Johano StrasserUtopie und Freiheit
Über
die Notwendigkeit,
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detopia:
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Tagungsbeitrag der <Internationalen Erich-Fromm-Gesellschaft>
zum
Thema: <Rebellen, Reformer und Revolutionäre - Karl Marx und Erich
Fromm>
Wieder
abgedruckt in: Copyright by Professor Dr. Johano Strasser, Berg Assenhausen Email: johano.strasser (ä) t-online.de |
detopia-2022 Die anti-utopischen Einstellungen der Menschen (die auch Strasser hier beschreibt) habe ich noch nicht verstanden, trotz langjähriger Bemühungen. Für mich war seit meiner Geburt klar (pardon, ich muss es hier kurz machen), dass die Menschheit sich auf eine quasi endgültige, stabile Gesellschaftsformation zubewegen muss. Man hätte noch lange dafür Zeit (objektiv), wenn es keine "Grenzen des Wachstums" gäbe - auch keine der Menschenzahl, des Materieverbrauchs, des Müllberges, der Atommülldeponien, des Plastikmülls in den Ozeanen. Subjektiv jedoch sind wir schon lange "dem Zeitplan hinterher", wenn wir das Notleiden und die Unterdrückung von Menschen nehmen, das beendet und beseitigt werden muss, damit der Mensch sich endlich seiner wahren Aufgabe zuwenden kann. Die übliche Antwort der Anti-Utopisten lautet: "Wissenschaft und Technik und Reformen; der Rest ist hinzunehmen und man muss abwarten; es muss von alleine geschehen. Und es ist ja auch schon viel Gutes geschehen. Und ohne Utopien wären wir schon weiter." Das war schon immer falsch; und es wird mit jedem Tag (den Gott werden läßt) falscher. Wir brauchen eine Zielvorstellung, wohin der Weg führen soll, wohin die Reise gehen soll. Reise nach Detopia? (U. Turlach) |
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Beide Auffassungen existieren in der Geschichte des Abendlandes seit langem nebeneinander. Man delektiert [sich einer Sache erfreuen, sich ergötzen, sich gütlich tun] sich an Thomas Mores <Utopia> oder Rabelais’ <Abtei Thelema> und ist zugleich höchst alarmiert angesichts des "Enthusiasmus" religiös inspirierter, millenaristischer und sozial-revolutionärer Utopisten, die vom "neuen Jerusalem" träumen und ein Himmelreich auf Erden errichten wollen, das sich — wie etwa bei den Wiedertäufern — auf Gemeineigentum und freie Liebe gründet.
Als die Bauernaufstände niedergeworfen, der letzte militante Chiliast, der Flickschuster Jan Willemsen, der in Westfalen sein Neues Jerusalem errichten wollte, im Jahre 1580 auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden war, als schließlich auch die Religionskriege ein Ende fanden und sich nahezu überall in Europa stabile absolutistische Staatsgebilde entwickelten, schienen politischer "Enthusiasmus" und apokalyptische Prophetie und damit auch der Geist der Utopie für alle Zeiten gezähmt zu sein.
Die Utopie überlebte zwar, aber — so scheint es jedenfalls, wenn man von der Bewegung der Levellers und Diggers in England und Wales absieht — nur als Literaturgattung.
Erst die Französische Revolution machte den Vertretern der alten Ordnung, den konservativen Kräften im Adel und im Bürgertum schlagartig wieder deutlich, dass die Spintisierereien von einer besseren Welt, die ihnen zuvor zumeist als lächerliche Verirrungen des menschlichen Geistes oder als harmlose Spielereien erschienen waren, unter besonderen historischen Bedingungen die Phantasie des Volkes entzünden und damit zu einem Movens der Geschichte werden können.
Der Schock sitzt immer noch tief. Seitdem gelten Utopien nicht mehr als Privatsache, vielmehr wittern viele in ihnen Anschläge auf die bestehende Ordnung, sehen in ihnen verführerische Irrlichter, die — unter dafür günstigen Bedingungen — Umsturz, Gewalt und Terror im Gefolge haben, die ganze Völker ins Unglück verlocken können.
So wie in vielen der klassischen Utopien ein Melancholieverbot galt, gilt in unserer sich pragmatisch verstehenden Gegenwart bei allem oktroyierten Optimismus eine Art konventionell verbürgtes Utopieverbot. Freilich wissen wir, dass Verbote neugierige und aufsässige Zeitgenossen seit eh und je zum Übertreten herausfordern.
Kommunismus
Heute ist das Reich der Utopie mit so vielen Warntafeln und Sichtsperren umgeben, dass der eine oder andere sich vielleicht zu fragen beginnt, welche Schätze dieses Traumland wohl bergen muss, dass man es mit so großem Aufwand vor unseren begehrlichen Blicken meint schützen zu müssen.
Als Paradebeispiel für eine der Verführungskraft der Utopie geschuldete Masseneuphorie, die alsbald im schlimmsten Katzenjammer enden sollte, gilt heute gemeinhin die Russische Revolution mit ihren immer noch nicht ausgestandenen Folgen. Vor allem die Erfahrungen des Leninismus und Stalinismus sind es, die als Belege für die Gefährlichkeit politischer Utopien angeführt werden.
