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Mumford-1970
Die Räder des Fortschritts (561) Evolution und Rückentwicklung (566) Die Rolle der Utopien (575)
Vorfabrizierte Utopien (578) Bellamys rückwärtsgewandter Traum (581) Von der Utopie zur Kakotopie (586) Schöne neue Welt (591)
Die Räder des Fortschritts
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Hinter den wissenschaftlichen Entdeckungen und Erfindungen, die vom sechzehnten Jahrhundert an rasch zunahmen, ist der ständige Einfluß des kosmischen und mechanischen Weltbildes, das sie begleitete, zu erkennen. Waren die technischen Errungenschaften auch neu, so hatte doch die ihnen zugrundeliegende Geisteshaltung in schattenhafter Form schon seit dem Pyramidenzeitalter existiert und nur auf die Wiedergeburt des Sonnengottes gewartet, um wirksam zu werden.
»Das vorherrschende Gefühl in der Arbeit der Frühzeit«, sagt Flinders Petrie über die Ägypter, »ist Rivalität mit der Natur«; und dieses Gefühl der Rivalität, der Wunsch, die Natur zu besiegen und alle ihre Erscheinungsformen zu kontrollieren, fast wortwörtlich die Oberhand über sie zu gewinnen, ist eines der charakteristischen Merkmale des modernen Menschen.
In dieser Hinsicht könnte Petrarcas berühmte Ersteigung des Mont Ventoux zu keinem anderen Zweck als um des Aufstiegs willen – den Raum zu bezwingen, sich über die Erde zu erheben – als Ankündigung dieses neuen Zeitalters angesehen werden. Dieses Streben hat nun im Mondspaziergang [1969] seinen Gipfelpunkt erreicht.
Im achtzehnten Jahrhundert begann eine subtile Umwertung der Werte, in dem Maße, als die Technik immer größeres Gewicht erhielt. Während es der Zweck der Technik war, die Lage des Menschen zu verbessern, wurde das Ziel des Menschen zunehmend auf die Verbesserung der Technologie eingeengt. Mechanischer Fortschritt und menschlicher Fortschritt wurden mehr und mehr gleichgesetzt; und für beide gab es theoretisch keine Grenze.
Um zu begreifen, wie es kam, daß die Idee des technischen Fortschritts im neunzehnten Jahrhundert allgemein als quasi religiöser Glaube akzeptiert wurde, muß man ihre Geschichte untersuchen, die erstaunlich kurz ist.
In jeder Hochkultur gab es Perioden, in denen technische Fortschritte deutlich zu erkennen waren: etwa als Bronzewerkzeuge und -waffen durch eiserne ersetzt wurden oder als man in Griechenland von den groben, hölzernen Tempeln des siebenten Jahrhunderts zu den klassischen Marmorbauten des fünften Jahrhunderts überging, was durch hervorragende technische Fertigkeit im Schneiden, Transportieren und Aufstellen riesiger Steinblöcke ermöglicht wurde.
Doch waren diese Errungenschaften auch eindrucksvoll genug, um zur Nachahmung anzuregen, so erweckten sie durchaus nicht das Gefühl, daß es ohne sie nicht gehe, und kündigten auch keine Fortschritte auf anderen Gebieten an. Seltsamerweise neigten jene, die menschliche Vollkommenheit anstrebten, immer noch dazu, sie in einem früheren Zeitalter zu suchen: Sie wollten die verlorengegangene Einfachheit wiedererlangen, die verdorbene Menschlichkeit wiederherstellen. Selbst das jüdische Volk, das Sinn für seine historische Mission hatte, fand es leichter, zurück zu Moses als vorwärts zu einem neuen Messias zu gehen.
Der früheste Fortschrittsgedanke war vielleicht in der christlichen Vorstellung von der Selbstvervollkommnung zum Zwecke der Heiligung verborgen; und das ideale Ziel war zwar nicht Rückkehr ins Goldene Zeitalter, aber eine ebenso statische Zukunft im Himmel — eine Zukunft, die nicht der gesamten Gemeinschaft bestimmt war, denn für die Bösen war ein langer, qualvoller Aufenthalt in der Hölle vorgesehen. Die Fortschrittsidee wurzelte, wie Tuveson nachgewiesen hat, auch in dem Glauben an ein Tausendjähriges Reich, das nicht als ein Himmel im Jenseits, sondern als ein Himmel auf Erden gedacht war.
Dieser Gedanke wurde schon 1699 von John Edwards, einem orthodoxen Theologen, formuliert. Das Interessante an seinen Ausführungen ist, daß er, im Gegensatz zu den früheren Wiedertäufern, die ebenfalls von einem Tausendjährigen Reich träumten und es sogar in der Art der Beatniks zu verwirklichen suchten, meinte, den Fortschritten in der Natur- und der mechanischen Philosophie würden ebensolche Fortschritte in der Gottesgelehrsamkeit entsprechen, so daß die physikalische und die menschliche Natur gleichzeitig erneuert würden. Ergebnis:
»Die Virtuosi werden die Naturphilosophie verbessern, der Boden wird seine ursprüngliche Fruchtbarkeit wiedergewinnen, das Leben wird müheloser sein; die Erben der utopischen Erde werden nicht die auferstandenen Heiligen sein, sondern einfach die Nachwelt.«
Es wäre schwierig, irgendwo einen einzelnen Satz zu finden, der so viele Kerngedanken des Fortschritts umfaßt: Wissenschaft, Fachkenntnis, Lebenserleichterung, Hebung der Moral, Utopie, Zukunft. Kurz, der Himmel sollte endlich auf die Erde heruntergeholt werden, und die mechanische Philosophie sollte es bewirken. Wenige Generationen später wurde die Fortschrittsidee von Turgot und Edward Gibbon in ihrer klarsten Form präsentiert.
Turgot, Staatsminister unter Ludwig XVI. und ein ungewöhnlich ausgeglichener Geist, betrachtete den Fortschritt nicht als ein bloßes Nebenprodukt der Technologie, sondern als Werk des menschlichen Genius. Sosehr er die Wissenschaft bewunderte und eine Zeit voraussah, da es möglich sein würde, alle Wahrheiten in abstrakter, mathematischer Form auszudrücken, verband er doch die Möglichkeit des Fortschritts eher mit einer angeborenen menschlichen Tendenz, zu erneuern, Neues zu schaffen, im Gegensatz zu der gleichermaßen erkennbaren Tendenz, sich gegen Neuerungen und Reformen zu wehren und am Gewohnten festzuhalten.
wikipedia Flinders Petrie *1853 bei London wikipedia Francesco Petrarca *1304 in Mittelitalien wikipedia Mont Ventoux
en.wikipedia John Edwards *1637 bei London wikipedia Jacques Turgot *1727 in Paris wikipedia Edward Gibbon *1737 in London
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Eine weniger eingeschränkte Form der Fortschrittsidee findet man bei Gibbons in der Einführung zu Niedergang und Zerfall des Römischen Reiches. »Jedes Zeitalter«, sagt Gibbon, »hat den Reichtum, das Glück, das Wissen und vielleicht die Tugend der Menschheit vermehrt und vermehrt sie weiterhin.«
Dieses Bild einer stetigen, beharrlichen, nahezu unvermeidlichen Anhäufung von Fortschritten widerspiegelt nicht nur den unbekümmerten Optimismus der Vorkämpfer der Aufklärung, sondern auch deren selbstgefällige Vorstellung von ihrer eigenen Rolle in der Geschichte; denn die Führer dieser Bewegung, angefangen von Voltaire – Turgot ist hier auszunehmen! –, glaubten, alle früheren Kulturen, besonders die des Mittelalters, seien Opfer blinder Instinkte, verstockter Unwissenheit, pfäffischer Unterdrückung und grausamer Tyrannei gewesen.
Wären die monströsen Ideen und Bräuche der Vergangenheit erst einmal vernichtet – die besondere Abneigung der Aufklärer galt der gotischen Architektur –, so würden alle Menschen nur von der Vernunft bewegt und geleitet werden, im Einklang mit dem Guten, das dem menschlichen Wesen innewohne.
Aber wenn Gibbons Auffassung richtig war, dann hatte der menschliche Fortschritt nie aufgehört: Er war durch die Natur der Dinge gewährleistet. Jede neue Generation übertrifft alle früheren Errungenschaften.
Die Bekehrung zur Fortschrittsdoktrin war plötzlich gekommen.
Anfang des achtzehnten Jahrhunderts schilderte der Herzog von Saint-Simon die bösen Vorahnungen seines prominenten Zeitgenossen Marschall de Catinat folgendermaßen:
»Er beklagte die Irrtümer seiner Zeit, die er in endloser Reihe einander folgen sah: die bewußte Untergrabung des Glaubenseifers, die Ausbreitung des Luxus ... Bei der Betrachtung der Zeichen der Zeit glaubte er alle Elemente der drohenden Zerstörung des Staates zu entdecken.«
Und schon vor ihm, im sechzehnten Jahrhundert, hatte Louis Le Roy darauf hingewiesen, daß noch jede große Zivilisation von einem bestimmten Punkt an in Verfall geraten war.
Was für Marschall de Catinat eine böse, wenn auch wohlbegründete Vorahnung war, wurde für die fortschrittlichen Geister des achtzehnten Jahrhunderts zu einer glücklichen Verheißung. Sie maßen den Fortschritt an der Zahl der veralteten Institutionen, die aufgegeben werden, konnten. Wenn der Fortschritt als lineare Bewegung durch die Zeit betrachtet wird, kann er auf zweierlei Art begriffen werden: als Annäherung an ein ersehntes Ziel oder als Entfernung von einem Ausgangspunkt.
wikipedia Voltaire *1694 in Paris wikipedia Louis_de_Saint-Simon *1675 in Versailles wikipedia Nicolas_de_Catinat *1637 in Paris
Die Fortschrittsapostel glaubten naiverweise, die Übel seien ein Vermächtnis der Vergangenheit, durch möglichst rasche Entfernung von der Vergangenheit könne eine bessere Zukunft gesichert werden.
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In dieser Doktrin gab es gerade genug Körnchen Wahrheit, um ihre grundsätzliche Irrigkeit noch gefährlicher zu machen.
Etwa fünftausend Jahre lang lastete auf allen Zivilisationen - ich betone es nochmals - das traumatische Vermächtnis all dessen, was den Aufstieg früherer Machtsysteme begleitet hatte: Menschenopfer, Krieg, Sklaverei, Zwangsarbeit, willkürliche Ungleichheit in der Verteilung von Gütern und Rechten. Aber zusammen mit diesen Übeln war auch eine beträchtliche Akkumulation von Errungenschaften vor sich gegangen, deren Bewahrung und Übermittlung für die Humanisierung und Weiterentwicklung des Menschen entscheidend waren.
Die Exponenten des Fortschritts waren zu sehr von ihrer Doktrin eingenommen, um vorauszusehen, daß die autoritären Institutionen, die sie zu zerstören suchten, in noch drückenderer Form wiedererstehen könnten, bestärkt durch eben jene Wissenschaft und Technik, die sie als ein Mittel der Emanzipation von der Vergangenheit schätzten.
Hundert Jahre später wurde die sonderbare These von stetigen und unvermeidlichen Fortschritt, die für feststellbare organische Prozesse – Zerfall und Zerstörung, Fehlentwicklungen und Brüche, Stillstand und Rückschritt – keinen Platz ließ, von dem französischen Philosophen Victor Cousin mit dünkelhafter Zuversicht präsentiert: »Denken Sie daran, meine Herren, nichts geht rückwärts, alles bewegt sich vorwärts.«
wikipedia Victor_Cousin *1792 in Paris
Nach demselben Prinzip begrüßen heute die modernen Fortschrittspropheten das Überschallflugzeug mit seinem zerstörerischen Dröhnen, der gewaltsamen Erschütterung des Nervensystems, der Luftverschmutzung und der letztlich davon zu befürchtenden Klimaverschlechterung, als unumgänglichen Beitrag zum Verkehrsfortschritt, obwohl sie, abgesehen von militärischen Zwecken, auf keine einzige Funktion hinweisen können, die nicht, wie in der Vergangenheit, bequemer und sicherer durch ein weniger gefährliches, langsameres Transportmittel erfüllt werden könnte.
Nun ist das Seltsame an Gibbons These, daß sie am Anfang eines Buches steht, das den genau entgegengesetzten Prozeß im Detail schildert. Gibbons historisches Kolossalgemälde zeigt, wie der ursprüngliche Kräftestrom, der die römische Zivilisation in so vielen Bereichen, insbesondere in der Metallbearbeitung, im Städtebau und im öffentlichen Recht, auf ein so hohes Niveau gehoben hatte, sich innerhalb weniger Jahrhunderte umkehrte: Im ganzen großen Römischen Reich kamen allmählich die Räder des Fortschritts knirschend zum Stillstand; wichtiges Wissen ging verloren, die technische Leistungsfähigkeit verminderte sich und die einst höchst disziplinierte Armee verwandelte sich in einen räuberischen, gewalttätigen Haufen.
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Schließlich schildert Gibbon, wie in einer Reihe von Rückzügen und Niederlagen die einstigen Vorzüge Roms zu Übeln wurden, während die Armut, die Unsicherheit und die Unwissenheit, die überwunden zu haben es sich gerühmt hatte, vor den ungläubigen Augen der kultivierten Römer als Kristallisationskern einer christlichen Ordnung von höherer schöpferischer Kraft diente, welche die abströmenden Energien der alten Kulturen an sich zog und sich auf die Verneinung des irdischen Lebens konzentrierte.
Wie auch ein Historiker des 18. Jahrhunderts wissen konnte, hat es in der Geschichte wiederholt solche Umkehrungen gegeben, mit ähnlichem Bruch der Tradition; Verlust an Wissen, Zerfall des materiellen Reichtums, ganz zu schweigen von den Gewaltausbrüchen und dem allgemeinen Ansteigen des Elends. Diese eindeutigen historischen Tatsachen führten Gibbons Beschreibung des stetigen Anwachsens von Reichtum und Glück ad absurdum. Und wenn die Fortschrittsdoktrin den Schlüssel zu einer neuen Zukunft lieferte, so gab es in Gibbons einleitender These gewiß nichts — wenn auch so manches in seiner historischen Darstellung —, was seine Landsleute auf eine Umkehrung des technischen Fortschritts vorbereitet hätte, die einen ähnlichen Rückzug und Zusammenbruch im ganzen Britischen Imperium zur Folge hatte. In seiner Phantasie sah er bereits einen zukünftigen Gibbon, der auf die Ruinen von London blickte, so wie er die Ruinen Roms betrachtet hatte.
In Wirklichkeit pries Gibbon nicht die Realität des menschlichen Fortschritts, sondern das selbstgefällige Gefühl von Überlegenheit und Sicherheit, das die britische Oberschicht genoß, die dachte, der menschliche Verstand könnte mit der Zeit jede Institution unter seine Kontrolle bringen und sogar sicherstellen, daß die Annehmlichkeiten und der Luxus der herrschenden Minderheit in entsprechend verwässerter und vulgarisierter Form an die übrige Bevölkerung weitergereicht würden – im wesentlichen die Doktrin des Whig-Liberalismus.
