Rüdiger Knechtel, Jürgen Fiedler (Hg.)

Stalins DDR

Berichte politisch Verfolgter

 

1991 beim Forum Verlag Leipzig

In Zusammenarbeit mit der 
Heinrich-Böll-Stiftung

  

1991   260 Seiten 

DNB Buch 

Goog Buch 


detopia   K.htm 

Gulagbuch   Pankowbuch


Aretz-Stock 1997  

U.Rumin    U.Rachowski 

 

 

Inhalt

Vorwort  (7)  (Büttner)

Einleitung (11) Knechtel

 

Wortverzeichnis (261) 

 

ISBN 3861510103

Gestaltung: Horst Adler

Lichtsatz: Die Leipziger Andere Zeitung (DAZ)

Druck: Druckhaus Aufwärts Leipzig 

L.D. - Workuta  (14) - Walter G. (21) - Gotthold L. (25) - Sieghard P. (28) - Theo J. (31) - Heinz K. (37)

Günter K.  (44) - Erwin M. (49) - Claus-Dieter S. (55) - Eberhard H. (68)

Rüdiger Knechtel  (72) - Ralf Knechtel (82) - Wolfgang B. (85) - Steffen B. (88) - Hildegard H. (91)

Josef Kneifel [Panzersprengmeister] (94)  Irmgard Kneifel (126) - Siegfried H. (131)

Horst S. (134) - Anneliese H. (143) - Rudolf L. (148) - Dieter L. (155) - Frank W. (158)

Holger I. (161) - Werner J. (164-176) 

Bestandsaufnahme (255) Jürgen Fiedler (Nachwort)

 

 

 

Verlagstext: Dieses Buch ist schonungslos. Es bringt Ungeheuerliches ans Tageslicht. Nach Jahren, teilweise Jahr­zehnten, brechen politisch Verfolgte des SED-Regimes jetzt ihr Schweigen, offen­baren ihr Schicksal. Sie verlangen die Wieder­aufnahme ihrer Verfahren und Rehabilitierung. Und nennen die Namen der Täter. Aus Tausenden Zuschriften an den Bund der stalinistisch Verfolgten e.V., Bezirksverband Sachsen / Chemnitz, haben die Herausgeber 40 persönliche Berichte ausgewählt. Berichte ehemals Inhaftierter, Berichte über Denunziation, Nachstellung und Diskriminierung, Berichte über den brutalen Stalinismus hinter Gefängnismauern und über den alltäglichen, dessen Fänge und Fänger immer gegen­wärtig waren.

 

Der Verlag zu diesem Buch: Die Arbeit an "Stalins DDR", vor allem der Umgang mit den Berichten, hat uns in ganz besonderem Maß zugesetzt. Wir danken den Verfassern und den Herausgebern für das Vertrauen, das sie in uns setzten. Alle Verfasser bürgen gegenüber den Herausgebern für die Richtigkeit ihrer Aussagen, allerdings sind unbewußte Irrtümer, zum Teil aus dem zeitlichen Abstand heraus, nicht immer auszuschließen. Editorischer Grundsatz war die unbedingte Wahrung der Authentizität der Texte, sowohl der Berichte und Briefe, als auch der Auswahl und der Kommentare durch die Herausgeber. Mit dem, was wir vorlegen, verbindet uns sowohl Nähe wie Distanz. Nähe aus Mit-Betroffenheit und aus Respekt vor den Opfern wie denen, die im und für den Bund der stalinistisch Verfolgten arbeiten. Distanz zu mancher Schärfe und Unerbitt­lich­keit, die wir jedoch als Äußerungen tiefer Verwundung begreifen und als Aufruf, die Schuldigen zur Verantwortung zu ziehen.


 

    

Vorwort

Du mußt es für das Unredlichste halten, 
nicht deine wahre Meinung zu sagen. 
 MARK AUREL

7-8

"Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat das Recht, den Grundsätzen dieser Verfassung gemäß seine Meinung frei und öffentlich zu äußern... Niemand darf benachteiligt werden, wenn er von diesem Recht Gebrauch macht..." So stand es im Artikel 27 der in der ehemaligen DDR geltenden Verfassung. Doch wie es tatsächlich um die Verwirklichung dieses Rechts aussah, das kann nur der ermessen, der öffentlich unangenehme Wahrheiten aussprach bzw. seine eigene nicht offiziell genehmigte Meinung äußerte. Wieviel Leid, Entbehrung und Tragik mußte der auf sich nehmen, der in den 40 Jahren DDR-Geschichte auf gesellschaftliche Fehlentscheidungen hinwies oder gar führende Repräsentanten der SED- oder Staatsführung kritisierte.