Die Utopie - so die verbreitete Ansicht - sei im Grunde und ihrem eigensten Wesen nach totalitär. Der 1922 aus der Sowjetunion ausgewiesene russische Philosoph Nikolai Berdjajew hat diese Auffassung prägnant formuliert: "Die Utopie ist immer totalitär, und der Totalitarismus ist immer utopisch in den Bedingungen unserer Welt." (Berdjajew 1952, S. 201)
Die These ist vielfach variiert worden, so z.B. von dem Würzburger Politikwissenschaftler Lothar Bossle, für den "die unausweichliche Tragödie jeder Utopie" darin besteht, "dass sie im Zustand der Unschuld eines romantischen Denkens beginnt, um in einem Inferno totalitärer Exzesse zu enden" (Bossle 1988, S. 65), oder von Joachim Fest, der in seinem Buch <Der zerstörte Traum: Vom Ende des utopischen Zeitalters> behauptet, dass die Utopie, "ihrem Wesen nach, stets eine totale Gesellschaft verlangt." (Fest 1991, S. 84)
Auch Georges Minois kommt am Ende seiner umfangreichen Geschichte der Zukunft (1998) zu dieser Einschätzung.
wikipedia Lothar_Bossle *1929 in Ramstein bis 2000 (71) wikipedia Joachim_Fest *1926 in Berlin bis 2006 (79) wikipedia Georges_Minois *1946
Polit-Utopie
Wer sich freilich genauer mit der Geschichte und mit den verschiedenen Erscheinungsformen der Utopie, besonders der politischen Utopie, befasst, wird bald entdecken, dass solche Pauschalurteile unangebracht sind. Bereits in der griechischen Antike begegnen wir den beiden Urtypen politischer Utopien, die in endlosen Variationen bis heute die Phantasie der Menschen beschäftigt haben: die eine, an rationalistischen Ordnungsvorstellungen orientiert, die in die Praxis umgesetzt, tatsächlich höchst fragwürdige Ergebnisse zeitigen kann, und die andere, die am Eigensinn des Einzelnen und seiner Freiheit ansetzt, für die all das nicht gilt, was Berdjajew, Bossle, Fest u.a. der Utopie pauschal vorwerfen.
Im 5. Jahrhundert vor Christi Geburt entwirft der Architekt Hippodamos aus Milet eine ideale Stadt: zehntausend Bürger, aufgeteilt in drei Klassen von Handwerkern, Bauern und Kriegern, in einem streng geometrischen, von den Proportionen des kosmischen Menschen inspirierten Rahmen. In seiner Heimatstadt versucht Hippodamos diese "unwandelbare Ordnung" zu verwirklichen, scheitert aber — zum Glück, würden wir sagen — am Eigensinn, am Widerstand, an der Unberechenbarkeit der Menschen.
Wenig später entfaltet Aristophanes in der Komödie <Die Vögel> als Gegenkonzept sein Nephelokokkiougas, sein freiheitlich-anarchistisches Wolkenkuckucksheim, in dem die Menschen ohne Geld, ohne Gerichtshöfe, im Einklang mit sich selbst und der Natur leben: eine Welt ohne Zwang, jedenfalls ohne Herrschaft von Menschen über Menschen, in der allein die Natur dem Freiheitswillen Grenzen setzt.
Es ist dies die erste uns bekannte Utopie der Freiheit.
Richard Saage hat vor Jahren in seiner gründlichen Studie über die Geschichte der politischen Utopie auch auf den häufig übersehenen Strang libertärer Utopien hingewiesen. Auch wenn er das frühe Beispiel bei Aristophanes nicht erwähnt, so ist doch auch seine Liste beeindruckend. Sie reicht von Rabelais’ Abtei Thelema über H.G. Wells <Menschen Göttern gleich> bis zu den postmaterialistischen Utopien der 70er Jahre, unter denen Callenbachs Ökotopia vielleicht die bekannteste ist.
Joachim Fest irrt, wenn er schreibt: "Bezeichnenderweise hat aber auch das unendliche, die Jahrhunderte begleitende Nachdenken über die ideale Gesellschaft nie ein wirklich offenes Gemeinwesen als System entworfen. Es gibt keine liberale Utopie." (Fest 1991, S. 95)
Es gibt sie eben doch, sogar im engeren Sinn des modernen politischen Liberalismus.
Zum Beispiel haben die frühen liberalen Ökonomen Jean-Baptiste Say und John Stuart Mill utopische Entwürfe einer krisenfreien und universellen, Wohlstand garantierenden Marktwirtschaft veröffentlicht, in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts hat Robert Nozick in dem Buch <Anarchy, State, and Utopia> (1974) eine "neoliberale" Utopie entworfen, und in jüngster Zeit hat auch Richard Rorty es sich zur Aufgabe gemacht eine "liberale Utopie" des Gemeinwesens aus der Einsicht in die unaufhebbare Kontingenz aller konkurrierenden Identitäten zu entwickeln. (Rorty 1989, passim.)
