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Interview
2019 Audio dlf
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A. Rahmlow
Rahmlow:
Wir leben in einer Rottweiler-Gesellschaft. Kein sozialer Zusammenhang,
jeder nur für sich. Wir brauchen einen neuen sozialen Kapitalismus, um
das zu ändern. Wie genau das gehen soll, das wird heute einer der
bekanntesten Wirtschaftswissenschaftler unserer Zeit in Berlin
diskutieren, der Brite Paul Collier von der Universität Oxford. Er berät
unter anderem die Bundesregierung, und er steht nun
wirklich nicht im Verdacht, ein Kapitalismusgegner zu sein. Das
Buch zur These ist gestern auf Deutsch erschienen, und es heißt „Sozialer
Kapitalismus. Mein Manifest gegen den Zerfall unserer Gesellschaft“. Und
bevor Paul Collier seine Thesen im Berliner Ensemble heute Abend
vorstellt, ist er jetzt am Telefon. It's a pleasure!
Collier:
Hello, thank you for inviting me on!
Rahmlow:
You're very welcome. Sie sagen, wir leben in einer
Rottweiler-Gesellschaft. Jeder ist für sich. Sie als überzeugter
Befürworter des Kapitalismus – ist der Kapitalismus schuld daran?
Collier:
Unter Kapitalismus verstehe ich ein dezentralisiertes System, in dem ein
Prozess des Wettbewerbs eingesetzt hat, in dem die Menschen in Unternehmen
arbeiten, und zwar für einen bestimmten Zweck. Nicht um des Profits
willen, sondern um etwas Nützliches zu bewirken. In einer gesunden
Gesellschaft haben wir dieses Kräftespiel des Kapitalismus, wo wir aber
nicht für uns selbst stehen, sondern wo wir vielfältige Bande eingehen,
Verhältnisse der wechselseitigen Verpflichtung. Wir sind miteinander
verbunden. Diese Verbundenheit ist in den letzten 30 oder 40 Jahren
untergraben worden.
Rahmlow:
Aber wenn ich Sie richtig verstehe, liegt das nicht am Kapitalismus an und
für sich?
Collier:
Da haben Sie Recht. Wir hatten in der Vergangenheit eine
Form des sanfteren Kapitalismus, wo die Unternehmen auch Verpflichtungen
verspürten, sowohl gegenüber der Gemeinschaft wie auch gegenüber
den eigenen Arbeitern. Und das wurde erwidert durch eine Art Geist der
Zusammenarbeit und durch Loyalität. Das ist nun in den letzten Jahren
verloren gegangen. Wir müssen dahin zurückkommen. Was die Axt an diese
Idee gelegt hat, ist eine amerikanische Idee, wonach Unternehmen
ausschließlich auf Gewinn ausgerichtet seien. Diese verätzende Idee
hatte tatsächlich dieses vorher bestehende Gefüge zernagt.
Rahmlow:
Was ist dann für Sie also ein Mittel, um dagegen vorzugehen?
Collier:
Die Heilung kommt daher, dass wir den Rückbezug
wieder herstellen zwischen den Rechten und den Verpflichtungen,
zwischen Ansprüchen und Verantwortung. Früher war es doch klar, dass
Unternehmen nicht nur auf Gewinn angelegt sind, sondern dass sie auch
Verpflichtungen haben, sowohl gegenüber der Gesellschaft wie auch
gegenüber ihren Arbeitern. Und aus dem gleichen Grund galt auch, dass
für die Bürger zunächst einmal eine Verpflichtung bestand, sich in
Verantwortlichkeit zu setzen. Wir müssen zurückkommen zu diesem
zentralen Begriff der Pflicht, der den Bürgern dann sowohl als
Einzelnen wie auch in den Unternehmen Ansprüche und Rechte auf Teilhabe
verschafft.
Rahmlow:
Wenn Sie jetzt also sagen, wir brauchen ein neues Pflichtgefühl,
um untereinander wieder ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl zu haben,
dann kommt bei mir aber auch der Gedanke, mehr Gemeinschaftsgefühl
unterdrückt auch persönlichen Individualismus, unterdrückt auch
persönliche Freiheiten. Und viele Menschen sind froh, dass sie heute
freier leben können als noch zum Beispiel in den 70er-Jahren.
Collier:
Ich glaube, wir haben einen gefährlichen Prozess miterlebt, indem gerade
die erfolgreichsten Menschen ihren eigenen Erfolg bejubelt und auf das
Podest gehoben haben und sich wegbewegt haben von einer geteilten
Identität. Das halte ich für sehr ungesund. Ich glaube, wir brauchen
unbedingt in unserem Leben eine geteilte Identität. Das
Zugehörigkeitsgefühl zu einem Land, innerhalb dessen wir dann
selbstverständlich unsere individuelle Identität ausprägen können.