Unser Bund der stalinistisch Verfolgten, gegründet am 6. Januar 1990 in Leipzig, setzt sich für diejenigen ein, die trotz Repressalien für Freiheit, Demokratie und Menschenwürde in unserem Teil Deutschlands gekämpft haben. Ohne sie hätte unsere friedliche Revolution nicht siegen können. Aber wir wollen keine Rache, sondern Gerechtigkeit sowie juristische und materielle Wiedergutmachung für erlittenes Unrecht. Alle, die zu Unrecht verfolgt, bestraft und gedemütigt wurden, sollen rehabilitiert werden, es muß ihnen der Makel der Kriminalität genommen werden. Selten erhielt ein Verurteilter eine Anklageschrift oder gar ein Urteil ausgehändigt, es gab keine politischen Gefangenen — alle wurden kriminalisiert. Was mögen die Richter und Staatsanwälte heute über diese Prozesse denken?

Wir treten dafür ein, daß keiner, der ehemals politische Strafprozesse führte, heute an Rehabilitations­verfahren maßgeblich beteiligt werden kann. Es muß ein Rehabilitierungs­gesetz geben, in das auch unsere Entschädigungsforderungen und Hinweise eingehen. Unser Bund ist landesweit und parteiunabhängig tätig. Doch sind wir offen für die Zusammenarbeit mit allen demokratischen Organisationen. Auch weiterhin beteiligen wir uns an der gesellschaftlichen Erneuerung unseres Landes.

Damit nicht neues Unrecht geschieht, legen wir der Öffentlichkeit die Vergangenheit schonungslos dar. Die Anforderungen an die Arbeit unseres Bundes sind enorm. Tausende Menschen erwarten unsere Hilfe und Unterstützung. Aber noch haben wir viele Schwierigkeiten zu überwinden. Es fehlt uns an Büroräumen, bürotechnischen Ausrüstungen und an finanzieller Unterstützung. Das Engagement unserer Mitarbeiter ist hoch, doch das allein reicht nicht aus. Materielle Voraussetzungen müssen einfach sein. Oft gibt es auch kein Verständnis für unsere Tätigkeit. Für viele Menschen liegt die Zeit des Stalinismus in der DDR schon wieder eine Ewigkeit zurück. Wer nicht selbst oder durch Angehörige betroffen war, vergißt schnell. Dieses Buch ist entstanden, um dem Vergessen entgegenzuwirken. Es enthält Schicksale und Tragödien, nie wieder darf so etwas geschehen. Dafür müssen wir alle Sorge tragen.

8

Jörg Büttner, 
Vorsitzender des Bundes der stalinistisch Verfolgten e.V.

 


  

Haftberichte 

11-13

Voriges Jahr, im September 1989, wurde ein zwanzigjähriger Mann nachts vom SSD geholt und 14 Stunden in eine Gefängniszelle gesperrt. Am Nachmittag des folgenden Tages, es war Sonntag, durfte er mangels Beweisen in die elterliche Wohnung zurückkehren. Man hatte ihn aufgrund einer Denunziation verdächtigt, "staatsfeindliche Parolen" verbreitet zu haben. Der junge Mann kommt aus einer intakten Familie und hatte bislang keine Probleme mit staatlichen Behörden. Als er nach den 14 Stunden wieder seinen besorgten Eltern gegenüberstand, war er sichtlich deprimiert und sagte: "Ich wurde fünfmal verhört, und wer da nicht durchhält, gibt am Ende alles zu, was die hören wollen." Noch unter dem Trauma des Erlebten verließ er ein paar Tage später illegal die DDR.

Das Leid ist immer so stark, wie man es empfindet. Ein mental robuster Mensch steckt eine mehrjährige Haftstrafe oft besser weg als sein sensibler Leidensgefährte, der nur wenige Monate abbüßen muß. Amerikanische Psychologen behaupten, daß Haftstrafen von mehr als sechs Monaten bleibende psychosomatische Defekte hinterlassen können. Für DDR-Häftlinge gilt das in besonderem Maße, denn hier waren die Haftbedingungen inhuman wie kaum anderswo auf der Welt. Nelson Mandela hätte seine 26 Jahre in Bautzen, Waldheim oder Brandenburg ganz sicher nicht so gut überstanden wie in Südafrika.