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Es ist nicht zu leugnen, dass der in der Geschichte Europas lange Zeit vorherrschende Utopietyp von rationalistischen Ordnungsvorstellungen geprägt ist, die der Komplexität des Lebens nicht angemessen sind und der Subjektivität der Menschen, ihrem Eigensinn nicht Rechnung tragen.
In der Mehrzahl der bekannteren politischen Utopien weht ein Geist des moralisierenden Asketismus und paternalistischer Gängelung, der mit modernen Auffassungen von Freiheit nicht vereinbar ist.
Insofern man unter Utopie allein eine solche aus dem Geist der Geometrie entstandene holistische Gesellschaftskonzeption versteht, in der die Menschen nur als Objekte, als Material, als zu berechnende und zu behandelnde Kräfte und Faktoren, nicht aber als selbständige Akteure vorkommen, ist der Totalitarismusverdacht allerdings nicht von der Hand zu weisen.
System-Utopie
Diese klassische Systemutopie ist in der Tat anti-individualistisch, sie ist gewissermaßen aus der Feldherrnperspektive hoch über den Menschen thronender Gesellschaftsstrategen — oder aus der Lebensferne mönchischer Studierstuben — entworfen, neigt zu technokratischer Überregulierung und zu autoritären und gewaltsamen Methoden bei der Durchsetzung ihres Gesellschaftsmodells. (Im übrigen zeichnen sich diese Utopien auch durch eine auffällige Humorlosigkeit aus. Es ist wohl kein Zufall, dass der erste uns erhaltene Widerspruch dagegen, bei Aristophanes nämlich, sich in der Form der Komödie zu Wort meldet.)
Andererseits ist eigentlich nicht zu übersehen, dass es sich beispielsweise bei den großen Staatsromanen des 16. und 17. Jahrhunderts zumindest teilweise um eine zeitgebundene moralisierende Reaktion auf die gemeinschaftszerstörenden Exzesse des Renaissanceindividualismus handelt. Andererseits mag auch, wie Thomas K. Nipperdey (1975) annimmt, der Antiindividualismus auch ein in einer Art Epochenverschleppung fortlebendes "Element mittelalterlicher Tradition" sein. Jedenfalls setzt sich dieser Zug in der Gattung lange fort. Noch Louis-Sébastien Merciers berühmtes Werk aus dem Jahr 1772, <Das Jahr 2440>, und auch eine ganze Reihe späterer Utopien atmen den Ungeist der Tugenddiktatur.
Freiheit
Vielen Verfassern politischer Utopien erschien die drastische Einschränkung individueller Freiheit allein schon deswegen zwingend, weil sie nach einer idealen Ordnung in einer statischen und nach unseren heutigen Begriffen bitter armen Gesellschaft suchten. Sobald aber die Erfahrung des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts die Vorstellung einer dynamisch sich fortentwickelnden, wachsenden Reichtum ermöglichenden Gesellschaft entstehen ließ, wurde hier und da die Erinnerung an frühe Entwürfe freiheitlicher Utopien, etwa bei Aristophanes und Rabelais, oder an die in zahlreichen Volksmärchen auftauchende Vorstellung vom Schlaraffenland wieder wach.
Nun treten vermehrt politische Zukunftsentwürfe auf, die nicht mehr — oder nicht mehr in allen Punkten — den holistischen und statischen Modellen mit ihren totalitären Implikationen entsprechen, sondern die Menschen als Subjekte der Geschichte ernst nehmen. Ebenso wenig wie es angeht, den ganzen Reichtum der Utopietradition auf den einen Typus der System-Utopie zu reduzieren, lässt sich die Behauptung aufrecht erhalten, dass die politische Utopie, sobald sie von einer "normsetzenden Legende" zum "Handlungsmodell" werde, notwendig den Weg der Gewalt und der Unterdrückung beschreite, wie Fest suggeriert.
Wenn man den Begriff der Utopie nicht willkürlich einschränkt, spricht nichts gegen die Möglichkeit einer utopiegeleiteten demokratischen und weitgehend gewaltfreien Veränderung, wie sie ja tatsächlich einige der Utopisten des 19. Jahrhunderts und die meisten der "postmaterialistischen" Utopisten unserer Tage ins Auge fassen.
Schon die in der frühen Aufklärung, etwa in Vicos Scienza Nova, aufkommende Vorstellung einer unbegrenzten und damit auch nie abgeschlossenen Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen (am eindeutigsten entwickelt bei Condorcet in der <Esquisse d’un tableau historique des progrés de l’esprit humain> von 1793) eröffnet im Prinzip die Möglichkeit, sich einem Idealzustand in reformerischen Schritten, gewissermaßen asymptotisch zu nähern.
Und in der Tat gibt es fortan, so bei Francis Bacon, auch politische Utopien, die den angestrebten vollkommenen Zustand der Welt in Strukturen erblicken, die eben diesen Prozess der fortschreitenden Vervollkommnung menschlicher Verhältnisse ermöglichen und fördern.