Auf Grund dieser These konnte Gibbon, nur wenige Jahre vor der amerikanischen und der französischen Revolution – denen zwei Jahrhunderte von nationalen Erhebungen, Klassenkämpfen, imperialistischen Eroberungskriegen und grausamer Unterdrückung folgten – sogar sagen, es gäbe keinen Grund für Revolutionen mehr!
Einmal in der westlichen Mentalität verwurzelt, wurde die Gleichsetzung von technischem und moralischem Fortschritt zur allgemein akzeptierten Doktrin, die nur in den katholischen Ländern Westeuropas oder in rückständigen Erdteilen, wo die Maschine sich noch nicht durchgesetzt hatte, zurückgewiesen wurde. Jede neue erfolgreiche Erfindung unterstützte diesen uneingeschränkten Glauben an einen ihr entsprechenden menschlichen Fortschritt nur noch mehr. Natürlich lieferte der unbegrenzte Glaube an die Unvermeidlichkeit des Fortschritts eine Zeitlang weitere Beweise für dessen Existenz, so wie der Glaube an die Kräfte eines Medizinmannes oft dessen Zaubersprüchen Wirkung verleiht.
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Da die Fortschrittsidee keine Erklärung für neue Übel oder für Rückschläge bereit hatte, schob sie alles beiseite, was darauf hindeuten konnte, ob es nun die Vergangenheit oder die Gegenwart betraf. Nur die Gewinne zu zählen und die Verluste zu ignorieren, erwies sich als die Standardmethode zur Stützung der jahrtausendealten Hypothesen, auf denen die Fortschrittsdoktrin ursprünglich basierte. Doch selbst in bezug auf materiellen Komfort war der Fortschritt so ungleichmäßig, daß es, wie Winston Churchill einmal besorgt feststellte, in den englischen Mietshäusern des zwanzigsten Jahrhunderts immer noch keine Zentralheizung gab, deren sich ihre römischen Vorbilder fast zweitausend Jahre zuvor erfreut hatten!
Fortschritt hatte natürlich für verschiedene Denker unterschiedliche Bedeutung: eine für Diderot und Condorcet, eine andere für Marx und Comte, wieder eine andere für Herbert Spencer und Charles Darwin und noch eine andere für deren heutige Nachfolger. Mittlerweile war die zum Teil noch für Gibbon sinnvolle Vorstellung, aus einem gemeinsamen Kulturschatz zu schöpfen und zu ihm beizusteuern, aus der Konzeption ausgeschieden.
wikipedia Denis_Diderot *1713 in Nordostfrankreich wikipedia Marquis_de_Condorcet *1743 in Nordfrankreich
Voltaires höhnische Formel für den Fortschritt – den letzten König mit den Eingeweiden des letzten Pfaffen zu erdrosseln – erschien anderen Enthusiasten seiner Zeit als ein wunderbarer Weg, reinen Tisch zu machen und die Gesellschaft auf eine völlig rationale Basis zu stellen. Auch wer von diesem sadistischen Vorschlag schockiert sein mochte, verfolgte dennoch auf anderen Gebieten eine Politik der verbrannten Erde, der Ausmerzung der Vergangenheit als ein Mittel, den Vormarsch in die Zukunft zu beschleunigen.
Gibbons Doktrin war davon ausgegangen, daß die Vorzüge der Zivilisation eher kumulativ als sukzessiv sind; sobald aber die Tendenz, sich von der Vergangenheit zu lösen, zum Kriterium des Fortschritts wurde, übertrug man die Akkumulationsfunktion den Museen.
Evolution und Rückentwicklung
In der neuen Fortschrittsauffassung fehlten zwei Tatsachen, die später in die Evolutionstheorie aufgenommen wurden; da aber beide fast zur gleichen Zeit entstanden waren, wurden sie in der Volksmeinung leider oft miteinander verwechselt. Die Evolution hat das organisierte Leben zum Mittelpunkt. In evolutionärer Sicht bedeuten Masse, Energie und Bewegung nur die abstrakte Grundlage des Lebens. Anders als die physikalischen Energien, die sich nur in eine Richtung, nämlich abwärts, bewegen, ist organisches Geschehen bipolar, positiv wie negativ, aktiv und passiv, aufbauend und niederreißend, akkumulierend und selektivierend, kurz, wachsend, reproduzierend und sterbend. Wenn die positiven Prozesse (Gegenentropie oder Wachstum) überwiegen, sei es auch nur wenig und vorübergehend, gedeiht Leben.
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»Die Spirale der Formen hinauf kriechend«, könnte der Regenwurm, laut Emersons lakonischer Metapher, »ein Mensch werden.« Der Regenwurm kann sich nicht »hinaufentwickeln«, indem er sein Wachstum verstärkt und bloß ein größerer Regenwurm wird oder eine größere Zahl von Regenwürmern zeugt. Bei zahllosen Organismen machen Selbsterhaltung und Fortpflanzung die Erhaltung ihrer Art, faktisch ihren Erfolg als Spezies, aus, wenngleich sie mit ihrer bloßen Existenz die Umwelt genügend bereichern können, um das Gedeihen anderer Arten zu fördern, wie das primitive Plankton den Pottwal ernährt.
wikipedia Edward_Waldo_Emerson *1844 in Concord, Mass./USA
Nur auf einer einzigen bisher bekannten Linie hat die organische Evolution zu einer konsequent fortschreitenden Veränderung geführt: in der Entwicklung des Nervensystems der Säugetiere. Während Nieren und Lungen vor Dutzenden Millionen Jahren entstanden sind, ist das Nervensystem tatsächlich stetig differenzierter und leistungsfähiger geworden; beim Menschen hat es in den letzten fünftausend Jahren ein außerordentliches Wachstum erfahren. Dank diesem Nervensystem und den aus seinem Geist-Stoff geformten Produkten, den Zeichen und Symbolen, lebt der Mensch in einer an Möglichkeiten unvergleichlich reicheren Welt als jedes andere Lebewesen. Nur hier, im menschlichen Geist, hat die Fortschrittsidee Substanz, bietet sie die Aussicht auf eine bessere Zukunft.
Aber ein hervorstechender Faktor dieser einzigartigen evolutionären Entwicklung muß erwähnt werden: Sie hat der natürlichen Selektion eine kulturelle Selektion hinzugefügt, die nicht nur die Umwelt und die Lebensweise des Menschen modifiziert, sondern auch andere Anlagen seines Wesens ans Licht gebracht hat, etwa die spielerische Meisterung mathematischer Abstraktionen, die nicht voraussehbar war, als der Mensch an den Fingern zu zählen begann. Bis zur Erfindung von Symbolen spielte der technologische Fortschritt in Form von Handfertigkeit und manueller Arbeit in dieser grundlegenden Transformation nur eine geringe Rolle.
Diese Entwicklungsgeschichte, die erst im Laufe der letzten hundert Jahre stückweise zusammengesetzt wurde, verändert die ganze Fortschrittskonzeption; denn sie trennt die geistbildenden evolutionären Entwicklungen innerhalb der menschlichen Spezies, die der Kultur und der Persönlichkeit, von den rein materiellen Fortschritten im Bereich der Werkzeuge, Waffen und Gebrauchsgegenstände, denen die Doktrinen des neunzehnten Jahrhunderts die entscheidende Bedeutung beimaßen.
Doch die Evolution weist nicht nur gelegentliche Sprünge und schöpferische Abweichungen auf, sondern auch Rückfälle, Rückentwicklungen, Stillstände und verhängnisvolle Fehlanpassungen; und gerade wegen der überlegenen – aber labilen und höchst delikaten – neuralen Ausstattung des Menschen kamen selbst seine größten technischen Fortschritte oft zum Stillstand oder wurden pervertiert und mißbraucht.
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Als der Mensch beispielsweise die Kunst des Fliegens meisterte, befreite er sich aus seinem erdgebundenen Zustand. Aber dieser Triumph birgt beängstigende Gefahren in sich. In seiner Jagd nach Geschwindigkeit hat der Mensch bereits die Beschränkungen, denen er zu entkommen suchte, wiederhergestellt, sogar in noch beengenderer Form (Weltraumkapseln), und ist zur bloßen Beförderungsmasse geworden; mit der Annäherung an die Lichtgeschwindigkeit schrumpft er theoretisch zusammen, und seine Fähigkeit zu lebenserhaltenden Reaktionen nimmt im gleichen Maß ab, wie das Tempo seines Transportmittels zunimmt.
Die Geschichte der Evolution liefert keinen Grund zu der Annahme, wahrer Fortschritt in irgendeiner Richtung wäre erreichbar, es sei denn im Einklang mit den Gesetzmäßigkeiten der biologischen Natur des Menschen, modifiziert und zum Teil ersetzt durch seine historische Kultur, die ihrerseits durch die Entwicklung des menschlichen Nervensystems intensiviert wurde. In bezug auf die organische Umwelt haben viele der imposanten, ja überwältigenden technischen Leistungen des modernen Menschen sich bereits als außerordentlich gefährlich und in manchen Fällen als tödlich erwiesen. Wäre die evolutionäre Doktrin nicht selbst vom mechanischen Weltbild beeinflußt und der mechanische Fortschritt nicht der malthusianischen Theorie vom Überleben der Tüchtigsten gleichgesetzt worden, so wären diese Tatsachen schon längst erkannt und bewertet.
Zu glauben, eine längere Zeitspanne bedeute automatisch eine größere Akkumulation von Werten, oder die neueste Erfindung stelle notwendig auch schon einen Fortschritt für den Menschen dar, heißt die offenkundige Lehre der Geschichte übersehen: die wiederholten Rückfälle in die Barbarei, am deutlichsten und am schrecklichsten im Verhalten des zivilisierten Menschen, wie Giambatista Vico vor langer Zeit aufgezeigt hat.
wikipedia Giambattista_Vico *1668 in Neapel
War die Inquisition mit ihren raffinierten mechanischen Neuerungen in fein abgestuften Foltermethoden ein Zeichen von Fortschritt? Technisch: ja, menschlich: nein. Vom Standpunkt des menschlichen Überlebens, gar nicht zu reden von der Höherentwicklung des Menschen, ist eine Pfeilspitze aus Feuerstein der Atombombe vorzuziehen. Zweifellos verletzt es den Stolz des modernen Menschen, wenn er zugeben soll, daß ältere Kulturen mit einfacheren technischen Mitteln ihm in bezug auf menschliche Werte vielleicht überlegen waren und daß echter Fortschritt auch Kontinuität und Bewahrung, vor allem aber bewußte Voraussicht und vernünftige Auswahl erfordert — das Gegenteil unserer heutigen wahllosen Vermehrung beliebiger Neuerungen.
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Die Propheten des Fortschritts suchten diesen vor allem damit zu beweisen, daß sie die Abstraktionen von Zeit, Raum und Bewegung in den Mittelpunkt stellten. Der Ausdruck war nur eine andere Bezeichnung für ungehinderte Bewegung auf dem Wasser, später durch die Luft, und heute, mit Raketenkraft, durch das Sonnensystem, vorwärtsgetrieben von Phantasien über Reisen zu anderen, viele Lichtjahre weit entfernten Sternen. Es ist kein Zufall, daß H. G. Wells' erster utopischer Roman, Die Zeitmaschine, von einem Erfinder handelt, der durch die Zeit zu reisen gelernt hat. (Das symbolische Äquivalent jenes rein imaginären mechanischen Geräts ist natürlich das Studium der Geschichte.)
Im üblichen Sprachgebrauch hat Fortschritt die Bedeutung von grenzenloser Bewegung in Zeit und Raum bekommen, notwendigerweise begleitet von einer ebenso grenzenlosen Verfügung über Energie, gipfelnd in grenzenloser Zerstörung. Selbst mein alter Lehrer Patrick Geddes, im Herzen immer noch ein optimistischer Viktorianer, gedämpft durch den realistischen Pessimismus Carlyles und Ruskins, pflegte über Ideen oder Projekte zu sagen: »Wir müssen vorwärtskommen«, und hielt es für eine ausreichende Verurteilung von Mahatma Gandhis Methode, Mutter Indiens Unabhängigkeit auf dem Wege über das Spinnrad anzustreben, daß dessen Ideen aus drei Quellen stammten, von Thoreau, Ruskin und Tolstoi. die alle schon zwei Generationen zurücklagen.
Trotz der großen Vielfalt der Maschinen, die in den letzten zwei Jahrhunderten erfunden wurden, sind es hauptsächlich die Beförderungsmittel – Dampfschiff. Eisenbahn. Auto, Flugzeug und Rakete –, an denen die Volksmeinung die Fortschritte der modernen Technologie mißt.
Selbst wenn man den Begriff des Fortschritts auf die Eroberung von Raum und Zeit beschränkt, sind seine menschlichen Grenzen offenkundig. Man nehme eine von Buckminster Fullers beliebten Illustrationen des Schrumpfens von Zeit und Raum, beginnend mit einer Kugel von sechs Metern Durchmesser, die die Zeit-Weg-Einheit eines Fußgängers darstellt. Für einen Reiter schrumpft die Kugel auf einen Durchmesser von zwei Metern, für einen Schnellsegler wird sie ein Fußball, für die Eisenbahn ein Tennisball, für das Düsenflugzeug eine Murmel und für die Rakete eine Erbse. Und wenn man mit Lichtgeschwindigkeit reisen könnte, so mag man hinzufügen, um Fullers Gedanken abzurunden, würde die Erde vom Standpunkt der Körpergeschwindigkeit ein Molekül, so daß man an den Ausgangspunkt zurückgelangt wäre, ohne auch nur im geringsten gemerkt zu haben, daß man weg war.
wikipedia Patrick_Geddes *1854 in Schottland detopia: Buckminster Fuller Gandhi Thoreau Tolstoi
Indem man Fullers Darstellung so bis zum theoretischen Extrem führt, reduziert man dieses mechanische Konzept auf sein eigentliches Maß menschlicher Irrelevanz. Denn wie jede andere technische Errungenschaft hat Geschwindigkeit nur in Verbindung mit anderen menschlichen Bedürfnissen und Zwecken eine Bedeutung.
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Offenkundig bewirkt die Beschleunigung der Fortbewegung eine Verminderung der Möglichkeiten unmittelbarer menschlicher Erfahrung — selbst der Erfahrung des Reisens.
Ein Mensch, der zu Fuß rund um die Erde wandern würde, hätte am Ende dieser langen Reise viele Erinnerungen an geographische, klimatische, ästhetische und menschliche Fakten gesammelt: solche Erfahrungen nehmen in direkter Proportion zur Geschwindigkeit ab, bis der Reisende auf dem Höhepunkt der Schnelligkeit überhaupt keine Erfahrung mehr machen kann: Seine Welt ist statisch geworden, Zeit und Bewegung bewirken darin überhaupt keine Veränderung mehr. Nicht nur der Raum, auch der Mensch schrumpft zusammen. Flugreisen und Touristenströme haben bereits viele kostbare historische Stätten und Städte, die diesen Massenbesuch anregten, rettungslos ruiniert.