Die in diesem Buch veröffentlichten Erlebnisberichte ehemaliger politischer Gefangener wurden von mir aus einer Vielzahl ähnlicher Schicksale ausgewählt, die dem "Bund der stalinistisch Verfolgten e.V." vorliegen. Mit jedem Betroffenen habe ich persönlich gesprochen; das war mitunter sehr zeitaufwendig. Obwohl selbst zu insgesamt vier Jahren Zuchthaus verurteilt, hat mich die Konfrontation mit dem Leid anderer erschüttert. Die meisten der von mir zwecks Herausgabe dieses Buches Angesprochenen stimmten der Veröffentlichung ihrer Haftberichte zu, aber ich habe auch die respektiert, die noch Angst haben. So schrieb Frau Neubert aus Werdau: "Bin leider noch zu verängstigt, um für Ihr Anliegen bereit zu sein, zumal doch die alten Machthaber (Stasi) immer wieder von sich reden machen und irgendwie im Untergrund zum Zuge kommen könnten. Ich wünsche mir eine zügigere Bestrafung der Verantwortlichen."

Herr B. aus Chemnitz gestand, daß er "aus Angst vor Racheakten der Stasi" auf eine Veröffentlichung seines Haftberichtes verzichten möchte. Frau D. aus Plauen bat mich, ihren Namen im Buch nicht zu nennen. Sie wurde 1953 wegen angeblicher Militärspionage zu 25 Jahren Haft in sowjetischen Straflagern verurteilt. In ihrem Brief schrieb sie mir, daß sie nach unserem Gespräch noch am selben Abend Fieber bekam und anschließend mehrere Wochen krank war. Jahrzehnte mußte sie über die grauenhaften Erlebnisse schweigen, mußte sie verdrängen — und nun stand plötzlich diese Zeit wie eine aufbrechende Wunde wieder deutlich in ihrem Bewußtsein. 

Herr Höfel wurde wegen "Herabwürdigung der DDR" zu einem Jahr und acht Monaten verurteilt und 1986 vorzeitig entlassen. Seine Frau sagt heute: "Es war für mich und meinen Sohn eine schwere Zeit, aber mein Mann hat sich seitdem sehr verändert: Er kann nicht mehr lachen ..." 

Herr Buschmann wurde als 18-jähriger, damals noch Lehrling, vom MfS verhaftet und zu 23 Monaten Gefängnis verurteilt. Grund: "Staatsverleumdung ". Er hat starke psychische Schäden behalten, kann nachts nicht mehr schlafen, hat Angst vor Vorgesetzten. Josef Kneifel wurde 1980 wegen "Terror" zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt und mußte sieben qualvolle Jahre in Einzelhaft verbringen. 

(Welch perfide Heuchelei: Der SED-Staat hat seit den achtziger Jahren RAF-Terroristen beherbergt, die wegen mehrfachen Mordes in der BRD gesucht wurden!) 

1987 auf Honecker-Erlaß begnadigt, lebt er heute als Teilinvalide in Westdeutschland. Seine Frau über ihn: "Er empfindet nichts mehr — keine Freude, kein Leid. Die Gefühle sind auf Null nivelliert, nur der Verstand funktioniert noch. Das ist furchtbar ..."

Alle Betroffenen, die in diesem Teil des Buches zu Wort kommen, haben ihre Berichte selbst geschrieben — bis auf zwei Ausnahmen: Frau Herold war altershalber und Herr Höfer aus gesundheitlichen Gründen dazu nicht mehr in der Lage. In einem Fall, bei Herrn Leonhardt aus Grünhain, schrieb der Sohn einen Erinnerungsbericht über das Schicksal seines Vaters, der inzwischen verstorben ist.

Die Geschehnisse ereigneten sich in den Jahren von 1946 bis 1990. Sie erheben nicht den Anspruch einer repräsentativen Dokumentation des politischen Unrechts, das in unserem Lande zum Alltag gehörte. Aber sie verdeutlichen den Wahnwitz einer absolutistischen Ideologie, die sich selbstherrlich und mit messianischem Sendungsbewußtsein auf das höchste Treppchen menschlicher Entwicklungs­geschichte setzte — und Nichtkonforme ins Gefängnis sperrte. Der Stalinismus war, zumindest in der DDR, nicht so grausam wie der Faschismus, aber an politischer Intoleranz stand er seinem Vorgänger kaum nach.

13

Rüdiger Knechtel 


  

Wortverzeichnis: (S. 261)

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