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Demokratie / Utopie
Es versteht sich fast von selbst, dass sich Begriff und Funktion der Utopie grundlegend wandeln müssen, wenn sie auf die Bedingungen der modernen pluralistischen Demokratie angewandt gedacht werden. Als im modernen Sinne demokratiefähig und -kompatibel kann die politische Utopie nur gelten, wenn es sich nicht mehr um ein starres Gesellschaftsmodell, sondern um ein Leitbild handelt, das im Prozess seiner Verwirklichung selbst Wandlungen und Korrekturen unterworfen ist.
Dies meinte Georg Picht, als er Ende der 60er Jahre von der Notwendigkeit einer "aufgeklärten Utopie" sprach (Picht 1968, S. 39f.) und Richard Saage hat offenbar Ähnliches im Sinn, wenn er Anfang der 90er Jahre feststellt, dass das "neue utopische Denken" nicht mehr auf "Totalrevision" ausgehe, "sondern als kritisches Korrektiv und regulatives Prinzip auf die Problemlage der dritten industriellen Revolution bezogen ist." (Saage 1991, S. 343)
Nun leuchtet aber eine solche Weiterentwicklung nicht allen ein. Nicht wenige sehen im demokratischen Fortschritt ein ganz und gar pragmatisches Geschäft, das sich tunlichst aller kühnen Vorgriffe zu enthalten habe, um desto nüchterner und gewinnbringender einen Fuß vor den anderen setzen zu können. Als Kronzeuge dieser Auffassung gilt gewöhnlich Karl Raimund Popper, der Politik als <piecemeal social engineering> definiert. Freilich hat selbst Popper die Utopie im hier erörterten aufgeklärten Sinn als Hilfskonstruktion politisch-sozialer Reformtechnik gelten lassen.
Und auch ein eher konservativer Philosoph wie Ulrich Hommes betont, dass gesellschaftlicher Fortschritt ohne die Leitfunktion der Utopie nicht denkbar ist. "Auch der Fortschritt der Gesellschaft", schreibt er im Handbuch philosophischer Grundbegriffe, "braucht die Utopie, weil die politisch-soziale Bewegung nicht nur auf realisierbare Nahziele geht, sondern sich im Ganzen artikulieren muss. Was der Begriff der Freiheit verheißt, wird nur dann einmal Wirklichkeit sein, wenn es zu der Zeit verkündet wird, da es noch unmöglich erscheint. Das Bestehen der Utopie als Utopie ist so gesehen eine unerlässliche Voraussetzung dafür, dass wir dem, was sie gegenwärtig hält, überhaupt näher kommen können." (Hommes 1974, Stichwort "Utopie")
Die generalisierende Denunzierung der Utopie, wie sie vor allem nach 1989 in Mode gekommen ist, ist durch die Gegen- oder negativen Utopien, deren erste Jonathan Swift 1762 mit Gullivers Reisen und deren bekannteste George Orwell nach dem Zweiten Weltkrieg mit <1984> veröffentlicht, vorbereitet worden.
Auch sollte nicht vergessen werden, dass auch Karl Marx und Friedrich Engels, obwohl sie ganz offensichtlich an den sozialrevolutionären Utopismus anschließen und die Marxschen Frühschriften auch eine Skizze einer freiheitlichen, die rigide gesellschaftliche Arbeitsteilung überschreitende Gesellschaft enthalten, davon überzeugt waren, mit ihrer revolutionären Theorie einer streng wissenschaftlichen Gesetzlichkeit auf die Spur gekommen zu sein, weshalb sie sich stets gegen die Unterstellung verwahrten, die von ihnen angestrebte kommunistische Gesellschaft sei eine Utopie.
Schimpfwort
Dennoch hat erst der Zerfall der Sowjetunion dazu geführt, dass Utopie und utopisch selbst bei vielen linken Intellektuellen zu Schimpfwörtern wurden. Heute wird die These, dass utopische Momente in der Politik stets den Keim des Totalitarismus enthalten, weithin akzeptiert. Dabei lässt sie sich weder aus der Geschichte des utopischen Denkens noch vom Begriff der Utopie her schlüssig begründen.
Sofern wir es hier nicht mit dem Ergebnis eines begriffsstrategischen und damit letztlich politischen Manövers zu tun haben — und vieles spricht dafür, dass dieser Aspekt eine nicht unerhebliche Rolle spielt —, verbirgt sich dahinter wohl der Wunsch vieler Zeitgenossen, von kostspieligen Experimenten hinfort möglichst verschont zu bleiben. Aber so verständlich dieser Wunsch nach allem ist, was im Namen hochtönender Heilspläne den Menschen zugemutet wurde, so geht er doch allzu oft mit einem sträflich naiven Glauben an die heilbringende Normalität unserer westlich-kapitalistischen Lebensweise einher.
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Wiederum ist es Fest, der diese Haltung prägnant formuliert hat: Statt "hochfliegender Zukunftssysteme mit allen ihren ermüdenden Glücksdiktaten" gehe es nur noch "um die Zuflucht in einem bescheidenen ideologiefreien Raum, der es den Menschen erlaube, auf einfache Art würdig zu leben."
Alles Unheil, so will Fest uns glauben machen, rühre nur von dem utopischen Drang zur idealen Gesellschaft her; wenn die Menschen nun endlich, eines Besseren belehrt, sich mit der Welt, wie sie ist, zu arrangieren lernten, so könne alles noch gut werden, so gut jedenfalls, wie es eine unvollkommene Welt und unvollkommene Menschen zulassen.