Fortschritt, wie unsere maschinenorientierte Kultur ihn definiert, ist einfach eine Fortbewegung durch die Zeit, und das »Vorwärtsgehen« wird, in den Worten eines pragmatischen Philosophen, »zum Ziel« — die ältere Version der noch flacheren Auffassung, wonach »das Medium die Botschaft« sei. Beide Gedanken können jedoch in eine gültige Form gebracht werden: Das Vorwärtsgehen wird faktisch zu einem Teil des Ziels und erweitert es, während das Medium notwendigerweise die Botschaft modifiziert.
Doch man bedenke: Anfangs hatte dieser leidenschaftliche Glaube an den Fortschritt eine gewisse Berechtigung. In der Vergangenheit waren nutzbringende Neuerungen nur allzu oft nicht imstande gewesen, verknöcherte Gewohnheiten zu durchbrechen. Selbst der höchst rational denkende Michel de Montaigne meinte, es sei besser, schlechte Institutionen aufrechtzuerhalten, als die Gefahren auf sich zu nehmen, die sich aus einer Reformierung der Gesellschaft ergeben könnten. Um uns heute die Freiheit zu geben, das Wertvollste aus der Vergangenheit auswählen zu können, war es wahrscheinlich notwendig, ganz mit ihr zu brechen – wie ein Heranwachsender mit seinen Eltern brechen muß, bis er reif genug ist, von der älteren Generation schließlich das zu übernehmen, was seiner Entwicklung förderlich ist.
Vielleicht zum ersten Mal ergriff die Zukunft vom Menschen Besitz, nicht als ferne Hoffnung auf Erlösung in einem fernen statischen Himmel, sondern als eine ständige Gegenwart und als realisierbare Verheißung weiterer Erfüllungen. Im Lebenszyklus jedes Menschen ist vieles von der Zukunft eingebettet: Ereignisse, die noch bevorstehen. Formen, die noch der Verwirklichung harren, wirken fortwährend auf die gegenwärtigen Entscheidungen ein und modifizieren sie: Vorkopplung ist die lebenswichtige Ergänzung der Rückkopplung.
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Seltsamerweise aber scheint ein beharrliches Zukunftsbewußtsein als dynamischer Bestandteil der Gegenwart nur in einer einzigen — wenn auch sehr langlebigen — Kultur bestanden zu haben: in jener der Juden; in der Hoffnung auf Befreiung und schließlich auf Rückkehr nach Jerusalem überlebten sie Leiden und Prüfungen, wie manche andere Völker, die nicht so zielbewußt und zukunftsgläubig waren, sie nicht zu ertragen vermochten, so daß sie untergingen. Indem die Fortschrittsdoktrin der Zukunft ebensoviel Gewicht beimaß wie der Vergangenheit, war sie ein wirksames Mittel gegen übertriebene Ehrfurcht vor überlebten Institutionen und Gewohnheiten.
So willkürlich und dumm die Ablehnung der Vergangenheit auch war, hatte die Fortschrittsidee vorerst doch befreiende Wirkung: Sie beseitigte die verrosteten Ketten, die den menschlichen Geist gefangenhielten. In Westeuropa führte dies zu einer schonungslosen Kritik an vielen ernsten Übeln, und trotz der Feindseligkeit der herrschenden Klassen gegen »Reformer« und »Unbefugte« brachte sie wirksame Abhilfe. Unter diesen Impulsen wurde überall der kostenlose Schulunterricht eingeführt, den Geisteskranken wurden die Ketten abgenommen, die schmutzigen Gefängnisse wurden gesäubert und erhellt; in manchen Ländern gewährte man dem Volk, wenn auch widerwillig, Teilnahme an der Gesetzgebung; den Tauben und Stummen half man, sich auszudrücken, und sogar eine Helen Keller, die sowohl blind als auch taubstumm war, wurde mit übermenschlicher Geduld das Sprechen gelehrt. Eine Zeitlang war sogar, zumindest offiziell, die Folter beim Verhör abgeschafft, obgleich die schlimmsten der alten Institutionen, vor allem Sklaverei und Krieg, immer noch weiterbestanden.
Es ist nicht zu bestreiten, daß die Fortschrittsidee diese Veränderungen förderte und beschleunigte. Doch waren diese Verbesserungen auch bemerkenswert, so ist es vielleicht noch bemerkenswerter, daß keine einzige irgendetwas unmittelbar den technischen Erfindungen zu verdanken hat.
Damit soll nicht geleugnet werden, daß vom achtzehnten Jahrhundert an zwischen der Fortschrittsidee, technischen Erfindungen, wissenschaftlichen Entdeckungen und politischen Veränderungen eine Wechselwirkung bestand: Erfolge in einem Bereich stärkten und unterstützten ähnliche Bemühungen in den anderen Bereichen. »Wo endet die Vervollkommnung des Menschen, der mit Geometrie, den mechanischen Künsten und der Chemie ausgerüstet ist?« fragte im achtzehnten Jahrhundert Louis Sebastien Mercier in seiner Utopie Das Jahr 2440. Wo in der Tat? Schon die Wahl eines so fernen Jahres zeigte an, daß die Zukunft gleichwertig mit der Vergangenheit geworden war und sie sogar zu verdrängen drohte.
wikipedia Louis-Sébastien_Mercier *1740 in Paris
Merciers Buch war eine der ersten Zukunftsutopien, die im neunzehnten Jahrhundert Mode wurden; und nicht wenige seiner Vorhersagen trafen lange vor dem angekündigten Datum ein.
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Die Auffassung, wonach die Maschine auf Grund ihrer rationellen Konstruktion und der Vollkommenheit ihrer Leistung nun eine moralische Kraft war, ja die moralische Kraft par excellence, die dem Menschen neue Maßstäbe setzte — diese Auffassung erleichterte es, die neue Technologie, auch in ihren häßlichsten Erscheinungsformen, mit menschlichem Fortschritt gleichzusetzen. Sünde bedeutete nun nicht mehr, unter dem Maß menschlicher Möglichkeiten, sondern unter dem Maß der maximalen Nutzung der Maschine zu bleiben.
In der klassischen Philosophie und in der Religion war der Gedanke der Vervollkommnung fast ausschließlich auf die Entwicklung der Persönlichkeit oder die Rettung der Seele gerichtet. Nur nebenbei waren menschliche Institutionen Gegenstand solcher Bemühungen. Noch weniger handelte es sich um das technische Milieu, bis dann die benediktinische Disziplin die Arbeit in eine Form der Frömmigkeit verwandelte. Diese Trennung und Loslösung der Persönlichkeit vom Wirtschaftssystem und von der materiellen Kultur, die sie gestalten half und der sie Substanz gab, war ein ebenso entscheidender Fehler wie nur irgendeiner, der in der Entwicklung des mechanischen Weltbildes gemacht wurde. Aber sie hatte einen Vorzug: Sie erforderte bewußte Teilnahme und disziplinierte Anstrengung. Die Fortschrittsdoktrin hingegen verstand Verbesserung als etwas Äußerliches und Automatisches; es war gleichgültig, was der einzelne wünschte oder wählte, solange die Gemeinschaft die Vermehrung der Maschinen und die Konsumtion der typischen Maschinenprodukte als Hauptziel menschlicher Anstrengungen ansah, war der Fortschritt gesichert.
So rasch, so zahlreich und so eindrucksvoll entwickelten sich die mechanischen Erfindungen, daß Mitte des neunzehnten Jahrhunderts selbst ein so humaner, ausgeglichener Geist wie Emerson von jener Weltanschauung beeinflußt war, wenn er auch die metaphysischen Grundlagen des Utilitarismus zurückwies. »Der Glanz dieses Zeitalters«, rief Emerson einmal aus,
»überstrahlt alle anderen Epochen. In meiner Lebenszeit habe ich fünf Wunder gesehen — erstens das Dampfschiff, zweitens die Eisenbahn, drittens den elektrischen Telegraphen, viertens die Anwendung des Spektroskops in der Astronomie, fünftens die Photographie.«
Diese voreilige Lobrede beraubt uns der passenden Worte, um unsere heutigen Wunder zu beschreiben — das Elektronenmikroskop, den Atomreaktor, die ferngelenkte Weltraumrakete, den Computer. Emerson hat an anderer Stelle wehmütig festgestellt, so weit man auch immer reisen möge, reise doch das alte Ich immer mit.
Doch eben um der axialen Pflicht* der Disziplinierung und Lenkung der Persönlichkeit zu entgehen, setzten die Fortschrittsapostel all ihre Kräfte in die Vervollkommnung und Vermehrung der Maschinen und entwickelten neue Methoden, um das gewonnene Wissen zu verwerten. * wikipedia Achsenzeit
Für jede menschliche Schwäche oder Störung gab es angeblich ein rasch wirkendes technisches, chemisches oder pharmazeutisches Heilmittel. Sogar die elektrische Bogenlampe wurde bei ihrer Einführung zuversichtlich als Vorbeugungsmittel gegen nächtliche Verbrechen begrüßt.
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Daher die leichtsinnige Anwendung der Röntgenstrahlen, ein halbes Jahrhundert lang, ehe man die schädlichen Wirkungen vieler Strahlungsarten erkannte; daher auch die bedenkenlose, exzessive Verwendung der Antibiotika oder die vorschnelle Bereitschaft zu chirurgischen Eingriffen, etwa am Großhirn, bei organischen Störungen, für die es andere Behandlungsmethoden gibt.
Auch die optimistische Auffassung, die Maschine würde nicht nur dem materiellen, sondern auch dem moralischen und politischen Wohl dienen, wurde von Emerson ausgesprochen — das allein zeigt schon, welchen Einfluß die Doktrin des mechanischen Fortschritts erlangt hatte.
»Der Fortschritt der Erfindungen«, sagte Emerson 1866, »ist wirklich eine Gefahr. Immer, wenn ich eine Eisenbahn sehe, schaue ich mich nach einer Republik um. Wir müssen für die Einführung des Freihandels und die Abschaffung der Zollhäuser sorgen, ehe noch die Passagierballons aus Europa einzutreffen beginnen, und ich denke, es hat einen doppelten, tieferen Sinn, wenn die Eisenbahnverwaltung an den Gleisen Warntafeln anbringen läßt, auf denen geschrieben steht: Achtung auf den Zug!«
Emerson ließ sich nicht träumen, daß der technische Fortschritt nicht zu einem Weltstaatenbund, sondern zu feindlichen Blöcken destruktiver, totalitärer Militärmaschinen führen würde. Heute noch gibt es avantgardistische Geister, die nach dieser altmodischen Fortschrittsschablone geformt sind und weiterhin glauben, die unmittelbare Verbindung durch das Fernsehen werde unmittelbare Verständigung bewirken, und die sosehr an ihrem dogmatischen Vertrauen in den technischen Fortschritt festhalten, daß sie meinen, die Lenkung des stockenden, angestauten Verkehrs von einem Hubschrauber aus über Radio sei ein Beweis großartiger technischer Effizienz — und nicht, was es wirklich ist, ein Beweis für den Bankrott der modernen Technik, der Verkehrsplanung, der gesellschaftlichen Kontrolle und der Stadtplanung.
Die frühen Vertreter des Glaubens an die Erlösung durch Technik hätten schwerlich verstehen können, wieso in demselben Jahrzehnt, in dem die Luftfahrt triumphierte, auch die Paßbeschränkungen, die Ende des neunzehnten Jahrhunderts faktisch abgeschafft worden waren, allgemein wieder eingeführt wurden.
Kurz, die Vorstellung, daß technischer und wissenschaftlicher Fortschritt ebensolchen menschlichen Fortschritt bedeute, war bereits 1851, im Jahr der Londoner Weltausstellung, zweifelhaft und ist heute völlig unhaltbar geworden.
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Sowohl die ersten Hoffnungen, die an den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt geknüpft wurden, als auch das spätere Gefühl der Enttäuschung fanden Ausdruck in zwei Gedichten von Alfred Tennyson, Locksley Hall (1842) und Locksley Hall Sixty Years After (1886).
wikipedia Alfred_Tennyson *1809 in Mittelengland
Als junger Mann hatte Tennyson nicht nur die Lokomotive, sondern auch die Aussicht auf Flugreisen als Errungenschaft begrüßt, die es, nach seinen eigenen Worten, vorteilhafter machte, fünfzig Jahre in Europa als ein ganzes Äon lang in China zu leben. Doch am Ende kam er zu einer anderen Schlußfolgerung: Der Luftkrieg, der »das Parlament der Menschheit, die Weltföderation« einleiten sollte, ließ nun keinen so glücklichen Ausgang mehr erhoffen. Statt zu drängen, »Vorwärts, vorwärts laßt uns ziehen«, wandte Tennyson sich gegen sein früheres Ich mit den Worten:
»Warten wir mit diesem Vorwärts lieber noch zehntausend Jahr'.«
Als Ersatzreligion gab die Doktrin vom unaufhaltsamen technischen plus menschlichen Fortschritt dem neuen Weltbild etwas, das ihm gefehlt hatte: ein immanentes Ziel; nämlich die totale Zerstörung der Vergangenheit und die Errichtung einer besseren Zukunft, hauptsächlich mit Hilfe technischer Mittel.
Veränderung war in dieser Gedankenwelt nicht ein einfaches Faktum der Natur — was sie ebenfalls ist —, sondern ein vorrangiger menschlicher Wert; und der Veränderung Widerstand zu leisten oder sie in irgendeiner Weise zu hemmen, bedeutete, »gegen die Natur zu verstoßen« — und letztlich den Menschen zu gefährden, indem man dem Sonnengott trotzte und ihm den Gehorsam verweigerte.
Unter diesen Voraussetzungen konnte es keinen Rückschritt mehr geben, da der Fortschritt gottgewollt war. Nur wenige Jahre vor dem Ersten Weltkrieg, in einem der besseren Romane von H. G. Wells, Der neue Macchiavelli, sagt der ins Exil getriebene Held, über sein vergangenes Leben schreibend, voll Befriedigung:
»Kein König, kein Kronrat kann mich ergreifen oder foltern lassen; keine Kirche, keine Nation kann mich zum Schweigen bringen – solche Mächte rücksichtsloser, totaler Unterdrückung gibt es nicht mehr.«
Selbst damals noch konnte ein vielseitig gebildeter, moderner Mensch, der auf den Segen der Wissenschaft baute, die Möglichkeit eines Hitler, Stalin oder Mao nicht voraussehen; er konnte immer noch glauben, der menschliche Fortschritt sei irreversibel, obgleich derselbe Verfasser wenig später, 1914, in The World Set Free die Zerstörung einer Stadt durch eine einzige Atombombe realistisch beschreiben sollte.