Aber Grundlage für das Ganze ist eine gemeinsame Identität, ohne die man
eben nicht eine Gemeinschaft aufbauen kann, ohne die dieses dichte Gewebe
an Verbindlichkeiten und an Verbundenheit nicht entstehen kann. Wir alle
gehören zu einem bestimmten Ort. Wir teilen bestimmte gemeinsame
Anliegen. Nur so kann Zugehörigkeit entstehen, die wir so dringend
brauchen.
Rahmlow:
Und ein ganz besonderer Aspekt, den Sie ja hervorheben in Ihrem Buch, ist
die Tatsache, dass sie vor allem die sogenannten urbanen Eliten in den
Städten auch dafür verantwortlich halten, dass es diese Spaltungen
in den Gesellschaften gibt. Einer Ihrer Vorschläge ist, dass unter
anderem Stadtmenschen, Menschen, die in den großen Metropolen leben,
höher besteuert werden sollten als diejenigen, die in den regionalen
Gegenden leben. Ist das nicht unfair den Stadtmenschen gegenüber?
Collier:
Überhaupt nicht. Diese hochausgebildeten Fachkräfte, die gut gebildeten
Leute in den großstädtischen Räumen sind höchst produktiv. Sie sind es
aber nicht nur aufgrund ihrer eigenen Fertigkeiten, sondern weil sie alle
zusammenkommen und sich in diesen Metropolregionen gegenseitig befruchten.
Aber diese Metropolregionen sind nicht entstanden nur durch diese Eliten,
sondern sie sind die Schöpfung der ganzen Nation, über Jahrzehnte,
Jahrhunderte hinweg hat ein ganzes Land, hat die Nation investiert in die
Schaffung dieser hochproduktiven Zentren. Es ist dann sehr ungesund, wenn
man das vergisst, wenn sich diese Zentren loslösen und auf einen
Höhenflug gehen, während der Rest des Landes in eine Abwärtsspirale
gerät. Und so entsteht dann auch diese Herablassung, dieser Hochmut der
großstädtischen Eliten und auch das Gefühl der Verzweiflung beim Rest
des Landes. Was in Großbritannien geschieht, sollte einen Warnung für
Deutschland sein. Ich glaube, etwas mehr Großzügigkeit und Demut wäre
angebracht, nicht die Verachtung und Herablassung.
Rahmlow:
Aber das gilt ja nicht für alle Menschen, die in den großen Städten
leben, was Sie da beschreiben. Und was Sie beschreiben, ist natürlich
auch ein Argument, das wir sehr oft von Populisten und Demagogen hören.
Meine Frage ist, ist das nicht zu verallgemeinert?
Collier:
Diese populistischen Parteien können natürlich keine Lösung anbieten.
Sie sind eher der Aufschrei der Abgehängten. Die populistischen Politiker
sind zweifellos gefährlich, aber sie haben eben den wunden Punkt
aufgespürt und legen den Finger darauf. Und sie bieten als Quacksalber
eine Placebo-Medizin, die nicht wirken kann. Die Verantwortung der
etablierten Parteien wäre es nun, anzuerkennen, dass hier tatsächlich
ein echtes Problem bei Teilen der Bevölkerung besteht, und etwas
Wirkungsvolles damit oder dagegen zu tun. Etwas, was praktisch auch
funktioniert, nicht aber mit Verachtung oder Herablassung darauf zu
reagieren.
Rahmlow:
„Sozialer Kapitalismus“ heißt Ihr Buch, Herr Collier, und der
Untertitel „Mein Manifest gegen den Zerfall unserer Gesellschaft“. Wir
haben jetzt besprochen, wo Sie die Ursachen sehen, wir haben ein paar
Ihrer Lösungen angesprochen. Sie schreiben aber auch im Buch, dass
das für Sie ein sehr persönliches Thema ist, dass Sie Ihre eigenen
Erfahrungen mit der Spaltung der Gesellschaft haben. Haben Sie ein
Beispiel für uns?
Collier:
Das Buch wird ja eröffnet mit einem Foto meiner
Cousine und von mir, beide im Alter von vier Jahren. Wir sind am
selben Tag geboren. Von unserem Teenageralter an haben unsere Lebenswege
völlig unterschiedliche Richtungen eingeschlagen. Wir kamen mehr oder
minder aus den benachteiligten, unteren Schichten, aus ärmeren
Verhältnissen. Ich persönlich hatte Glück. Mir ist es im Leben gut
gegangen. Ich gehöre zu diesen in den Metropolen angesiedelten gut
ausgebildeten Eliten. Aber meine Verwandten hatten eben nicht dieses
Glück. Diese Kluft habe ich als äußerst schmerzlichen Riss wirklich in
mir herumgetragen. Ich erlebe das leibhaftig. |