Das klingt sympathisch und entsprach nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Systeme und dem Triumph des Westens sicher auch dem Lebensgefühl vieler Menschen bei uns und erst recht im ehemaligen Ostblock.
Dennoch ist die strukturkonservative Täuschung und Selbsttäuschung bei Fest unübersehbar. Die Welt, wie sie ist, ist nämlich keinesfalls eine sichere Heimstatt bescheidenen Glücks und schon lange nicht ein "Paradies", wie Manfred Seiler - Jo. Fest rezensierend - allen Ernstes behauptet hat. wikipedia Manfred_Seiler *1952
Katastrophe
Wer Augen hat zu sehen, erkennt, dass die Normalität des Lebens, die hier beschworen wird, selbst eine verhängnisvolle Schlagseite ins Katastrophische hat. Es gehört nämlich auch zu den Grunderfahrungen unserer Zeit, dass das wissenschaftlich-technisch-ökonomische Projekt, dem wir uns im nunmehr weltweiten Westen — ganz nüchtern und unideologisch, wie wir zumeist meinen — verschrieben haben, neue gewaltige Risiken birgt, dass die aggregierten Wirkungen ganz alltäglicher Handlungen von Tausenden und Abertausenden ganz normaler Menschen mehr und mehr und immer schneller die natürlichen Lebensgrundlagen zerstören.
Zunehmend wird die im Namen ideologiefreier Wissenschaft vorangetriebene radikale Ökonomisierung der Lebenswelten und die von Genetikern und Soziobiologen im Bündnis mit dem medizinisch-industriellen Komplex verfolgte Perfektionierung des Menschen und die damit einhergehende Vermarktung des Humanum als neue totalitäre Bedrohung empfunden.
Immer offensichtlicher wird es, dass die Normalität der westlich-kapitalistischen Lebensweise und die damit einhergehende Demütigung anderer Kulturen den Boden für terroristische Gewalt bereitet, dass die schöne neue Welt des globalisierten Marktradikalismus nur mit immer mehr Gewalt, Unterdrückung, Krieg und kriegsähnlichen Interventionen gesichert werden kann.
Vaclav Havel
So richtig es also ist, dass im Laufe der Geschichte oftmals im Namen utopischer Verheißungen großes Unheil über die Menschen gebracht wurde, so falsch ist es zu glauben, alles käme von selbst ins Lot, wenn wir nur die Träume von einer besseren Welt fahren ließen. Auch der von Fest als Zeuge in Anspruch genommene Vaclav Havel weiß dies natürlich. Darum sagte er in der Neujahrsansprache des Jahres 1990 — also unmittelbar nach der "sanften Revolution":
"Lehren wir uns selbst und andere, dass Politik nicht nur die Kunst des Möglichen sein muss, besonders wenn man darunter die Kunst der Spekulation, des Kalküls, der Intrigen, geheimer Verträge und pragmatischen Manövrierens versteht, sondern dass sie auch die Kunst des Unmöglichen sein kann, nämlich die Kunst, sich selbst und die Welt besser zu machen." (Havel 1991, S. 14)
Vaclav Havel weiß aus eigenem Erleben, dass ohne die Träume von einem besseren Leben, ohne die kühnen Vorgriffe der Phantasie, die keine Macht wegzensieren kann, die Befreiung nicht möglich gewesen wäre. Ohne solche Träume, ohne das Wagnis einer über die betonierte Normalität hinausgreifenden und diese unterhöhlenden Phantasie wäre überhaupt nirgends auf der Welt je Fortschritt zu mehr Freiheit, wäre weder der Rechtsstaat noch die moderne Demokratie möglich gewesen.
Hans Jonas
Und auch heute ist es nach meiner Meinung wieder so, dass die Not der Zeit uns zwingt, alle utopischen Kräfte anzuspannen, um Pfade zu entdecken, die in eine menschenwürdige Zukunft für uns und unsere Kinder führen. Utopische Kräfte? An dieser Stelle erhebt sich Widerspruch teilweise auch von denen, die den Status quo keinesfalls als Heimstatt beglückender Normalität heilig sprechen. So hat Hans Jonas gerade unter dem Eindruck der sich anbahnenden Selbstzerstörung der Menschheit dem Blochschen "Prinzip Hoffnung" sein "Prinzip Verantwortung" entgegengestellt.
Anders als Fest sieht Jonas in der Dynamik der westlichen Zivilisation nicht das Walten einer beruhigenden Normalität, die ein dauerhaftes, wenn auch bescheidenes Glück garantiert, sondern den Ausdruck eben jener Maßlosigkeit und Hybris, die seit Francis Bacon die europäische Kultur zunehmend beherrscht habe und im Blochschen "Prinzip Hoffnung" am deutlichsten auf den Begriff gebracht worden sei.