Die populäre Fortschrittsdoktrin unterstützte die spätere Evolutionstheorie und beanspruchte dafür deren Unterstützung. Aber dies war ein unzulässiges Bündnis, da die Evolution, wie Julian Huxley feststellte, nicht linearen Fortschritt bedeutet, sondern »Differenzierung, Stabilisierung, Aussterben und Weiterentwicklung«. Bei organischen Transformationen sind die Kräfte, die der Veränderung widerstehen und die Kontinuität sichern, ebenso wichtig wie jene, die Neues hervorrufen und Verbesserungen bewirken. Selbst etwas, das in einer früheren Periode ein Fortschritt war, mag sich in einer späteren als Fehlanpassung oder Regression erweisen.
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Auf jeden Fall sollte eines klar sein: Veränderung ist weder ein Wert an sich, noch bringt sie automatisch Werte hervor; ebensowenig ist das Neue unbedingt schon das Bessere. Dies sind nur die Schlagworte und Werbeslogans kommerzieller Unternehmen, die etwas zu verkaufen haben.
Und die Meinung, technologische Neuerungen wären die Hauptquelle aller menschlichen Entwicklung, ist ein längst widerlegtes anthropologisches Märchen, das einer gründlichen Analyse von Natur und Kultur des Menschen nicht standhält.
Begreift der moderne Mensch erst einmal die Notwendigkeit von Kontinuität und selektiver Veränderung im Sinne seiner eigenen Anlagen und Zwecke, anstatt sich blind entweder der Natur oder seiner eigenen Technologie anzupassen, dann werden ihm viele neue Alternativen offenstehen.
Die Rolle der Utopien
Platos Idee, daß die menschliche Gemeinschaft mit rationalen Methoden bewußt umgestaltet und vervollkommnet werden könne – daß sie eigentlich ein Kunstwerk sei –, kehrte mit Thomas Morus wieder. Sein Buch zu diesem Thema, Utopia, das dieser ganzen Literaturgattung ihren Namen gab, erschien in dem revolutionären Jahrhundert, das Zeuge der Entdeckung und Eroberung der Neuen Welt und der Publikation von Kopernikus' De Revolutionibus war.
Und wenn, wie Arthur Morgan meinte, Morus ebenso wie sein fiktiver Erzähler, Hythloday, über direkte Nachrichten vom Regierungssystem der Inkas in Peru verfügte, so würde dies dem wiedererstandenen Mythos der Maschine nur einen letzten Anstrich historischer Authentizität hinzufügen; denn die gesellschaftliche Reglementierung und die megalithischen Bauwerke der Inkas, ganz abgesehen von ihrer Sonnenreligion, weisen eine verblüffende, bisher ungeklärte Parallele zu dem viel früheren Pyramidenzeitalter in Ägypten auf.
Verglichen mit der Fortschrittsdoktrin, übten die klassischen Utopien seit Platos Zeit wenig Einfluß aus. Sicherlich wäre es dumm, ihnen unmittelbar irgendeine der großen Veränderungen der letzten zwei Jahrhunderte zuzuschreiben; denn selbst jene, die bei der Gründung von Idealkolonien in Amerika oder anderswo ein utopisches Modell zu verwirklichen suchten, waren nur eine Handvoll; und sie bezogen ihre Inspiration für gewöhnlich aus religiösen Bestrebungen, wie etwa die Mormonen und die Zionisten. Was die praktisch erfolgreichen Idealkolonien betrifft, wie Oneida, Staat New York, oder Amana, Staat Iowa, so blieben sie nur eine Zeitlang ihrem Ideal treu und konnten sich nicht lang halten.
Doch die utopische Literatur war durch heimliche Fäden mit dem aufkommenden System eines mechanischen Gesamtgefüges verbunden; und erst heute besitzt man ausreichende Daten, um die eingeschlagene Route glaubhaft nachzuzeichnen.
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Wenn das eigentliche Ziel der menschlichen Entwicklung in der Vervollkommnung der ganzen Gemeinschaft bestand, dann würde ein System, das jeden spezialisierten Teil so formte, daß er seine besondere Funktion besser erfüllen konnte, am Ende mit der Wirksamkeit einer Maschine funktionieren.
Oberflächlich betrachtet, hatte das Konzept der Utopie gerade das Gegenteil des Fortschritts zum Inhalt: War einmal die Vollkommenheit erreicht, dann sahen die Utopienverfasser keine Notwendigkeit mehr für weitere Veränderungen. Selbst Marx wurde seiner dialektischen hegelianischen Ideologie untreu, sobald theoretisch der Kommunismus erreicht war. Danach würde die ideale Gesellschaft unter der Führung einer kollektiven Diktatur für alle Ewigkeit wie eine gut geölte Maschine funktionieren. Die Verhaltensanpassungen der sozialen Ameisen und Bienen haben gezeigt, daß solch ein mechanisiertes Kollektiv tatsächlich im Bereich organischer Möglichkeit liegt.
Während es eine beträchtliche Variationsbreite der von verschiedenen Utopisten ins Auge gefaßten sozialen und ökonomischen Bedingungen gab, seit Aristoteles seine erste vergleichende Untersuchung über das ideale griechische Gemeinwesen machte, gibt es nur wenige klassische Utopien – dies gilt besonders für William Morris' News from Nowhere –, die die grundlegende allgemeine Hypothese ablehnen: die der Planung einer ganzen Gesellschaft auf Grund eines ideologischen Schemas, in dem die Autonomie des einzelnen Organismus, die in gewissem Ausmaß selbst in den primitivsten Gesellschaftstypen besteht, zugunsten der organisierten Gemeinschaft aufgehoben wird.
Obwohl in den Beschreibungen utopischer Systeme seltsamerweise manchmal das Wort Freiheit enthalten ist – tatsächlich wurde eine utopische Gemeinschaft des neunzehnten Jahrhunderts Freiland genannt –, ist der dominierende Charakterzug aller Utopien ein totalitärer Absolutismus, die Einschränkung der Vielfalt und der Alternativen sowie das Bestreben, natürlichen Bedingungen oder historischen Traditionen, die Vielfalt fördern und Alternativen ermöglichen würden, zu entrinnen. Diese Uniformität und diese Zwänge bilden den inneren Zusammenhang zwischen der Utopie und der Megamaschine.
Schon bevor das mechanische Weltbild sich des westlichen Denkens bemächtigt hatte, wiesen die klassischen Utopien, besonders die von Plato und Morus, die den stärksten Einfluß ausübten, diese Eigenheiten auf.
Professor Raymond Ruyer hat in seiner erschöpfenden Studie über die Utopien meine eigene erste Analyse aus dem Jahre 1922 bestätigt: Fast alle Utopien betonen Gleichmaß, Uniformität, Dirigismus oder Autoritarismus, Isolierung und Autarkie. Nicht zuletzt zeigen sie Feindschaft gegen die Natur, was zur Unterdrückung der natürlichen Umwelt durch geometrische und mechanische Formen und zur Ersetzung natürlicher Produkte durch künstlich erzeugte Substitute führt. en.wikipedia Raymond_Ruyer *1902 L'Utopie et les Utopies – Presses Universitaires de France, Paris, 1950
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Diese Fixierungen muten besonders seltsam an, wenn man sie im Werk eines so sensiblen und humanen Denkers wie Thomas Morus findet. Denn im wesentlichen ist das Leben, das Morus beschreibt, bloß eine grobe Idealisierung des wirklichen Lebens einer Provinzstadt und eines Herrensitzes im Mittelalter, wie es in Stows frühem Bericht über London — unabhängig von Morus — beschrieben wird. Aber Morus nimmt dies zur Grundlage einer völlig entgegengesetzten idealen Ordnung, in der er Uniformität und Gleichmaß geradezu als Selbstzweck behandelt. Wie sonst ist seine Behauptung zu erklären, daß man nur eine der Städte Utopias zu kennen brauche, um alle zu kennen? Unter der mittelalterlichen Hülle von Morus' perfektem Gemeinwesen hat bereits ein eiserner Roboter begonnen, seine künstlichen Glieder zu regen und die Früchte des Lebens mit eisernen Klauen zu pflücken.
Worin liegt der Sinn dieser vielen Bestrebungen, die Möglichkeiten menschlichen Glücks mit einer autoritären oder oft auch streng totalitären Gesellschaft gleichzusetzen? Diese skurrile Phantasie spukt seit vielen Jahrhunderten in den Köpfen, wie der Traum vom mechanischen Roboter oder vom fliegenden Menschen. Mit dem Aufkommen des mechanischen Weltbilds erhielt die Utopie eine neue Funktion: Sie diente als vorgefertigtes ideales Modell für die Gesellschaft, die dank dem Mechanisierungsprozeß möglich wurde.
Obwohl selbst heute noch anscheinend nur wenige Menschen ahnen, was die ideale Form und die letzte Bestimmung der in unserer Zeit entstandenen Industriegesellschaft ist, steuert sie bereits unverkennbar auf eine statische Endgestalt zu, in der eine Veränderung des Systems so unzulässig sein wird, daß sie nur noch in totaler Auflösung und Zerstörung bestehen kann.
Kurz, es erweist sich, daß Utopia nicht das ferne ideale Ziel, sondern der nahe Endpunkt unserer gegenwärtigen Entwicklung ist. Realistisch gesehen, präsentiert die utopische Literatur, ergänzt durch Science Fiction, einen Querschnitt durch die kommende Welt, wie die akkreditierten Vertreter des Fortschritts sie sich vorstellen.
Man möge diese Interpretation nicht mißverstehen: Es handelt sich um keinen Kausalzusammenhang. Der Mechanisierungsprozeß wurde nicht ernsthaft von der Veröffentlichung literarischer und wissenschaftlicher Utopien beeinflußt. Mit Ausnahme von Bacons New Atlantis haben Utopien im wesentlichen keine Wirkung auf die Technik gehabt, wenngleich die eine oder andere, wie Bellamys Looking Backward, zu den späteren sozialen Folgen mancher zeitgenössischen Neuerungen beigetragen haben mag. (Bellamy lieferte sogar, ebenso wie Fourier mit seinen früheren Plänen für Phalanstére, einige notwendige konkrete Anregungen, was Marx und Engels bewußt vermieden haben.)
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Es wäre richtiger, zu sagen, daß im Gegenteil das außergewöhnliche Tempo des technischen Fortschritts die idealen Prinzipien der Utopien bestätigt und soziale Folgen gezeitigt hat, welche die Verfasser dieser Utopien wahrscheinlich sehr beunruhigt hätten. »Utopien«, sagte der russische Philosoph Berdjajew, »scheinen heute viel eher realisierbar zu sein als früher. Und wir stehen vor einer viel drückenderen Frage: Wie sollen wir ihre Verwirklichung verhindern ..., wie können wir zu einer nichtutopischen, einer weniger vollkommenen, aber freieren Gesellschaftsform zurückkehren?«
Nochmals, es geht nicht um die Mißerfolge der Mechanisierung, sondern um ihren Erfolg, die Erringung eines mühelosen Perfektionismus; um so notwendiger ist es, das Bild angeblicher sozialer Glückseligkeit, das unsere technologischen Utopien präsentieren, genauer zu betrachten. Der wirkliche Zweck der Utopien war, als Versuchsballons zu dienen, indem sie die kollektiven Termitenhügel, mit deren Errichtung wir beschäftigt waren, in der einen oder anderen Form vorwegnahmen. Die verschiedenen vollkommenen Zukunftsgesellschaften, die von den Utopisten angeboten wurden, sind in Wirklichkeit nicht Visionen eines neuen Goldenen Zeitalters, zu fern, um realisierbar zu sein; sie sind vielmehr subjektive Vorwegnahmen furchtbarer Realitäten, die sich dank der Technologie als nur allzu leicht erreichbar erwiesen haben.
Utopia ist, mit anderen Worten, die geheime Bestimmung der unsichtbaren, allumfassenden Megamaschine – das gleiche Ziel, das Teilhard de Chardin in kosmischen Begriffen und in einer seltsam euphorischen Stimmung als den Omega-Punkt darstellte.
Werfen wir einen kurzen Blick auf diese Warnsignale, bevor wir uns der Betrachtung des Endpunktes zuwenden.
Vorfabrizierte Utopien
Jeder, der die utopische Literatur der letzten zwei Jahrhunderte gelesen hat, besitzt eine weit bessere Vorstellung von der Gestalt der kommenden Dinge als ein Zeitungsleser, der fleißig die wahllos zusammengestellten Tagesneuigkeiten verfolgt. In der Zusammenschau zeigt sich, daß in diesen Utopien die allgemeine Struktur, die sich in der Gesellschaft entwickelte, eine Generation bis hundert Jahre im voraus sichtbar wurde.
Fügt man dem eine ausgiebige Lektüre von Science-Fiction hinzu – von Poe, Jules Verne und H.G. Wells bis Olaf Stapledon, ganz zu schweigen von der Menge jüngerer Weissagungen – dann erhält man eine fast hellseherische Prognose der heutigen Gesellschaft.
Schon 1883 beispielsweise beschrieb ein utopistischer Prophet nicht nur das elektrische Automobil, das lautlos über glatte Betonstraßen gleitet, sondern fügte noch ein Detail hinzu, das in den Vereinigten Staaten erst Ende der vierziger Jahre eingeführt wurde – die Leitlinie in der Straßenmitte*.
* Ismal Thiusen (Pseud.), The Diothas, or A Far-Look Ahead. New York, 1883.
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Die utopische Literatur hatte eine Eigenschaft, die sie über das für die mechanistische Ideologie typische Abteilungsdenken hinaushob: Sie versuchte bis zu einem gewissen Grad, die vielfältigen menschlichen Beziehungen in einer konkret begriffenen Gesellschaft zu behandeln. Und als Muster der Vollkommenheit stellten die wichtigsten Utopien eine totalitäre Gemeinschaft dar, so organisiert, daß ihre Beherrscher mit Hilfe der Maschine alle menschlichen Aktivitäten unter Kontrolle brachten, indem sie einen Großteil ihrer Funktionen auf mechanische oder elektronische Modelle übertrugen und die Arbeiter – »zu deren eigenem Vorteil« – unter strengstmöglicher Disziplin hielten.
Mit entwaffnender Naivität beschreibt Etienne Cabet, der Verfasser einer der einflußreichsten Utopien von der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, diese Organisation. Die Arbeiter, sagt er, sind »in so viele Gruppen geteilt, wie Teile erzeugt werden, und jede Gruppe stellt immer die gleichen Teile her. Es besteht so viel Ordnung und Disziplin, daß sie einer Armee gleichen.« Das sagt alles.
