzt Wertwahl voraus. 

Es ist ja längst nicht mehr selbstverständlich, Sorgen an die Zukunft zu wenden (vermutlich sind alle, die das tun, bereits eine Minderheit). Wir halten es jedoch nicht nur für richtig, sondern für bereichernd. Wir halten es für bereichernd, ins Dunkel der Zukunft zu denken, weil aus ihr Widerschein auf die Pflichten der Gegenwart und die Irrwege der Vergangenheit fällt.

Ist dies entschieden, ergeben sich weitere Voraussetzungen fast von selbst. 

Etwa hat sich der Wille, der Menschheit als Gattung die irdische Heimat zu erhalten, der Tatsache zu stellen, daß dies auf der Grundlage der ausschließlichen oder auch nur vorrangigen Wohlfahrt des Menschen nicht möglich ist; es widerspräche dies den wichtigsten Einsichten der Lebens­wissen­schaften.

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Damit ist von vornherein und als Ausgangspunkt die philosophische Haltung gegeben, die man deep ecology nennt. Und wir werden sehen, daß sich der Mensch im Letzten nur dadurch von allen anderen Arten unterscheidet, daß er dieser Einsicht fähig ist. Daraus ergibt sich der Satz:

Der Mensch ist nur Krone der Schöpfung, weil er weiß, daß er sie nicht ist.

Sicherlich verschließen sich hartnäckige Fundamentalisten jeder Färbung (einschließlich der weltlich-wissenschaftlichen) dieser Einsicht grundsätzlich; sie werden es vorziehen, unseren Gemein­schafts­selbst­mord weiterhin vorzubereiten — in mehr oder weniger mühsamer Bewußtlosigkeit. Und man kann ihn schon dadurch vorbereiten, daß man ihn nach Philosophenart hinnimmt.*

Solche Hinnahme kann von edlen, etwa stoischen Gefühlen begleitet sein; sie hat nur den Schönheits­fehler, daß sie durch Unterlassung des (vielleicht noch) Möglichen kommende Geschlechter, vielleicht schon unsere Kinder und Enkel, zu langwierigem, qualvollem Sterben verurteilt. Denn: Im Stil des römischen arbiter elegantiarum, des Stutzers, der sich zwischen Falernerkrug und Beischläferin in der Badewanne die Pulsadern öffnet, wird dergleichen Hinnahme wohl nicht zu bewerkstelligen sein; vielmehr sagt sie, ob sie es laut sagt oder nicht, ein tausendfaches Bosnien und ein hundertfaches Tschernobyl an.

* (deto-2018:) Das ist fraglich, finde ich. Es gibt nur wenige Philosophen. Und das Volk (Masse) kümmert sich nicht um sie, nimmt sie nicht ernst, kennt sie nicht. Gut: nur Philosophen'art'.... aber: Das Volk sagt ja auch: "Es geht eh' alles den Bach runter." - Philosophen sind auch nur Menschen. Amaery kann hier (1994) Gruhl, Horstmann und Fuller gemeint haben, denn derer Endzeitbücher gab es schon. 

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Doch selbst wenn solche qualvolle Düsternis unter keinen Umständen zu vermeiden wäre; wenn unser Gesamt­unverstand und das machtvolle knirschende Getriebe unserer Megamaschine wirklich dieses Welthaus zertrümmerte; wenn, mit gängigen Worten gesprochen, ›unabsehbare‹ Folgen und ›unvorstellbare‹ Not über uns hereinbrächen: Es würde uns noch lange nicht der vorliegenden Aufgabe entheben.

›Unvorstellbar‹ und ›unabsehbar‹ bedeuten zunächst genau das, was sie sagen: daß wir nämlich gewisse Zukünfte nicht absehen und uns nicht vorstellen können oder wollen.

Und das ist doch ein recht unzuverlässiger Maßstab. Was ist und war für die Menschheit nicht alles unvorstellbar? Unsere mittelalterlichen Vorfahren hätten unsere Sorte von Heidentum unvorstellbar gefunden. 

Goethe hätte seine Vorstellungskraft verlassen, wenn er versucht hätte, aus seiner Italienreise auf den Tourismusbetrieb von heute zu schließen. 

Jemanden wie Eichendorff hätte das Sterben der deutschen Wälder wohl zum Selbstmord veranlaßt.

Und Karl Kraus hat die <Letzten Tage der Menschheit> diagnostiziert, ehe es Adolf Hitler und die Atombombe gab.

Dennoch wird gelebt. Dennoch suchen wir nach Lebenssinn, und dennoch können wir von dieser Suche nicht zurücktreten. 

Keine Zukunfts­weissagung, kein Rollenbuch des Schlimmstfalles vermag unwider­leglich festzustellen, daß alle Steine des großen Mensch­heitsspiels eingesammelt sind und nichts, wahrhaftig nichts mehr geht. Niemand kann wissen, wann und wie seine Anstrengungen um die Wahrheit und Klarheit einmal gefordert werden.

Als im 4. und 5. Jahrhundert die Kirchenväter schrieben, sahen sie das Latein der Welt so ziemlich am Ende — wenigstens was das Römische Reich, einen Jahrtausendbau, betraf. Keiner von ihnen konnte voraussehen, welch wundersame Altarnischen ihm romanische, gotische, byzantinische, barocke Kirchen anbieten würden. ... Ergo (und ohne uns mit den Kirchenvätern vergleichen zu wollen): 

Es ist für uns schlechterdings nicht voraussehbar, welcher Zukunft wir den Schmerz der Genauigkeit schulden. Denn es ist wiederum unvorstellbar, wie die Menschen, die unsere Genauigkeit benötigen könnten, unsere Jahrtausendkrise durchlebt und überstanden haben werden. 

Wenn es auch nur die geringste Möglichkeit gibt, daß unser geringster Gedanke zu solchem Überleben beiträgt, ist der Ausweg der Resignation untersagt — selbst bei edelsten Begleit­gefühlen. Also auf — und über den Grenzstrich!*

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*detopia-2014:  Ich bin heute der Meinung, wer aufgeben will, der soll das dürfen, weil: "Wir dringen nicht durch." - durch die kapitalistischen Medien hindurch in die Köpfe.
   Das ist 20 Jahre später, nach diesem Buch, klarer.  Die Elektronisierung hat die Medien vervielfacht.
   Und selbst wenn doch: Könnte man dann das Volk zum Überleben überreden? Wo doch sowenig versprochen werden kann....

 

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Die Botschaft des Jahrtausends