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Der unsere Zivilisation prägende Fortschrittsglaube, die sich ganz unideologisch gebende Vorstellung einer fortschreitenden, Glück und Wohlstand bescherenden wissenschaftlich-technischen Beherrschung aller Lebensvorgänge ist für Jonas durch und durch utopisch, und ganz wie bei Fest ist auch für ihn der utopische Drang im Kern zerstörerisch und selbstzerstörerisch. Darum, so Jonas, sei die zeitgemäße Ethik "eine der Erhaltung, der Bewahrung, der Verhütung und nicht des Fortschritts und der Vervollkommnung". (Jonas 1979, S. 249)
Weil der Mensch seine Macht im Negativen, seine Macht der Zerstörung so über alles Maß gesteigert habe, müsse er heute als bewusstes Ziel verfolgen, was zu allen früheren Zeiten als selbstverständlich vorausgesetzt werden konnte: den Fortbestand der Spezies Mensch.
Anti-Utopie
Heute haben wir es also mit zwei verschiedenen anti-utopischen Strömungen zu tun. Die eine verklärt den status quo, proklamiert das "Ende der Geschichte" (Francis Fukuyama) und behauptet, dass alle über die Normalität des Erreichten hinausgehenden Ambitionen des Teufels sind. Die andere sieht gerade in der Normalität des Status quo zerstörerische utopische Kräfte am Werk, gegen die die nüchterne Ethik des Verzichts und der Selbstbegrenzung mobilisiert werden müsse. Einig sind sich beide Strömungen darin, dass der Geist der Utopie ein böser Geist ist, der die Menschheit ins Verderben lockt.
Demgegenüber auf der Unschuld der Utopie und des utopischen Denkens schlechthin zu bestehen, halte ich für falsch. Denn es gibt in der Tat einen Typus utopischen Denkens und an ihm sich ausrichtender Praxis, der freiheitsfeindlich und zerstörerisch ist. Erst recht glaube ich nicht, dass angesichts der Jonasschen Fortschrittskritik ein trotziges Beharren auf traditionellen Fortschrittsvorstellungen aussichtsreich ist. Denn so viel ist an der Position von Hans Jonas ja gewiss richtig, dass das wissenschaftlich-technisch-ökonomische Projekt, das die Europäer seit einigen Jahrhunderten und heute praktisch alle "entwickelten" Länder verfolgen, eine deutliche Schlagseite ins Katastrophische hat. Die fortschreitende Durchdringung aller Lebensbereiche mit der Logik des Ökonomischen und die damit einhergehende technische Reproduktion des Lebenszusammenhangs stellen auch nach meiner Meinung heute die größte Bedrohung für die Menschheit dar.
Die Frage ist allerdings, ob wir der vielfältigen Gefahren für den Fortbestand menschlichen Lebens auf der Erde wirklich Herr werden können, indem wir uns alle ambitionierten Träume vom besseren Leben versagen und uns ganz auf die Aufgabe konzentrieren, das Schlimmste zu verhüten. Ich denke, dass es nicht genügen kann, auf die Kantische Frage "Was dürfen wir hoffen?" zu antworten, wie es Jonas tut: als Gattung zu überleben. Die tiefgreifenden Veränderungen, die zweifellos notwendig sind, um der Gattung Mensch eine Zukunft zu sichern, werden gewiss nicht gelingen, wenn man nur auf die Angst vor der finalen Katastrophe setzt.
Damit die Menschen mit Aussicht auf Erfolg diese große Kraftanstrengung wagen, muss zu der Negativmotivation die Positivmotivation durch ein attraktives Bild einer alternativen Zukunft hinzukommen, das sich im übrigen nicht selten aus der Erinnerung an ein "goldenes Zeitalter" speist oder, wie Rilke es auf Heinrich Vogeler gemünzt gesagt hat, als Märchen daherkommt, das mit den Worten beginnt: Es wird einmal sein...
Diese schöpferische Erinnerung ist nicht nur die eigentliche Quelle der Literatur, sie ist auch eine der wichtigsten Triebkräfte geschichtlicher Prozesse. Das zeigt sich auch in den utopischen Insel-Träumen und Lebensexperimenten, die um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert Menschen wie Leo Tolstoi in Jasnaja Poljana, William Morris in seinem Red House in Bexley Heath, Heinrich Vogeler auf dem Barkenhoff oder Franziska zu Reventlow in Schwabing und auf dem Monte Verità zu verwirklichen trachteten.
Utopismus
Bei aller verständlichen und wohl auch notwendigen Ernüchterung gegenüber einem säkularisiert religiösen Utopismus, wie er auch bei Bloch zu finden ist, so viel scheint mir sicher: Ohne faszinierende Bilder eines möglichen anderen Lebens kann nicht einmal das Werk des Bewahrens und Verhütens, das Hans Jonas anmahnt, gelingen. Um wieviel mehr gilt dies, wenn wir ein wenig kühner zu hoffen wagen und uns nicht mit dem Überleben zufrieden geben, sondern auf das gute Leben ausgehen, d.h. eine gerechtere, friedlichere, menschlichere Welt anstreben!
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Wenn wir genauer hinsehen, erkennen wir: Utopie steht heute gegen Utopie.