Mechanische Uniformität und menschliche Konformität sind Wesenszüge der vorfabrizierten Utopien des neunzehnten Jahrhunderts; aber es blieb der Chicagoer Weltausstellung von 1933 vorbehalten, dieses utopische Programm stolz über ihre Pforte zu schreiben, wortwörtlich: »Wissenschaft erforscht, Technologie führt aus, der Mensch gehorcht.«
Der Mann, der diesen Slogan prägte, hielt jene Schlußfolgerung zweifellos für so offenkundig und ihren Sinn für so positiv, daß sich jede weitere Erklärung erübrigte. Und es ist die köstlichste Ironie, daß der Titel der Ausstellung Das Jahrhundert des Fortschritts lautete.
In der Tat, Fortschritt! Der Mensch gehorcht. Doch hätte diese Art Fortschritt am Anfang der Entwicklung des Menschen vorgeherrscht, dann hätte dieser unterwürfig der Natur gehorcht und deren Bedingungen mit der geringstmöglichen Modifizierung seiner selbst und der Umwelt akzeptiert — obgleich doch sogar die niedrigsten Organismen immer noch aus der großen Zahl der Alternativen, welche die Natur bietet, jenen Platz und jene Lebensweise auswählen, die ihrer Beschaffenheit und ihrem Wesen am besten entsprechen.
In kaum anspruchsvollerer Form rollt immer noch die gleiche Art fossiler Utopien vom Fließband, obwohl die technologischen Zwänge heute von einer Raumrakete, einem Fernsehnetz, einem Computer oder einem Kernreaktor ausgehen mögen.
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Wer meine Beschreibung des ursprünglichen Mythos der Maschine in Erinnerung hat, wird erkennen, daß die klassischen Utopien der letzten zwei Jahrhunderte von demselben Mythos angeregt wurden, der in den Köpfen der antiken Baumeister, Bürokraten und Feldherren umging. Leider besaßen weder die Utopisten noch unsere realistischen politischen Führer genügend historische Kenntnisse, um vorauszusehen, daß die Wiedergeburt dieses Mythos von noch grausameren Kriegen und Revolutionen, von sadistischem Terror und psychotischen Verirrungen begleitet sein würde.
Heute noch, wo sie die Folgen bereits überblicken können, wenden sie geflissentlich den Blick ab, wie ein Historiker der Technologie in einem persönlichen Brief ehrlich zugegeben hat, um nicht gestehen zu müssen, daß ihre Weltanschauung einen grundlegenden Fehler hat.
Doch wenn die Utopisten auch nicht die möglichen Dysfunktionen ihrer idealen Systeme voraussahen und nicht ahnten, daß die Megamaschine, die die meisten von ihnen beschrieben, notwendigerweise eine von einer Minderheit manipulierte Vorrichtung zur Manipulierung der Mehrheit darstellte, so skizzierten sie doch ganz richtig die hervorstechendsten Merkmale des neuen technischen und sozialen Komplexes.
Nur in einer Hinsicht waren sie äußerst naiv: Sie dachten, sie hätten einen Zipfel von den berauschenden Möglichkeiten allgemeinen menschlichen Glücks erhascht, und wenn Utopia einmal erreicht wäre, würde die Menschheit fortan in ewiger Glückseligkeit leben.
Im Rückblick erweist sich eine der phantastischsten unter den Fortschrittsutopien des neunzehnten Jahrhunderts zugleich als eine der realistischsten: Bulwer-Lytton's The Coming Race (1871). In diesem Roman kam der Verfasser gerade durch seine freie Phantasie der späteren Wirklichkeit viel näher als seine vorsichtigeren Zeitgenossen, wie beispielsweise James Silk Buckingham.
wikipedia James_Silk_Buckingham *1786 in Cornwall (linker unterer Zipfel von England)
Bulwer-Lyttons scharfsinnige Intuition äußerte sich nicht zuletzt darin, daß er seine Utopie in das Erdinnere verlegte: Er prophezeite das unterirdische kollektive Gefängnis, das nicht nur die Eroberung der Natur durch den Menschen symbolisieren sollte, sondern auch dessen kriecherische Unterwerfung unter die Maschinen und deren Leistungen, die diese Eroberung erst möglich machten.
Ohne sich direkt auf The Coming Race zu berufen, planen Hunderte von geschäftigen Architekten und Ingenieuren, angeregt vom Bergwerk, von der Untergrundbahn und von unterirdischen Raketenkontrollzentren, heute ganz allgemein den nächsten Schritt der Großstadtentwicklung in eben dieser unnatürlichen Umgebung — oder verkörpern sie sogar schon in den ebenso trostlosen Gebäuden, die sich noch über die Erde zu erheben wagen.
Eine Generation nach Bulwer-Lytton griff der französische Soziologe Gabriel Tarde in seiner Utopie Untergrund-Mensch auf jenen Bereich zurück.
wikipedia Gabriel_Tarde *1843 in Südfrankreich
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Die Mitglieder der kommenden Rasse sind bereits im Besitz einer geheimnisvollen Energiequelle, Vril, genannt, die ihnen jene absolute Zerstörungsmacht verleiht, wie sie heute mit der Wasserstoffbombe verbunden ist. Aber in Bulwer-Lyttons Phantasie war diese Energie um so furchtbarer, als Vril miniaturisiert und in einem hohlen Stab transportierbar war. Indem Bulwer-Lytton diese neue Energieform als Schlüssel zur Macht über Menschen und Natur darstellte und seine Idealgemeinschaft unter die Erde verlegte, antizipierte er die Wesensmerkmale eines neuen totalitären Herrschaftssystems. Seine Voraussicht hatte nur einen Fehler: Er verfolgte nicht die Spuren, die zu den Quellen des Systems führten — eine allumfassende Organisation geschulter Experten und Verwalter, die nun mit Hilfe spezialisierter, nur einer Elite zugänglicher Kenntnisse und Mittel darangehen, das Leben der breiten Masse zu kontrollieren.
Statt diese hochspezialisierte militärisch-bürokratische Organisation zu beschreiben, schilderte Bulwer-Lytton die über Vril verfügende herrschende Minderheit als in ihrem Verhalten der britischen Aristokratie des neunzehnten Jahrhunderts bemerkenswert ähnlich — einschließlich ihrer losen Ehemoral und ihrer tiefen Verachtung für die niedrigeren Rassen, die Vril nicht kannten und daher den Herrschenden ausgeliefert waren. Diese Kombination von rücksichtsloser Macht und sexueller Ausschweifung der Elite sollte im Dritten Reich der Nazis wiederkehren. Daß Bulwer-Lytton, der vornehme Aristokrat, der Löwe in Lockenwicklern, wie seine Zeitgenossen ihn nannten, diese Phantasiebilder ersann, ist ein Hinweis darauf, daß der alte Mythos der Maschine im Unbewußten der Menschen, oder zumindest im Unbewußten der herrschenden Gruppen, wieder Gestalt angenommen hatte, lange bevor er offen zutage trat. Ironischerweise war das einzige unmittelbare Ergebnis dieses Traums von der Superenergie die Einbeziehung der Silbe Vril in die Markenbezeichnung eines einst berühmten britischen Produkts, des Fleischextrakts namens Bovril.
Bellamys rückwärtsgewandter Traum
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Nach Bulwer-Lytton scheint Edward Bellamys Utopie zu langweilig, um einen modernen Leser zu interessieren. Aber wie bei Bacons New Atlantis ist die Langeweile, die wir heute beim Lesen von Looking Backward empfinden, zum Teil der Tatsache zuzuschreiben, daß so viele von Bellamys kühnsten Vorschlägen bereits Selbstverständlichkeiten geworden sind. Die Wunder seines utopischen Gemeinwesens vom Jahre 2000 sind heute alltäglicher als die Schrecken von Orwells 1984, obwohl auch diese nahe genug sind, wenngleich noch mit dem Hochglanz des Modischen überzogen.
Gewiß konnte nichts irriger sein als das nüchterne Urteil eines Rezensenten im Bostoner Transcript im Jahre 1887, der meinte, das Buch enthielte nichts Unmögliches mehr, nur hätte Bellamy seine Vision um fünfundsiebzig Jahrhunderte weiter in die Zukunft verlegen sollen. Bellamys Phantasie war weitaus realistischer als der nüchterne gesunde Menschenverstand der Philister.
Bellamys Utopie wirkt heute seltsam, nicht sosehr wegen der Absurdität seiner Prophezeiungen als wegen der humanen Hoffnungen, die er an deren Erfüllung knüpfte. Denn trotz seiner Menschenfreundlichkeit und seiner demokratischen Ideale bezog Bellamy unbedacht unter dem Titel der allgemeinen Wohlfahrt die unerbittlichen totalitären Merkmale ein, vor denen Bulwer-Lytton zurückgeschreckt war. Bellamy war so verliebt in die ökonomischen Möglichkeiten umfassender Organisierung und Mechanisierung, wie in einer Armee, daß er ohne Zögern die militärische Organisation als Grundmodell seiner idealen Gesellschaft wählte und nur die Zwangsmethoden der alten Megamaschinen verfeinerte. Ähnlich wie Cabet, schlug dieser ungewöhnlich sensible Denker für den amerikanischen Kontinent eine totalitäre Organisation vor, welche die ältesten Herrschaftsmethoden in sich vereinen sollte: eine disziplinierte Arbeitsarmee, der ihre Aufgaben von einer zentralen Behörde zugeteilt werden – plus einer großen Bürokratie, die jeden Teil des Prozesses wirksam regelt und alljährlich das Gesamtprodukt gleichmäßig verteilt.
Kurz, Bellamy vertraute seine Idealgemeinschaft der Obhut der archetypischen Megamaschine an.
Was Bellamys Organisationsmethode noch bemerkenswerter macht, ist die Tatsache, daß die allgemeine Dienstpflicht so sehr im Gegensatz zu den Sitten der Neuen Welt stand, daß selbst ihre zeitweilige Einführung im Sezessionskrieg zu schweren Meutereien unter den Rekruten führte. In den Vereinigten Staaten wurde eine solche Organisationsweise immer noch – und mit Recht – als verhaßtes Symbol europäischer Tyrannei und Unterdrückung betrachtet, die nur im Extremfall, wenn die Existenz der Nation gefährdet war, angewandt werden durfte. Bellamy machte die Wehrpflicht – und hier erwies er sich wieder als scharfsichtiger Prophet – zu einer ständigen Einrichtung: nicht nur im Krieg, sondern auch im Frieden.
Looking Backward erweist sich also als das erste authentische Bild des Nationalsozialismus (deutscher Prägung) oder des Staatskapitalismus (russischer Prägung) in der heimtückischsten korrumpierenden Form, der eines Versorgungs- und Wohlfahrtsstaates, in dem die disziplinären Zwangsmittel zwar nicht abgeschafft, aber durch Massenbestechung gelockert sind.
Diese neue Form unterschied sich von der später in Rußland auf den alten zaristischen Grundlagen errichteten Sowjetherrschaft insofern, als sie von Bellamy als Ergebnis allgemeiner Wahlen und nicht eines bewaffneten Aufstands und einer harten Diktatur des Proletariats geschildert wird.
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Und vom Faschismus unterschied sie sich darin, daß sie Zwang im größten Maßstab vorsah, ohne zu Kerker und Folter greifen zu müssen. Wer den allgemeinen Regeln und Vorschriften nicht entsprach, wurde einfach ausgestoßen.
Bellamy glaubte anscheinend, die Notwendigkeit von Zwang oder Bestrafung umgangen zu haben, indem er das Thorndyke-Skinner-Prinzip der Lenkung durch Belohnung vorwegnahm: die Methode, mit der Dresseure Tiere zum Gehorsam erziehen und die Erlernung bestimmter Reaktionen beschleunigen. Die Gesellschaft wurde faktisch zu einem gigantischen Skinnerschen Taubenschlag oder Lernapparat. Der Köder war äußerst verführerisch und selbst nach kapitalistischen Prinzipien so plausibel, daß er in unserer Zeit wieder ausgelegt wird: nämlich ein gesichertes festes Einkommen, das jedem Staatsbürger gewährt wird. Das große Jahreseinkommen, in Form einer Kreditkarte zugewiesen (wieder ein hellseherisches Detail!), entsprach etwa 20.000 oder 25.000 Dollar zum heutigen abgewerteten Kurs; die Karte berechtigte den Bürger, im Gegenwert Güter aus den staatlichen Lagerhäusern zu beziehen; und mit diesem einfachen Mittel wurde jede andere Form von Produktion und Austausch aus der Welt geschafft.
Bellamy ließ einige geringfügige Abweichungen von diesem System zu: Der Dienstpflichtige durfte sich im Alter von 33 Jahren von der Zwangsarbeit pensionieren lassen — zum halben Lohn; und war einer ein Schriftsteller — Bellamy lächelt nicht einmal! —, dann konnte er unbegrenzt Tantiemen einstecken. Grundlegend war, daß als Gegenleistung für den Systemzwang Armut und Unsicherheit beseitigt wurden.
So überwand Bellamy zwei der schwersten Mängel der alten Megamaschine: Er ersetzte Bestrafung als Ansporn zur Arbeit durch Belohnung und er verteilte diese Belohnungen gerecht auf die ganze Gemeinschaft, anstatt einer herrschenden Minderheit einen ungebührlichen hohen Anteil zu geben und der versklavten und entrechteten Mehrheit den ihren vorzuenthalten, bis auf gelegentliche Ersatzvergnügungen an hohen Festtagen. Das entsprach, wie Arthur Morgan festgestellt hat, dem allgemeinen Modell, das die Inkas in ihrem Andenreich errichtet hatten, nur brachte Bellamy einige kleine Verbesserungen an. Im Alter von fünfundvierzig Jahren beispielsweise wurden alle Mitglieder der Arbeitsarmee nach unserer modernen salbungsvollen Ausdrucksweise Senioren, das heißt, sie waren von jeder Verpflichtung befreit, außer – zum ersten Mal, wohlgemerkt! – der Ausübung politischer Kontrolle. Wie Marie Louise Berneri sagt: »Die Freude, mit der die Bürger von Bellamys Gesellschaft ihre Pensionierung begrüßen, ist ein ausreichender Beweis dafür, daß die industrielle Dienstpflicht als Last empfunden wird.«
Das Äquivalent dieser Regierungsform wäre die Leitung einer Universität durch alte Herren; man kann sich kaum ein besseres Mittel vorstellen, um administrative Arthritis zu bewirken, falls irgendeine Institution jemals so schlecht beraten sein sollte, diese Methode einzuführen.
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Aber die Vorstellung militärischer Disziplin war in Bellamys Utopie so fest verankert, daß der Bürger das Wahlrecht erst ausüben konnte, wenn er aus der industriellen Armee ausgeschieden war.
Heute wissen wir aus dem Beispiel Sowjetrußlands, wie solch ein militarisiertes System funktioniert. Die Bildung eines unabhängigen Arbeiterbetriebsrates wäre Meuterei; die Befürwortung einer Veränderung der Produktionsmethoden oder -ziele wäre konterrevolutionärer Aufruhr. Was Kritik an der zentralen Verwaltung betrifft – das wäre Verrat. Das ist der bescheidene Preis, der für Utopia zu zahlen ist.
Ein Leben in Utopia sieht also folgendermaßen aus: Einundzwanzig Jahre Pflege und Erziehung, das heißt Konditionierung; drei Jahre Zwangsarbeit in den unangenehmsten Tätigkeitsbereichen; zwanzig Jahre in einem qualifizierten Beruf, den die Regierung bestimmt; und schließlich obligate Pensionierung im Alter von 45 Jahren, wobei die verbleibenden Lebensjahre der Freizeit gewidmet sind, mit keiner anderen Pflicht als der politischen Arbeit. Und da es in dieser Gesellschaft keine Einkommensunterschiede gibt, besteht die Belohnung für hervorragende Dienste hauptsächlich aus Ehrungen, Status, Autorität und Macht. Da Bellamy die Verfassung der Vereinigten Staaten zum Vorbild nahm, war der Staatspräsident zugleich Oberbefehlshaber der Arbeitsarmee; und da es diese Armee immer gibt, ist das politische System offenkundig eine Diktatur; und mit einem solchen Wirtschaftssystem befindet sich das Land ständig in einem kalten Krieg.
Heute sind die fortgeschrittenen Industriestaaten in so viele der von Bellamy vorgezeichneten Schablonen hineingeraten, daß es für viele Leute schwer geworden ist, sich eine andere Lebensweise vorzustellen, welche die von unserer Technologie gebotenen echten Fortschritte enthalten würde. Tatsächlich erscheint die Egalisierung von Einkommen, Pflichten, Opfern und Chancen so gerecht und demokratisch, so vorteilhaft, so ungefährlich, daß uns das eine in diesem Schema fehlende Element entgeht, weil wir es bereits fast zur Gänze verloren haben: nämlich, daß es zu diesem System keine Alternativen gibt.
Die Freiheit, welche diese Gesellschaft gewährt, ist die eines Soldaten auf Urlaub. Das Recht, den Dienst zu verweigern oder gegen das System zu arbeiten, ist nicht vorgesehen. Der amerikanische Farmer, der vor einiger Zeit gegen das Gesetz rebellierte, das ihn daran hinderte, mehr als die ihm zugebilligte Quote von Getreide anzubauen, und sei es nur, um die eigenen Schweine zu füttern, fand, als er auf der Suche nach Freiheit in das weit entfernte Australien emigrierte, daß er einen Fehler gemacht hatte: Selbst in diesem scheinbar offenen und freien Kontinent war er einer Reihe von ähnlich schwachsinnigen Gesetzen unterworfen.
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Bellamy macht kein Hehl aus dem totalitären Wesen seines Utopia. »Wenn ein Mensch sich weigert, die Autorität des Staates und die Unvermeidbarkeit des Arbeitsdienstes anzuerkennen, verliert er alle seine Rechte als Mensch.« Alle seine Rechte als Mensch? War dieser zartfühlende Reformer sich darüber klar, was diese Worte bedeuteten? Wenn nicht, dann kann es ihm unsere an Erfahrungen reichere Generation erklären: Sie kennt den Fall des sowjetrussischen Dichters, der als Arbeitsverweigerer eingesperrt wurde, weil er seine Zeit mit Übersetzen und dem Schreiben von Lyrik verbrachte – natürlich der falschen Art von Lyrik. Als Bellamy die harten, monolithischen Züge seines perfekten Gemeinwesens entwarf, war er in seiner Unschuld realistischer als der anti-utopistische Karl Marx, der vorhersagte, der Staat würde absterben, sobald der Sozialismus errichtet wäre.
Trotz all dieser Wesenszüge, die im Licht der heutigen politischen Erfahrung als so kaltblütig repressiv erscheinen, begrüßten viele Zeitgenossen Bellamys dessen künftiges Gemeinwesen enthusiastisch als einen offensichtlich wünschenswerten, wenn auch unwahrscheinlichen technokratischen Traum. Der glühende Wunsch, solch militarisierter Glückseligkeit teilhaftig zu werden, ist ein Hinweis auf die entwürdigenden und quälenden Bedingungen, unter denen die Mehrheit der Land- und Fabrikarbeiter selbst in einem freien Land damals lebte, sonst wäre die Popularität des Buches oder der günstige Eindruck, den es selbst auf so sanfte, feinfühlige Menschen wie Ebenezer Howard machte, schwer zu erklären; wies doch die Mentalität Howards, des Gründers der britischen Gartenstadt-Bewegung, eher in die entgegengesetzte Richtung – auf eine Vermehrung der Möglichkeiten freier Wahl und Initiative.
Was Looking Backward seinerzeit zu einem Bestseller machte – in zwei Jahren wurden 139.000 Exemplare der amerikanischen Ausgabe verkauft –, war, daß Bellamy die erklärten Ziele der wissenschaftlich orientierten Mechanisierung – Wohlstand, Sicherheit und Freizeit – als unmittelbar erreichbar hinstellte. Seltsamerweise verbarg er, auch vor sich selber, den Preis dieser Errungenschaften. War das militarisierte System einmal akzeptiert, dann konnten alle Komponenten vorfabriziert und in Massen produziert werden; denn die Megamaschine war auf Grund ihrer Produktionsbesessenheit zwangsläufig kommunistisch, unabhängig von ihrer politischen Form.
Doch die einzelnen Komponenten von Bellamys Utopie waren politisch neutral und moralisch harmlos; viele seiner praktischen Vorschläge oder seiner mechanischen Verbesserungen waren weder schädlich noch wertlos, manche waren sogar ausgezeichnet. Schon eine kurze Aufzählung von Bellamys Vorwegnahmen würde verschiedene empfehlenswerte Neuerungen ergeben, nicht minder wünschenswert als die Erfindungen, die es zu seiner Zeit bereits gab, von der Narkose bis zur Schreibmaschine, auf der ich diese Zeilen schreibe.
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Im Zeitalter der Turnüren und des Chignons sagte Bellamy eine Zeit voraus, in der Frauen mutig ihre Beine zeigen und ihrem Körper erlauben würden, sich natürlich zu entwickeln; im Zeitalter der Kohle und der rauchenden Schlote schilderte er rauchlose Städte mit elektrischer Heizung und Beleuchtung; als das Grammophon noch in den ersten Anfängen und das Telephon kaum mehr als ein Spielzeug war, beschrieb er eine Methode, um Musik und die menschliche Stimme mit Hilfe des Telephons auszustrahlen. Und er prophezeite unter anderem sogar die Organisierung des Einkaufs auf Grund von Musterkollektionen und den Verkauf von Massenartikeln in Warenhäusern. All dies ist tatsächlich eingetroffen, ebenso wie Roger Bacons Luftschiffe, Campanellas Automobile, Morus' Brutkästen und Francis Bacons Stiftungen für wissenschaftliche Forschung.
Diese vernünftigen, praktischen Ideen Bellamys hat H.G. Wells weiterentwickelt, der über Bellamys national begrenztes Utopia hinausging und seinem Modern Utopia planetarische Ausmaße gab. Unglücklicherweise waren weder Bellamys militärische Organisation noch Wells' Kastenorganisation der Samurai, die nicht einmal außerhalb ihrer Kaste heiraten durften, auch nur im mindesten modern, abgesehen von ihrer technischen Ausstattung: Organisation und Machtstreben gab es schon seit fünftausend Jahren.
Und obgleich diese Denker eine ungeheure Menge nützlichen Wissens über die physikalische Beschaffenheit des Universums und die Herstellung von Maschinen und maschinenähnlichen Strukturen besaßen, hatten sie doch fast gar kein Verständnis für das wiederholte Scheitern menschlicher Bestrebungen, wann immer versucht wurde, Menschen auf den Status von Maschinen herunterzudrücken. Den Menschen autonom zu machen, die quantitative Expansion unter Kontrolle zu halten, Kreativität zu fördern und vor allem die alten Traumata, die den Aufstieg der Zivilisation begleiteten, zu überwinden und schließlich auszumerzen – für diese elementare Notwendigkeit liefern die Utopien keinen Hinweis. Fast bis an sein Lebensende knüpfte Wells seine naive Hoffnung auf radikale, kollektive Verbesserungen an eine selbstlose Diktatur der Techniker – und zwar der Flieger!
Von der Utopie zur Kakotopie
Die utopische Literatur geht allmählich in Science Fiction über, und auf den ersten Blick sind ihre Ähnlichkeiten auffallender als ihre Unterschiede. Beide sind detailliert ausgearbeitete Phantasien, die weitgehend aus zeitgenössischen oder historischen Realitäten extrapoliert sind; beide schildern eine mögliche Zukunft; beide gehen auf die Möglichkeit neuer Gesellschaftsordnungen und Erfindungen ein.
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Selbst die Feststellung, daß Science Fiction viel offener fiktiv ist als die meisten Utopien, trifft kaum einen wesentlichen Unterschied, da auch manche Science Fiction Dingen, die später verwirklicht wurden, erstaunlich nahe gekommen ist. Arthur Clarke, der Doyen der zeitgenössischen Schriftsteller auf diesem Gebiet, bedauert immer noch, daß er eine Geschichte, die Radioübertragung via Telestar beschreibt, verkauft hat, anstatt sich von den Vereinigten Staaten ein Patent dafür geben zu lassen.
Nein, keine dieser oberflächlichen Unterscheidungen reicht aus. Das echte Kriterium der Science Fiction ist, daß die Perfektion, die sie anstrebt, ausschließlich im Bereich vorstellbarer wissenschaftlicher Erkenntnisse und technischer Erfindungen liegt; und daß die meisten Autoren gar nicht versuchen, irgendeinen sinnvollen Zusammenhang mit menschlichem Wohlergehen oder menschlicher Weiterentwicklung herzustellen.
Heutzutage wird der Begriff Science Fiction leider so allgemein verwendet, daß er alle magischen Praktiken alten Stils – selbst Schwarze Magie – und psychotische Wünsche einschließt, und manche dieser psychologischen Verirrungen und morbiden Zwangsvorstellungen sind, wie C. S. Lewis festgestellt hat, in vielen technisch fortgeschrittenen Phantasien enthalten.
Ein nicht uninteressantes Beispiel ist jenes, das die Menschheit als von einer Invasion superintelligenter Ameisen bedroht zeigt, die fähig sind, graphische Symbole zu benützen. Aber in der Hauptsache entwickelt Science Fiction nur die düstere nordische Prophezeiung des Sieges der Riesen und Zwerge über die Götter der Liebe und Weisheit weiter. Ihre Utopie ist keineswegs ein schöner Traum, ihre Phantasien enden oft in einer Kakotopie oder in einem Alptraum, der leicht Wirklichkeit werden könnte.
wikipedia C._S._Lewis *1898 in Belfast wiktionary Kakotopie wikipedia Dystopie wikipedia Marjorie_Nicolson *1894 bei New York
Kepler, mehr noch als Poe, ist als der eigentliche Ahnherr der modernen Science-Fiction-Autoren anzusehen; aber Majorie Hope Nicolson hat in ihrer bewundernswert tiefschürfenden Studie über Mondreisen gezeigt, daß die literarischen Vorläufer der Science Fiction noch viel früher in der menschlichen Geschichte aufgetreten sind und nicht losgelöst von den wissenschaftlichen und technischen Vorhaben betrachtet werden können, von denen sie mit der Zeit überholt wurden. Tatsächlich bestand stets eine Wechselwirkung, und es wäre naiv, anzunehmen, die wissenschaftliche Vernunft sei immun gegen Eingebungen aus dem Unbewußten.
Aber das siebzehnte Jahrhundert markiert einen neuen Ausgangspunkt für dieses Genre; und die zwei Reisen zum Mond, die im Jahre 1683 beschrieben wurden. Man in the Moon von Francis Godwin und Discovery of a New World von John Wilkins – beide, vielleicht bezeichnenderweise, Bischöfe –, wiederholen mit Variationen Keplers Traum.
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Beide kreisen um die Möglichkeit des Fliegens; beide sind auf Entdeckung orientiert; beide versuchen, die Grenzen der Erde zu überschreiten; und wenn sie auch die Hilfe von Vögeln oder mechanischen Geräten anstreben, so nicht, um die Freiheit der Luft zu genießen, was ein wahrhaft menschliches Verlangen wäre, sondern bloß, um abstrakte Distanzen zu überwinden und ihre Neugierde zu befriedigen, in einer Weise, die bereits vom mechanischen Weltbild bestimmt ist.
All das kommt klar in Wilkins' Meisterwerk zum Ausdruck. Zehn Jahre nach der ersten Ausgabe von Discovery of a New World in the Moon publizierte er seine Mathematical Magie. Sie besteht aus zwei Büchern: Archimedes, or Mechanical Powers, und Daedalus: or Mechanical Motions. In diesem allgemeinen Rahmen gehen Wissenschaft, Technik und Phantasie Hand in Hand.
Zweieinhalb Jahrhunderte später schrieb H. G. Wells, der vermutlich weder Keplers Traum noch Wilkins' Discovery jemals gelesen hatte, seine First Men in the Moon und entdeckte die gleichen grauenhaften Kreaturen und die gleichen unterirdischen Wohnstätten, die Kepler dargestellt hatte. Vom Fliegen mit Hilfe des Schlafs bis zum Fliegen mit Unterstützung der Vögel und schließlich zum Fliegen in einem mechanischen Apparat – bemerkenswert Le Folies' erste elektrische Flugmaschine – änderten sich nur die technologischen Hilfsmittel; der Traum und die Impulse, die ihn motivierten, blieben die gleichen.
Es ist nicht notwendig, die ganze Science-Fiction-Literatur anzuführen, um klarzumachen, was ich sagen will — nämlich, daß ihr größter Nutzen, so wie bei den Utopien, nicht darin besteht, zu zeigen, was die moderne Zivilisation anstreben und erreichen sollte, sondern darin, vor dem möglichen Unheil zu warnen, dem wir mit Voraussicht begegnen müssen, um es unter Kontrolle zu bringen, abzuwenden oder zu verhüten.
Ich will jene zuversichtlichen Prophezeiungen keineswegs als leere Phantasterei abtun, ja ich meine, daß wir verpflichtet sind, sie ernst zu nehmen, nicht etwa so, wie viele Science-Fiction-Autoren meinen, daß wir in noch wahnsinnigerem Tempo auf ihre projizierte Zukunft zurasen, sondern so, daß wir diese Zwänge überwinden und auf ein grundlegend anderes Ziel Kurs nehmen, das dem Charakter der organischen Entwicklung und den Bedürfnissen der menschlichen Persönlichkeit angemessener ist.
Es ist nicht der unbedeutendste Aspekt der Klassiker der Science Fiction, daß sie, auch wenn sie keine Ungeheuer wie Keplers Prävolvaner und Subvolvaner darstellen, anscheinend aus den tiefsten Schichten des Unbewußten Vorahnungen von Katastrophen an die Oberfläche bringen.