Auf der einen Seite die wüsten Träume von der grenzenlosen Steigerung des materiellen Reichtums, von maßloser Produktion und maßlosem Konsum und damit verbunden die phantastische technokratische Vision einer wissenschaftlich-technischen Reproduktion des Lebenszusammenhangs. Dieses Projekt, mehr dem "Prinzip Hybris" (Jean Améry) als dem "Prinzip Hoffnung" verpflichtet, ist für viele als Utopie nicht erkennbar, weil es sich nüchtern und streng wissenschaftlich gibt, weil es als sedimentiertes Pathos in fast allen Verästelungen unserer wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Institutionen steckt und gemeinhin in der normierten Sprache quantifizierter Sachaussagen formuliert wird. In Wirklichkeit ist dieser utopistische Szientismus aber mit einem von wissenschaftlicher Rhetorik nur dürftig überdeckten quasi-religiösen Erlösungsglauben verbunden, wie schon Jean Servier in seiner Geschichte der Utopie feststellte und wie es neuerdings Fritz Gebhardt (2004) in seinem Pamphlet gegen die Erlöser noch einmal in polemischer Schärfe vor Augen führt.
Wir haben es hier, genau besehen, mit einer klassischen Systemutopie zu tun, die, weil sie den Menschen zu einem Bestandteil der technischen Apparatur macht, eine neue Gefahr des Totalitarismus heraufbeschwört, eines "Totalitarismus neuen Typs", eines "universalen Funktionalismus", wie Leo J. O’Donovan, der Rektor der Georgetown-Universtität in Washington es vor einiger Zeit ausgedrückt hat.
Leitbild
Dem gegenüber wäre eine neue Sozialutopie, ein neues Leitbild einer Gesellschaft der gelebten Fülle zu etablieren, das die Freiheit und den Eigensinn der Menschen ernst nimmt, das uns nicht in die Sackgasse ökologischer Verwüstung führt, das nicht das Glück einer Minderheit zu sichern trachtet, indem es die Verelendung der Mehrheit in Kauf nimmt, das allen Menschen auf der Welt, auch den künftigen Generationen, ein würdiges Leben in Wohlstand ermöglicht und das Leben, die menschliche Existenz nicht szientistisch verengt. Dieses Leitbild wäre als eine im Pichtschen Sinn "aufgeklärte" Utopie zu denken, eine Utopie der Freiheit, die eine neue demokratisch-kooperative Praxis anleitet und dabei sich auch selbst Veränderungen und Korrekturen unterwirft.
Die Konturen dieser freiheitlichen Utopie werden umso klarer hervortreten, je offensichtlicher es wird, dass die Expansionsdynamik des globalisierten Kapitalismus mit der condition humaine nicht vereinbar ist. Sie erwächst aus den Realbedingungen der modernen Zivilisation selbst, die neben großen Gefahren auch die Möglichkeit einer neuen Freiheit bieten.
Hier kann ich nur einige Grundlinien andeuten, an denen sich die neue befreiende Praxis meiner Meinung nach wird orientieren müssen:
1. Wir werden in Zukunft mehr darauf achten müssen, Wohlstand dadurch zu erhalten, dass wir es vermeiden, durch unbedachtes Tun und falsche Politik Mangel und damit Bedarf zu erzeugen. Vorbeugen ist tatsächlich besser als Heilen, und den Wettlauf mit der selbsterzeugten Bedarfsexplosion können wir nur verlieren.
2. Was wir uns weiterhin an Produktion und Konsum leisten werden — und das wird nicht wenig sein —, muss sich unter den ökologisch günstigsten Voraussetzungen vollziehen. Die Mobilisierung der organisatorischen Intelligenz für die rationelle Ressourcenverwendung muss Vorrang vor allem anderen haben.
3. Die großen Möglichkeiten der Reichtumssteigerung in einem auch existentiell erfahrbaren Sinn liegen in den westlichen Gesellschaften nicht mehr in der Bereitstellung von immer mehr Gütern und Dienstleistungen, sondern in der wachsenden Verfügung über freie und selbstbestimmte Lebenszeit. Zeitwohlstand muss zu einem wesentlichen Bestandteil des Wohlstandsmodells werden. Entsprechend wird sich der Lebensstil verändern müssen: weg vom passiven Konsum, hin zur kommunikativen und schöpferischen Eigentätigkeit, weg von der Fixierung auf materielle Bereicherung, hin zu geistiger Vervollkommung.
4. Rationalisierung und Automation müssen künftig für kräftige Schübe der Verkürzung der Erwerbsarbeitszeiten genutzt werden. Dies wird vor allem durch Anreize zur freiwilligen Arbeitszeitverkürzung (z.B. durch Sabbat-Regelungen) erfolgen und mit einer zunehmenden Entkoppelung von Arbeit und Einkommen einhergehen müssen. Allmählich ließe sich so die alte Arbeitsgesellschaft in eine Tätigkeitsgesellschaft umwandeln, in der im Zeitbudget möglichst aller Menschen die nicht-monetären Formen der Arbeit (Eigenarbeit, Familienarbeit, Nachbarschaftshilfe, Gemeinwesenarbeit etc.) einen erheblich größeren Raum einnehmen als bisher. Gleichzeitig muss der öffentliche Sektor rehabilitiert und aus dem Maschinensektor ausreichend finanziert werden, um die allein kollektiv zu leistenden Dienste (Bildung, Gesundheit, Pflege, Kultur) sicherzustellen.