Selbst in H.G.Wells' früher Story of the Days to Come mit ihrer zuversichtlichen Darstellung einer großen Fülle neuer technischer Prozesse, effizienter Maschinen und großangelegter Organisationen ist der Pessimismus ebenso stark wie der E. M. Forsters in einer ähnlichen Phantasie von einer abgedichteten mechanisierten Welt in The Machine Stops – wo die Maschine eine universale Klimaanlage ist, deren plötzlicher Stillstand absolut lebensgefährlich wird.
wikipedia E._M._Forster *1879 in London wikipedia Die_Maschine_steht_still
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Die meisten technischen Vorrichtungen, die Wells in der Phantasie vorweggenommen hat, erwiesen sich als überaus praktisch — das Flugzeug, das Panzerfahrzeug und die Atombombe, desgleichen der standardisierte Lehrfilm und das Fernsehen. Aber die globale Große Gesellschaft, die Wells als das rationale Nebenprodukt dieses technologischen Fortschritts hoffnungsvoll voraussagte, erscheint nun weiter entfernt als je zuvor; der Fehlschluß ergab sich aus Vernachlässigung der menschlichen Faktoren, die er in seine Voraussagen nicht einbezogen hatte.
Unwillkürlich, entgegen allen seinen Hoffnungen und Überzeugungen, murmelte Wells immer wieder: Daraus kann nichts Gutes hervorgehen.
Vielleicht enthüllt nichts so sehr den unterschwelligen Pessimismus der Science-Fiction-Autoren wie das Bekenntnis Arthur Clarkes am Schluß von Profiles of the Future – ein Buch, in dem er die neuen Großtaten der Technik, die er zuversichtlich noch für das nächste Jahrhundert voraussagt, liebevoll beschreibt und anpreist. Plötzlich verschwindet der verzückte Traum von der alles bezwingenden, wissenschaftlich hergestellten, weltumfassenden und himmelserforschenden Technologie, und Clarke kehrt zu merkwürdig archaischen Symbolen zurück, die Sehnsüchte, Erfüllungen, Geisteszustände ausdrücken, welche von den Hohenpriestern der Megatechnik oder von ihm selbst als Science-Fiction-Prophet keinen Augenblick lang geteilt wurden. Am Ende des Kapitels Aladdins Lamp sagt Clarke:
»So dürfen wir hoffen ..., daß eines Tages unser Zeitalter der lärmenden Fabriken und überquellenden Lagerhäuser zu Ende gehen wird ... Und dann werden unsere Nachkommen, nicht mehr mit Besitztümern überhäuft, sich an das erinnern, was viele von uns vergessen haben — daß die einzigen Dinge auf der Welt, auf die es ankommt, solche Imponderabilien sind wie Schönheit und Weisheit, Lachen und Liebe.«
wikipedia Arthur_C._Clarke *1917 in Westengland Profiles of the Future: An Inquiry into the Limits of the Possible (1962), New York: Harper & Row -- Non-fiction
wikipedia 2001:_Odyssee_im_Weltraum wikipedia Imponderabilien
Man weiß kaum, ob man lachen soll über die Sentimentalität dieser Passage, die in Anbetracht alles vorher Gesagten hohl und lächerlich wirken muß, oder weinen über die Armseligkeit und Sinnlosigkeit all der Menschenleben, die nach Clarkes eigenem Bekenntnis darauf verschwendet wurden, ein technologisches Wunder nach dem anderen zustandezubringen.
Gewiß sind sowohl Spott als auch Tränen angebracht. Schönheit und Weisheit, Lachen und Liebe waren nie von technischer Erfindungsgabe abhängig — obgleich sie leicht zerstört werden können, wenn man den materiellen Existenzmitteln allzuviel Aufmerksamkeit schenkt oder versucht, ein Spiel zu spielen, das alle menschlichen Fähigkeiten der Entwicklung abstrakter Intelligenz und der elektromechanischen Simulation organischer Vorgänge unterordnet.
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Was Clarke hier sagt, ist faktisch das gleiche, das H.G. Wells, sein überzeugendster Vorgänger, in seinem letzten Verzweiflungsseufzer unmittelbar vor seinem Tode stammelte: »Der Geist ist am Ende seiner Weisheit.«
Der Geist selbst, im vollen Umfang seiner Wirkungsmöglichkeit, bietet überhaupt keinen Anlaß zu Wells' niederschmetterndem Eingeständnis. Aber die neue Art technisch konditionierten Geistes, abgeschnitten vom Gesamtorganismus und darauf trainiert, keine anderen Ziele zu verfolgen als Macht und Kontrolle, dieser Geist ist tatsächlich am Ende seiner Weisheit: enthumanisiert, besessen, manisch, blindlings selbstzerstörerisch, ohne auch nur den Selbsterhaltungsinstinkt eines Tieres. Wells' Unbewußtes hatte ihm die Wahrheit gesagt, während seine scharfe rationale Intelligenz ihn betrogen hatte.
detopia-2022: Hm. Ja. Das letzte Buch von Mister Wells ist nicht erheiternd und man weiß nie so richtig, worum es ihm geht. Aber von der Grundaussage ist es schon ein großer Wurf - für die Liebhaber des Pessimismuses. "Tatsache ist", dass bei und in und trotz aller gegenwärtigen Krisen und Kriege, alle so weitermachen wollen, wie bisher (nur: noch besser, schneller, stärker). Keiner kommt auf die naheliegende Idee (keiner "oben", aber auch keiner "unten"), dass es "so" (wie bisher) nur zum Ende "weitergehen" kann. (Es gibt auch Ausnahmen, wie ein Pazifismusartikel für die Ukraine auf Telepolis vor wenigen Tagen.). Der menschliche "Geist" KANN also "nicht anders". Er IST - tatsächlich - am Ende seiner (gedanklichen) Möglichkeiten! Er kann keine neuen Gedanken fassen und womöglich nichteinmal erfassen (wenn man diese ihm vorsetzt, "vordenkt".). Ein "Neues Denken" forderte Michail Gorbatschow ganz richtig vor 35 Jahren.
Tatsache ist, daß die ungeheuren Möglichkeiten, die den Wissenschaftlern, Erfindern und Administratoren heute zur Verfügung stehen, deren schlimmste technologische Phantasien aufgebläht haben und ihnen selbst zu einer Freiheit von vernünftigen Hemmungen verhalfen, wie es sie bis dahin nur in der Form nächtlicher Träume gegeben hatte. Infolgedessen sind ihre brillantesten Intelligenzbeweise von den verwirrten Hervorbringungen der Popkünstler und ihrer ebenso kurzlebigen Nachfolger nicht zu unterscheiden.
Daß solche grellen Phantasien sich heute relativ rasch in erfolgreiche Arbeitsmodelle umwandeln lassen, macht sie um so gefährlicher; denn sie sind unberührt von jeder Realität, mit Ausnahme jener, die in ihrer eigenen lebenszerstörenden Ideologie enthalten ist. Nur Swifts satirische Beschreibung der Projekte, die die Bürger Laputas an der Großen Akademie von Lagado entwickeln, wird dem gegenwärtigen technologischen Exhibitionismus gerecht.
Kurz, die Fähigkeit, mathematische Theoreme und subatomare oder molekulare Kräfte in neue Erfindungen umzusetzen, ohne auf technische Hindernisse oder ernüchternde menschliche Hemmungen zu stoßen, hat unsere herrschende Technologie selbst in eine Art Science Fiction verwandelt.
Was am Abend in der wissenschaftlichen Phantasie auftaucht, kann am nächsten Morgen oder ein Jahr darauf im wirklichen Leben erscheinen. Wie Harvey Wheeler es formulierte: »Schnelle Information schafft schnelle Krisen.« Dieser praktische Sieg macht die Phantasien nicht weniger beunruhigend für ihre Opfer — jenen Teil der Menschheit, der von ihnen unterjocht und bedroht wird.
wikipedia Jonathan_Swift *1667 in Dublin wikipedia Gullivers_Reisen en.wikipedia Harvey_Wheeler *1918 in Texas
Dies ist eine Situation, die in der ganzen menschlichen Geschichte nicht ihresgleichen hat. In der Vergangenheit durchlief jede Erfindung eine lange Probezeit von ihrem ersten Auftauchen in der Phantasie über die Zwischenstadien der Ausarbeitung und des Experiments und der schließlichen Verwirklichung als Apparat oder Maschine. Je kühner die Konzeption, desto langsamer war der Prozeß, da oft erst die notwendigen Werkzeuge und Hilfsmechanismen erfunden werden mußten.
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Gegen die abrupte, oft katastrophengleich hereinbrechende Einführung einer Erfindung war die Gesellschaft früher durch eine dicke Kruste von Gewohnheit, Brauch und traditioneller Weisheit geschützt, ergänzt von natürlicher geistiger Trägheit. Das Prüfen und Testen einer Erfindung gab genügend Zeit, nicht nur zur Überwindung der ihr anhaftenden Fehler, sondern auch, um die Gemeinschaft darauf vorzubereiten — obwohl diese Barrieren nicht immer genügend sozialen Schutz boten, wie wir an den himmelschreienden Übeln, die das Fabriksystem mit sich brachte, ersehen können.
Heute stehen wir genau der umgekehrten Situation gegenüber. Hindernisse solcher Art wurden niedergerissen; und das jüngste technische Projekt verlangt, anstatt sich bewähren zu müssen, bevor es anerkannt und akzeptiert wird, von der Gesellschaft um jeden Preis sofort übernommen zu werden; jedes Zögern gilt als sträflich, oder, wie Ogburn es einmal naiv ausdrückte, als kulturelle Rückständigkeit. Daß die Technik oft hinter der Kultur zurückbleibt, daß beispielsweise die Effizienz des Fließbands, vom Menschen aus gesehen, ein Merkmal sozialer Rückständigkeit sein könnte, ist den Exponenten wahllosen technologischen Fortschritts offenbar nie in den Sinn gekommen.
Aber, wohlgemerkt, die universale Gesellschaft, die der chinesische Philosoph Mo Ti skizziert hat, brauchte mehr als zweitausend Jahre, bis die technischen Mittel — Radio, Fernsehen und Luftfahrt geschaffen waren, die sie realisierbar machen sollten. Das Nachhinken der heutigen Technologie hinter höherer moralischer Einsicht sollte nun schon offenkundig sein.
wikipedia Mozi *-500 in Nordchina
So bleiben in dem Augenblick, da die Kräfte der Technik entfesselt sind, deren Zwänge und Besessenheiten ungemildert durch die Realität, da die einzige Realität, die diese Gesellschaft voll akzeptiert, jene ist, die diese materialisierten Psychosen und fixen Ideen verkörpert. Unter diesen Umständen wird die Technik zur patentierten Irrationalität.
Schöne neue Welt
Eine Zusammenfassung all dessen, was in den Konzepten von einer Neuen Welt, von Fortschritt, von Utopie und von Science Fiction berührt wurde, ist bei Aldous Huxley zu finden. In seinem Buch Schöne neue Welt vollendete er den Satz, dessen erste Worte Johannes Kepler gesprochen hatte.
Obwohl Huxleys Buch 1932 herauskam, in einem Augenblick, da die Wirtschaft der westlichen Welt sich in einem Zustand panischen Bankrotts, am Rande des totalen Zusammenbruchs, befand, war jeder Teil seiner Anti-Utopie bereits in Ansätzen und Rudimenten sichtbar; denn das Wissen, auf dem sie beruhte, hatte an Schwung, Kraft und Masse gewonnen wie ein gigantischer Schneeball, der seit 1543 bergab rollte.
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Schöne neue Welt war als tolle Satire gedacht, deren absurdes Zukunftsbild dazu dienen sollte, den technokratischen Glauben zu erschüttern, der sich — heute erscheint das recht seltsam — im Ford-Autofließband verkörperte, welches damals als vorbildlich galt, weil dort der gewöhnliche Arbeiter ganze fünf Dollar pro Tag erhielt!
Eine solche Satire kann nur wirksam sein, wenn ein Gegensatz besteht zwischen der tatsächlichen Welt und der menschlichen Lebensnorm, die jedermann mehr oder weniger gutheißt. Aber die technologischen Veränderungen der letzten vierzig Jahre waren so zahlreich gewesen und so rasch erfolgt, daß dieses Buch sehr bald seine satirische Wirkung verlor: Huxleys scheinbar krasse Karikatur wurde zur Realität. Die kontrastierende Norm war fast völlig verschwunden.
In der Zeit, als Huxley schrieb, schien der manisch-depressive Zyklus der kapitalistischen Wirtschaft einen äußersten Tiefpunkt erreicht zu haben, selbst in Ländern wie Deutschland und England, wo in den vorangegangenen fünfzig Jahren umfassende Sozialversicherungssysteme eingeführt worden waren. Die Unmöglichkeit, ein hohes Produktionsniveau aufrechtzuerhalten, ohne Einkommen und Güter gerechter zu verteilen, sprang jedermann ins Auge. Die einzige Alternative war, vom Standpunkt der damaligen Machtideologie, entweder Pyramidenbau oder Kriegsvorbereitung.
In den Vereinigten Staaten hofften jene, die an den alten Hypothesen vom automatischen Fortschritt festhielten, immer noch verzweifelt auf irgendeine neue Erfindung, irgendein neues Großunternehmen, das die Räder wieder in Gang bringen würde; Fertigteilbauweise, fahrbare Häuser, billige, sichere Flugzeuge oder Minigolfplätze wurden abwechselnd als Mittel präsentiert, um die Krise zu beenden.
Mittlerweile war die Situation so verzweifelt geworden, daß viele für den Augenblick alle Hoffnung auf weiteren Fortschritt aufgaben; statt dessen wandten sie sich den alten Formen der handwerklichen Produktion und der Naturalwirtschaft zu; es gab sogar Bergbaugemeinden, wo nur die steinzeitlichen Künste der Jagd und des Fischfangs die Familien vor dem Verhungern bewahrten. Kurz, die Volkswirtschaft war bankrott, zumindest in den Vereinigten Staaten, und fiel in eine primitivere Form zurück; in manchen Industriestädten nahmen Tauschhandel und Bezugscheine die Stelle von Geld ein.
Zu diesem Zeitpunkt schien Huxleys Schöne neue Welt noch viel zu weit weg, um beängstigend zu sein.
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Doch weit entfernt davon, einen Rückfall der Zivilisation in Stammesanarchie, Zersplitterung in isolierte Kleingemeinden und handwerkliche Kleinproduktion vorherzusagen, trieb Huxley zuversichtlich die alten wissenschaftlichen Phantasien um viele Jahrhunderte voran, in ihr eigenes spezifisches Tausendjähriges Reich. Er schilderte eine hochzentralisierte und hochdisziplinierte Weltordnung, in der jeder Aspekt des Lebens kontrolliert und bevormundet wird. Fixierung und Konformismus, nicht Dynamik und Expansion, waren die neuen Ziele. Aber Huxley ging weit über die älteren Vorstellungen von Weltraumreisen, interplanetarischen Zusammenstößen und Kriegen hinaus.
Die Ungeheuer, die diese technokratische Utopie bewohnten, waren nicht so, wie Kepler sie sich auf dem Mond vorgestellt hatte; sie waren vielmehr bewußt zu dem Zweck erzeugt, jeden Teil der Existenz, vor allem die menschlichen Entwicklungsmöglichkeiten, unter zentraler wissenschaftlicher Kontrolle zu halten.
Huxley hatte genügend Vorstellungskraft, um zu erkennen, daß der höchste Machttraum nicht nur Kontrolle über die äußere Umwelt, sondern Kontrolle über den Menschen selbst ist: nicht nur durch genetische Umformung seines Körpers, sondern auch durch biochemische Konditionierung seines ganzen Organismus, nicht zuletzt seines Geistes, von Geburt an.
Die vorsätzliche Zerstörung des organischen Erbes des Menschen beginnt in der Brut- und Konditionierungszentrale mit außeruterinärer Schwangerschaft, durch eine Kombination von chemischen Injektionen und Schockbehandlung, noch ehe der Embryo aus der Inkubationsflasche herauskommt. Von der sorgfältigen Auswahl der Spermatozoen und der Ova angefangen, ist es das Ziel der wissenschaftlichen Manipulatoren, ein strenges Kastensystem zu schaffen, eine biologische Hierarchie, absteigend von den höchsten Intelligenzen, den Alphas, zur Ausübung der Kontrolle bestimmt, über die Betas bis zu den Epsilons, den Menschen mit der geringsten Intelligenz; sie alle lernen von klein auf, gefügig eine wissenschaftlich perfektionierte Welt zu akzeptieren, in der nichts, nicht einmal schöpferische Tätigkeit, autonom ist — nur das System als solches.
Bei der Schilderung dieser Welt nahm Huxley jene Aspekte der Umwelt als gegeben an, die bloße Extrapolationen der Tendenzen seiner Zeit waren: Wolkenkratzer, die die damals übliche Höhe um ein Mehrfaches überstiegen, Lufttaxis und hundert andere technische Vorrichtungen, Geräte und luxuriöse Einrichtungen. Und er erkannte, daß das verhängnisvollste an diesen Triumphen mechanischer und biologischer Kontrolle darin bestand, daß sie eine völlig langweilige, sinnlose Lebensweise bewirken würden, die zu einer Gegenbehandlung nach den gleichen Prinzipien herausfordern müßte.
Huxley wußte, daß radikales genetisches Eingreifen viele Eigenschaften beseitigen würde, die jenen unerwünscht waren, welche die völlige Unterordnung des Menschen unter die Megamaschine anstrebten.
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Aber er sah auch, daß weitere Anpassungsmaßnahmen notwendig sein würden: So würden zum Beispiel potentielle Mütter, der Erfahrung der Schwangerschaft beraubt, eine Hormonpille brauchen, um diese Erfahrung nachzuvollziehen; und zusätzlich wäre eine ganze Reihe von Sedativen, Tranquillizern und Aphrodisiaka erforderlich, um den Organismus im Gleichgewicht zu halten. Einige davon würden chemischer Natur sein, andere, wie die »Fühlkinos«, würden ein raffinierteres, geistloses Äquivalent des gewöhnlichen Kinos sein. (Von einem Fühlkino, in dem eine Liebesszene auf einem Bärenfell dargestellt wird, heißt es bei Huxley: »Man spürt jedes einzelne Bärenhaar.«)
Aber er konnte nicht ahnen, daß es in den sechziger Jahren solche Fühlkinos massenweise zur allgemeinen Unterhaltung geben würde. Während Bulwer-Lytton und Wells glaubten, eine unterentwickelte Bevölkerung könnte nur mit Zwang niedergehalten werden, sah Huxley darin die Schwäche der meisten früheren Formen des Absolutismus und meinte, daß durch parasitäre Übersättigung, ergänzt durch Tastreize und häufige Orgasmen, eine noch besser gesicherte Herrschaftsform zu erzielen wäre. Der pornographische Jahrmarkt.
In der Vergangenheit haben manche erfolgreiche Herrscher sich diese Schwäche zunutze gemacht: Hat Augustus Caesar sich nicht die Popularität seines kaiserlichen Regimes durch die Wiederherstellung der Saturnalien gesichert? Und hat Lorenzo di Medici nicht tolle Karnevale veranstaltet, deren sexuelle Orgien die Bürger von Florenz den Verlust der Freiheit vergessen ließen?
Huxley, der Hitler vorausahnte, erkannte, daß solche Korruption systematischer und allgemeiner betrieben werden konnte, was den Beherrschern des Systems wirksamere Macht verlieh. So wird sexuelle Promiskuität zur Pflicht; und da die Pille noch nicht erfunden ist, geht jedes Mädchen mit einem offen zur Schau getragenen Patronengürtel mit Verhütungsmitteln herum, bereit zu sofortiger Paarung.
Abgesehen von den Arbeitspflichten ist jedermann auf einen infantilen Traumzustand reduziert, und selbst die überlegenen Alphas, die herrschende Klasse, sind — wie es heute bereits der Fall ist — verpflichtet, infantil zu sein, wann immer es möglich ist. Durch die tägliche Verabreichung von Soma-Tabletten und durch Hypnopädie — elektronischen Schlafunterricht — werden gefügige Konformität und Gehorsam gesichert. Die unverzeihlichen Sünden sind: allein sein zu wollen, wählerisch zu sein, »anders« zu sein, autonom zu sein. Selbst die Alphas dürfen von ihrem vorgeschriebenen Muster nicht abweichen.
So weit hergeholt erschien Huxley selber diese Phantasie, daß er seine Schöne neue Welt in das siebente Jahrhundert »nach Ford« verlegte — was heute aus vielen Gründen sonderbar anmutet. Doch zu seiner eigenen Bestürzung, wie er in Brave New World Revisited bekannte, waren manche der abstoßendsten Züge seines entmenschten, ja enthirnten Weltstaats bereits existent oder im Stadium ernsthafter Versuche — noch ehe ein Lebensalter vergangen war; und viele weitere Züge sind seither Wirklichkeit geworden.
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In den nachfolgenden Jahren wurden die Konturen dieses Systems immer deutlicher; und das Scheinleben, das der Menschheit bevorsteht, sobald ihre totale Unterwerfung erst einmal vollzogen ist, zeichnet sich mit größerer Klarheit ab.
Nach künstlicher Befruchtung und außeruterinärer Schwangerschaft (Muller) kommt die automatisierte Konditionierung des Säuglings in einem isolierten und verschlossenen Bettchen (Skinner); dann unterrichten Lehrmaschinen (Skinner und andere), die in abgeschlossenen Zellen ohne unmittelbar menschliche Lenkung operieren, das heranwachsende Kind; ein System elektronischer Apparate verzeichnet Träume für Computeranalysen und Persönlichkeitsberichtigung, während ein anderes für programmierte Organisation sorgt; ein fortwährendes Bombardement mit sinnlosen Botschaften massiert das genormte Gehirn (McLuhan); eine ferngelenkte automatisierte Landwirtschaft im großen Maßstab liefert die Nahrungsmittel (Rand); zentrale Computerstationen besorgen mit Hilfe von Robotern alle häuslichen Pflichten, von der Planung der Mahlzeiten und des Einkaufs bis zur Hausarbeit (Seaborg); kybernetisch gesteuerte Fabriken erzeugen eine Überfülle von Gütern (Wiener); von einer Zentrale automatisch gesteuerte Privatautos (M.I.T. und Ford) befördern Fahrgäste auf Hochstraßen in unterirdische Städte oder auch zu Sternenkolonien im Weltraum (Dandridge-Cole); Computerzentralen treten an die Stelle der politischen Entscheidungsträger, und ein ausreichender Vorrat an Halluzinogenen gibt den verkümmerten Menschenwesen das ekstatische Gefühl, lebendig zu sein (Leary).
Mit Hilfe von Organtransplantationen (Barnard und andere) wird dieses Scheinleben erfolgreich auf ein oder zwei Jahrhunderte verlängert.
Schließlich werden die Nutznießer des Systems sterben, ohne einen Augenblick lang erkannt zu haben, daß sie nie gelebt hatten.
Inzwischen wird eine einzige abtrennbare Raumkapsel, die »erste perfekte Umwelt« (Fuller), jedem Menschen erfolgreich als Wiege, Schulraum, Wohnhaus und schnelles Transportmittel (automatisches Auto oder Rakete) dienen, bis am Ende die Kapsel samt ihrem Bewohner in einem Superkrematorium eingeäschert — oder in ein Tiefkühlzentrum gebracht wird, um für chirurgische Zwecke konserviert zu werden, falls man sie nicht zwecks späterer Wiederbelebung auf dem Mars aufbewahrt.
Die andere verlockende Möglichkeit, die jetzt erwogen wird, wäre, die organischen Verfallsprozesse soweit abzubremsen, daß diese kaum noch menschenähnliche Null »unsterblich« würde.
Es bleibt noch ein weiterer Schritt zu tun, den Huxley seltsamerweise übersehen hat, während Samuel Butler und Roderick Seidenberg daran dachten. Und zwar werden die Führer, die diesen Supermechanismus aufgerichtet haben, am Ende dessen Opfer sein; denn wenn die planetarische Supermaschine ihr Endstadium seelenloser Perfektion erreicht hat wird die menschliche Intelligenz, deren Werk dies war, völlig absorbiert – und somit eliminiert sein.
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Die letzte Errungenschaft des Menschen, auf dem Gipfel seines Fortschritts, wird also darin bestehen, einen unbeschreiblichen elektronischen Gott zu schaffen; eine Gottheit, für die ihr gegenwärtiger Hauptprophet, Marshall McLuhan, bereits eine entsprechend inkohärente und krampfhaft sinnlose Heilige Schrift verfaßt hat.
Doch lange bevor es zu diesem Endstadium kommt, wird höchstwahrscheinlich ein Weltkrieg mit Wasserstoffbomben oder wissenschaftlich gezüchteten Pestbazillen noch schneller ein ebenso totales Ende herbeiführen.
Dieses ungeheure, noch ausständige totale Menschenopfer kann nicht in den rationalen oder wissenschaftlichen Kategorien bewertet werden, die jene bevorzugen, die das System geschaffen haben; es ist - ich wiederhole - ein im wesentlichen religiöses Phänomen. Als solches weist es eine starke Parallele mit den alten Lehren des Buddhismus auf, bis zu der Tatsache sogar, daß es den Atheismus des Prinzen Gautama teilt. Was ist die Eliminierung des Menschen aus dem Prozeß, den faktisch er entdeckt und vervollkommnet hat, mit dem verheißenen Ende allen Ringens und Strebens, anderes als Buddhas endgültige Flucht aus dem Kreislauf des Lebens?
wikipedia Samuel_Butler wikipedia Siddhartha_Gautama *-563 in Nordindien
Ist die totale Automation erst einmal vollendet und universal, so bedeutet dies totalen Verzicht auf Leben und schließlich totale Ausrottung; eben jene Flucht ins Nirwana, die Prinz Gautama als den einzigen Weg gesehen hat, auf dem der Mensch sich von Kummer, Schmerz und Unglück befreien kann.
Wird der Lebensimpuls unterdrückt, dann übt diese Doktrin, wie wir wissen, eine ungeheure Anziehungskraft auf die Massen der Enttäuschten und Entmutigten aus; einige Jahrhunderte lang dominierte der Buddhismus in Indien und breitete sich über ganz China aus. Aus ähnlichen Gründen erfährt er heute eine Wiederbelebung.
Doch wohlgemerkt: Jene, die ursprünglich diese Auffassung von der letzten Bestimmung des Menschen akzeptierten und dem Tod auf halbem Wege entgegengehen wollten, gaben sich nicht die Mühe, zu diesem Zweck eine komplizierte Technologie zu schaffen; sie gingen bezeichnenderweise nicht weiter als bis zur Erfindung der wasserbetriebenen Gebetmühle. Stattdessen praktizierten sie konzentrierte Meditation und innere Loslösung, Vorgangsweisen, die mit technologischen Eingriffen so wenig zu tun hatten wie die Luft, die sie einatmeten. Und diese Art der Zurückziehung brachte ihnen unerwarteten Lohn, wie die Anbeter der Maschine ihn nie kennenlernen werden. Anstatt ihre Fähigkeit, Genuß oder Schmerz zu empfinden, abzutöten, intensivierten sie diese, indem sie Gedichte schrieben, Philosophie betrieben, malten, Skulpturen, Denkmäler, Zeremonien schufen, die ihre Hoffnung, ihre organische Belebung, ihren Schaffenseifer nährten; und auch in ihrem erotischen Überschwang enthüllten sie einen leidenschaftlichen, erhabenen Sinn für die potentielle Bestimmung des Menschen.
Von unseren technokratischen Buddhisten jüngeren Datums ist dergleichen nicht zu erwarten.
Um zusammenzufassen:
Solche Visionen von einem unendlichen mechanischen Fortschritt, solch totalitäre Utopien, solch realistische Extrapolationen wissenschaftlicher und technischer Möglichkeiten spielten eine wichtigere Rolle in den praktischen tagtäglichen Veränderungen, als man gemeinhin annimmt.
Diese subjektiven Vorwegnahmen waren stets der realen Erfahrung voraus, beharrliche Lockung, Wegweiser für den nächsten Schritt, die den Widerstand brachen, indem sie behaupteten, jeder Versuch, das Tempo der Veränderungen zu bremsen oder deren Richtung zu ändern, sei zum Scheitern verurteilt, weil er dem Wesen der Welt widerspreche - womit die Verfechter dieser Meinung das obsolete mechanische Weltbild meinten.
Nur wenn man die Rolle dieser ideologischen Konditionierung begreift, versteht man, wieso die neue Megamaschine schließlich mit solcher Leichtigkeit entstand.
Sowohl das mechanische Weltbild als auch die Vision vom immer rascheren mechanischen und materiellen Fortschritt, ja selbst die Horrorgeschichten von einer wissenschaftlich geregelten Zukunft unter Führung einer dienstfertigen bürokratischen Elite machten es leichter, die neue Megamaschine als unvermeidliche und unausweichliche Realität zu akzeptieren, per definitionem vollkommen, da alle ihre enthumanisierten Komponenten den Anforderungen des Systems entsprechen.
Es gab kein »beglückendes Intervall«, wie Huxley gehofft hatte, zwischen »zuwenig Ordnung« und »dem Alptraum von zuviel Ordnung«, denn dieser wartet bereits »an der nächsten Straßenecke«.
Nun, da wir an dieser gar nicht lustigen Straßenecke angekommen sind, müssen wir den Mut haben, jenem entsetzlichen Alptraum entgegenzutreten, ehe er uns alle ins Unglück stürzt.
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#
1949:
Fortschritt als Science-Fiction (1970) - Lewis Munford