5. Eine gerechtere Verteilung von Reichtum und Macht — sowohl innerhalb der Gesellschaften als im Weltmaßstab — ist die Voraussetzung dafür, dass ein solches Umsteuern demokratisch, d.h. mit mehrheitlicher Unterstützung der Menschen erfolgen kann.
Ich bin sicher, dass sich um diese Überlegungen herum die Utopie einer neuen Freiheit als Leitlinie einer alternativen Entwicklung konzipieren ließe, einer Entwicklung, die auf Dauer mit den Naturbedingungen und der Würde der menschlichen Existenz vereinbar ist. Da eine solche Utopie an heute schon in Ansätzen erkennbare Praxis anknüpft, wird sie auch dem Maßstab gerecht, den Martin Seel kürzlich in seinen "Drei Regeln für Utopisten" formuliert hat: dass es nämlich darauf ankomme, "nicht allein denkbare und erfüllbare, sondern darüber hinaus erreichbare Zustände zu entwerfen." (Seel 2001, S.755)
Das heute dominierende wissenschaftlich-technisch-ökonomische Fortschrittsmodell, eingebunden in die Struktur und Dynamik des globalisierten Kapitalismus, kommt ganz offensichtlich an seine Grenzen. Selbst seine Verfechter geben zu, dass mit der Fortsetzung dieser Entwicklung für die Mehrheit der Menschen — auch bei uns im reichen Westen — immer mehr Einschränkungen der Freiheit, immer weniger Sicherheit und Lebensqualität, ja, sogar sinkender Wohlstand gemäß den üblichen fragwürdigen Messmethoden verbunden sein werden.
Kein Wunder, dass zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik heute eine Elterngeneration existiert, die mit großer Mehrheit der Überzeugung ist, dass ihre Kinder es einmal schwerer haben werden als sie. Die wachsenden Risiken und die sinkenden Gratifikationen des dominierenden Fortschrittsmodells haben die Gemüter der Menschen verdunkelt. Was dabei herauskommt, ist ein merkwürdiger Fortschrittsfatalismus, der sich auf die paradoxe Formel bringen ließe: Der Fortschritt geht weiter, da kann man nichts machen; ob er aber wirklich fortschrittlich ist, das ist höchst fraglich.
Auch darum ist es so wichtig, die verständliche Ernüchterung nicht so weit zu treiben, dass der Geist der Utopie sich verflüchtigt und eine Angststarre die Gesellschaft erfaßt. Denn wenn wir — wie es auch Hans Jonas tut — nur die Gefahren beschwören und blind sind für die Möglichkeit eines neuen Fortschritts, der die Verstiegenheit des alten Modells vermeidet, kann es leicht passieren, dass wir vor lauter Verzagtheit und Verzichtsbereitschaft in einer Art "Konterrevolution der sinkenden Erwartungen" — wie Karl W. Deutsch es einmal ausgedrückt hat — jenes Maß an Freiheit, Wohlstand und Glück verspielen, das unter Menschen auf dieser Erde möglich ist.
Coda:
Ende des 19. Jahrhundert sagte Edward Bellamy voraus, dass der endgültige Sieg des Sozialismus im Jahr 2000 erfolgen werde. Wenig später erwartete der sozialistische Utopist Alain Le Drimeur dasselbe für das Jahr 2001. Beide Stichjahre liegen hinter uns, und eine weltweite antikapitalistische Umwälzung ist nicht in Sicht. Solche Befunde aus der Ideengeschichte sind ein gefundenes Fressen für Zyniker und Pessimisten und eine Warnung an die Adresse der allzu frohgemut Hoffenden.
Und dennoch:
Wo die Hoffnung stirbt, die Träume von einer besseren Welt verdorren, ist auch die Gegenwart dem Verfall preisgegeben. Nicht nur um einer lichteren Zukunft, sondern vor allem um der Gegenwart willen, können wir auf das Prinzip Hoffnung nicht verzichten.
7-8
Ende
Literatur:
Berdjajew, Nikolaj: Das Reich des Geistes und das Reich des Cäsar, 1952
Bossle, Lothar: Zur Soziologie des utopischen Denkens in Europa, 1988
Fest, Joachim: Der zerstörte Traum; Vom Ende des utopischen Zeitalters, 1991
Gebhardt, Fritz: Ende der Landnahme — Ende der Zeitnahme. Pamphlet gegen die Erlöser, 2004
Hommes, Ulrich: Stichwort "Utopie", in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe, 1974
Minois, Georges: Geschichte der Zukunft. Orakel, Prophezeiungen, Utopien, Prognosen, 1998
Nipperdey, Thomas: Reformation, Revolution, Utopie. Studien zum 16. Jahrhundert, 1975
Rorty, Richard: Kontingenz, Ironie und Solidarität, 1989
Seel, Martin: "Drei Regeln für Utopisten", in: Sonderheft Merkur "Zukunft denken", Sept./Okt. 2001.
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Johano Strasser 2005